# taz.de -- Warten auf die Supernova | |
> Zwischen Zukunftsangst und Beziehungsglamour: Die 47. Biennale der Kunst | |
> in Venedig wirkt wie eine Pastiche des erstarrten Alltagslebens ■ Von | |
> Harald Fricke | |
Dimitri Alithinos ist ein weitgereister Mann. Seit 1981 führt er Buch über | |
seine Projekte, deren Spuren man weltweit folgen kann: 1987 blieb eine | |
kleine silberne Scheibe auf der Chinesischen Mauer zurück; 1993 bemalte er | |
den Tempel der Regenbogenschlange in Benin; im folgenden Jahr arbeitete | |
Alithinos an rituellen Bildern in Nepal; und 1996 vergrub er eine | |
Aluminiumschale voller Geld am Kap der Guten Hoffnung in Südafrika. Nun | |
zeigen kleine Kärtchen im griechischen Pavillon jeden Ort an, insgesamt | |
waren es 72 Aktionen während der letzten 16 Jahre. Die Dokumentation | |
durchmißt den ganzen Raum und endet auf einer Homepage im Computer: | |
Freundlich grüßt der etwas müde 52jährige aus dem Internet und erzählt, da… | |
er die Strapazen nur auf sich genommen hat, weil er glaubt, die Sprache der | |
Kunst könne alle Kulturen miteinander verbinden. | |
Auf Einladung Griechenlands hat Alithinos den Boden ausgehoben und ein paar | |
Meter unter dem Parkett vier Becken angelegt. Im ersten steht eine Gruppe | |
männlicher Torsi, die beiden mittleren sind mit silberner Flüssigkeit | |
gefüllt, und am Ende der Reihe wiederholen sich einige der Kreiszeichen, | |
die der Künstler schon 1994 in Nepal verwendet hatte. Nach Ablauf der | |
Biennale wird das Loch zugemauert und damit die Skulpturengruppe für immer | |
unter der Erde versiegelt, so der Wunsch des Künstlers, für den sich sein | |
Werk ohnehin nur dem Gedächtnis einprägen soll und nicht dem Kunstmarkt. | |
Es ist diese Art von Idealismus mit Weltbildcharakter, der man in Venedig | |
zur 47. Biennale erstaunlich häufig begegnet. Bald in jedem Länderpavillon | |
wird man durch einen Multikulturalismus geschleust, der weder Zentrum noch | |
Peripherie scheut und damit durchaus Erfolge verbucht. Australien zeigt | |
Malerei der Aborigines; Brasilien stellt mit den gesammelten Visitenkarten | |
von Jac Leirner Konzeptualistisches in Tradition der späten sechziger Jahre | |
vor; das Environment des Slowaken Ondrej Rudavsky taucht im Cyberspace ab; | |
und die existentialistische Bilderwand von Ik-Joong Kang im koreanischen | |
Pavillon wurde bereits ans New Yorker Whitney-Museum verkauft. Für | |
Frankreich macht Fabrice Hybert mit Transvestiten einen arte-Themenabend; | |
und Japan hat sich mit Rei Naito für eine Künstlerin entschieden, die nach | |
der High-Tech-art der letzten Biennale kleine minimalistische Skulpturen in | |
einem Zelt ausgebreitet hat, um den Besucher mit einer weicheren und | |
sanfteren „Zukunft“ auszusöhnen, in der sich „Informationstechnologie, n… | |
Weltordnung, Positivismus und Barmherzigkeit“ vereinen. | |
Dabei ist Naitos Installation kaum therapeutisch, sondern als strenge Übung | |
am Publikum konzipiert. Man darf den Pavillon nur einzeln betreten – bei | |
einigen tausend Besuchern täglich. Die Disziplinierung funktioniert, nach | |
einer Stunde reicht die Menschenschlange von der Anhöhe bis zum Hauptweg. | |
Nebenbei macht sich ein Assistent Notizen über das Verhalten der Wartenden, | |
während eine zweite Mitarbeiterin per Fax Sondertermine von Sammlern und | |
Museumsdirektoren annimmt. Die Bedingungen sind eben nicht für alle gleich, | |
auch das gilt mittlerweile als ein Standard der Globalisierung, ebenso wie | |
die Öko-Kritik industriell aufrückender Staaten, wenn der Venezuelaner | |
Rolando Peña etwa ein Video mit brennenden Erdöllachen neben endzeitliche | |
Verse vom „Tag der Reinigung“ stellt. | |
Seltsamerweise geht mit dieser ausschweifenden Kritik am völkerzerrüttenden | |
Kapital eine befremdliche Nachlässigkeit in der Darstellung einher. So | |
hatte der polnische Kurator die Arbeit von Zbigniew Libera zurückgezogen, | |
weil sich dessen Auschwitz-Legoland plötzlich als Trivialisierung des | |
Holocaust entpuppte. Doch auch die an Liberas Stelle eingeladene | |
Fotokünstlerin Zofia Kulik schlägt mit ihren ornamentalen Collagen in die | |
Kerbe totalitärer Gestaltung. Zwar sollen die Zeichen — zu Swastikas | |
montierte Körperteile, allerlei Schädel oder Architekturmodelle à la Albert | |
Speer — als „Werkzeuge der Aufklärung“ jenen latenten Faschismus | |
symbolisieren, der mit dem Identitätsverlust nach dem Zusammenbruch des | |
Ostblocks droht. Doch die überaus heikle Verschiebung vom Stalinismus über | |
die Periode des Tauwetters zum Kriegsrecht der achtziger Jahre und dem | |
vermeintlichen Konsumexitus der Postperestroika wird gar nicht erst | |
analysiert, sondern in Form der Überwältigung vorgeführt. Dann steht man | |
vor Bildern, die unterschiedslos Bombenteppiche mit geknechteten Körpern | |
oder rostigen Sicheln kombinieren, und denkt an Laibach. | |
Der schlurige Umgang mit Kontexten findet sich auch im Konzept wieder, das | |
Germano Celant als Chef der Biennale vorgelegt hat. Für ihn liegt in der | |
aktuellen Kunstproduktion vor allem eine Ambivalenz der Exponate — | |
irgendwie wird schon jedes Bild das Richtige bedeuten. Zum Teil mag die | |
sanfte Einfalt des Kurators am enormen Zeitdruck liegen, unter dem der | |
italienische Kunstkritiker in gerade mal vier Monaten das Programm | |
zusammenschustern mußte. Andererseits fällt seine Vorstellung davon, was er | |
mit dem selbstgesetzten Thema „Future, Present, Past“ eigentlich aufzeigen | |
möchte, ziemlich dürftig aus: „Die Vergangenheit ist meine Zukunft, meine | |
Zukunft liegt in der Vergangenheit, und beides trifft sich in der | |
Gegenwart.“ | |
Das wichtigste Kriterium für relevante künstlerische Positionen besteht | |
nach Celant jedoch in der Geschwindigkeit, mit der heutige | |
Lebenswirklichkeiten in Bilder umgewandelt werden können, „in Mengen von | |
Licht, in Novas und Supernovas“. Ansonsten legt er Wert auf formale | |
Klarheit und die Zauberkraft der Imagination — weil die Israelin Sigalit | |
Landau einen Stahlcontainer für ihre Arbeit zum Palästina- Konflikt | |
beanspruchte, wurde sie aus den Giardini verbannt. Der Stahlkasten hätte | |
die von Celant angemahnte Harmonie der Pavillons sabotiert. | |
Jeff Koons hingegen darf in dem Lagerhaus, wo früher die Aperto- Show | |
parallel zum Nationenwettbewerb angesiedelt war, einen weihnachtsbaumgroßen | |
Comic-Elefanten zeigen; Jason Rhaodes hat dort drei Ferrari-Prototypen mit | |
einem echten Wagen gepaart; die Französin Marie- Ange Guillemot läßt zwei | |
Studentinnen aus Luxusstrumpfhosen Perücken fertigen; und Tobias Rehberger | |
sammelt täglich die benutzte Unterwäsche der weiblichen Museumsangestellten | |
ein und bietet sie in einer Vitrine zum Kauf an. Die Aufzählung ließe sich | |
noch eine Weile fortsetzen, immerhin wurden 60 Künstler und Künstlerinnen | |
aus den letzten 30 Jahren eingeladen, von der reduziert Farbfelder malenden | |
Britin Agnes Martin bis zu Mariko Moris inszenierten | |
Girlie-Cyborg-Phantasien. | |
Die verschiedenen Wege, auf denen hier Alltag umgekrempelt wird, | |
überschneiden sich kaum. Weil die Ausstellungsstücke aber streng in Reihe | |
ohne trennende oder schützende Wände präsentiert werden, hat man eher das | |
Gefühl, durch das Warensortiment einer Messe zu wandern. Kaum eine Arbeit | |
fällt allerdings in diesem All-Over aus Mode, Pop und Einsamkeit ab. | |
Pipilotti Rists sonst eher fade Videoclips wirken plötzlich sogar wie ein | |
anarchistischer Befreiungsschlag der Rave-Jugend. Bei Sam Taylor-Woods | |
einfühlsamem Filmtriptychon kann man einem verzweifelten Liebespaar bei der | |
Trennung zuschauen; und vor den traumhaften Strandfotos Rineke Dijkstras | |
kommt man ins Grübeln, warum ihre Teenager so verblüffend Botticellis | |
„Geburt der Venus“ ähneln. Vielleicht auch deshalb: Wenn jede Zeit ihre | |
eigenen Ikonen hervorbringt, dann sind die Menschen der neunziger Jahre | |
ängstlich und kühl, schwermütig und abgeklärt zugleich. Die emotionale | |
Gemengelage macht ihr Abbild reglos, als wäre die Erstarrung schon | |
Standpunkt genug. Vor ihrer eigenen Alltäglichkeit flieht die | |
zeitgenössische Kunst in den Alltag, und wird sich dabei doch nur selbst | |
wieder zum Motiv. Vor hundert Jahren nannte man diesen Teufelskreis l'art | |
pour l'art, aber da gab es wenigstens noch nicht die Konkurrenz von | |
Fernsehen, Werbung, Internet. | |
Ausgerechnet der von Peter Waibel ausgewählte Beitrag Österreichs scheint | |
sich diesem befremdlichen Konsens zwischen ästhetischer Autonomie und den | |
Anforderungen der Informationsgesellschaft zu entziehen. Während Waibel in | |
den vergangenen Jahren eher die Online-Elite mit exklusiven Netzprojekten | |
bediente, setzt seine Chronik der „Wiener Gruppe“ nun auf Transparenz und | |
einen ungeheuer demokratischen Zugriff auf das Material. Im Zentrum der | |
Ausstellung steht der Text — wie sollte man konkrete Poesie auch sonst | |
abbilden. Auf 784 Seiten schildert ein hübsch bebilderter Katalog, wie sich | |
zwischen 1954 und 1960 „ein Augenblick der Modernität“ zugetragen hat: H. | |
C. Artmann protestiert im Mai 1955 gegen die Wiederbewaffnung Österreichs; | |
Friedrich Achleitner schreibt für sein Gedicht „Warten“ die Worte „warte… | |
und „warte“ wie zwei Inseln auf ein Blatt Papier; Konrad Bayer untersucht | |
1957 in „Topologie der Sprache“ die Farbe Blau; Gerhard Rühm malt mit | |
Buchstaben; und Oswald Wiener verfaßt „das coole manifest“. Es gibt, wie | |
später dann bei den Situationisten, viel zu lesen und manchmal nackte | |
Frauen zu sehen. | |
Was aber hat die Bibel einer literarischen Bewegung im Kunstrahmen | |
verloren? Der Clou liegt in der Präsentation: Waibel läßt die | |
Ausstellungsräume unberührt, statt dessen aber wurden die Kataloge auf zwei | |
Paletten vier Meter hoch zu Blöcken gestapelt. Wer will, kann beliebig | |
viele Exemplare einstecken, was bei einem Gewicht von zirka fünf Kilo pro | |
Buch gewisse Probleme nach sich zieht. Auf jeden Fall besticht Waibels | |
Bibliothek durch den Versuch, die versammelten Informationen als physisch | |
erfahrbare Masse zu bündeln, die nun Stück für Stück wieder abgetragen | |
werden muß. | |
Das dem ironischen Bücherberg diametral entgegengesetzte Paßstück befindet | |
sich im deutschen Pavillon: Gerhard Merz hat seinen Raum „VENEDIG“ mit | |
zusätzlichem Mauerwerk so verengt, daß der mit einem Fries aus Neonröhren | |
staubtrocken verzierte Bau vollends wie das Hauptschiff einer Kathedrale | |
erscheint. Die Intervention, mit der der architektonisch geschulte Maler | |
wieder zur „Kunst als der Sache selbst“ gelangen will, die ständig vom | |
bunten Lärm der „ungemeinten Bilder“ (Merz) übertönt wird, hinterläßt … | |
ein unangenehm dumpfes Gedröhn leerer Erhabenheit. Umberto Boccioni, mit | |
dessen Futurismus der deutsche Maurermeister zumindest den Glauben an die | |
Reinheit des technischen Zeitalters gemein hat, nannte die Biennale | |
verächtlich einen „Abwasserkanal“, der alle zwei Jahre vom Ballast der | |
vorhergehenden Bilderflut geleert werden muß. Man sollte sich auch mit der | |
Arbeit von Gerhard Merz nicht allzulange belasten. Schließlich besteht ja | |
kein Waschzwang. | |
Bis 9. November, Katalog 75 Mark | |
16 Jun 1997 | |
## AUTOREN | |
Harald Fricke | |
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