| # taz.de -- Es gibt so viel, was schiefgehen kann | |
| > ■ Wenn sich die Wörter weigern: Theater Thikwa mit drei kurzen Stücken … | |
| > den Sophiensælen | |
| Dem Leben fehlt oft die Pointe, um zur Geschichte zu werden. „Das ist | |
| eigentlich schon alles“, brechen die Spieler vom Theater Thikwa den gerade | |
| erst mit Gesang, Spiel und Erzählung aufgebauten Spannungsbogen wieder ab. | |
| Papagena sucht Papageno, und weil er sich nicht finden lassen will, ist das | |
| eigentlich schon alles. So bieten „Die lauten Gesänge des Wörterwurms“ zw… | |
| kein Happy- End, aber auch nicht die Enttäuschung des gescheiterten | |
| Anspruchs auf Glück. In dem schnellen Ende liegt die Chance, die Elemente | |
| der Situation neu zu interpretieren. | |
| „Die lauten Gesänge des Wörterwurms“, erstes Stück im dreiteiligen Progr… | |
| „kurz weil kurz“, beginnen mit Stimmübungen. Eine Sängerin ruft drei | |
| Schülern, die mit verbundenen Augen auf schiefen und zu großen Stühlen | |
| hocken, Übungssilben zu. Die Sängerin ist Christine Vogt, Mitbegründerin | |
| des Theaters Thikwa und Leiterin des Theatertrainings in der | |
| Modell-Werkstatt für körperlich und geistig Behinderte. Heidi Bruck, | |
| Cornelia Glowniewski und Thorsten Holzapfel sind ihre Schüler. Die Übung | |
| erhält einen dadaistischen Übersinn, weil sich die Wörter zu weigern | |
| scheinen, ihre Bedeutung aufzugeben und nur akustisches Material zu sein. | |
| Aus diesem Schwingen zwischen Laut und Zeichen bezieht die Inszenierung von | |
| Gerhard Hartmann ebenso ihre besondere Poesie wie aus dem Eigensinn der | |
| Mitspieler. | |
| Gerade weil die Bilder an Dressurakte erinnern, parodieren sie eine | |
| Kaspar-Hauser-Pädagogik und deren Romantisierung des wilden Kindes. Einmal | |
| tastet sich Cornelia Glowniewski mit weichen Knien an einem Seil entlang, | |
| das aus dem Boden liegt. Christine Vogt ruft ihr zu: „Spazieren, flanieren, | |
| weitereilen, durchtreten...“, und so fort, aber Glowniewski schlurft nur | |
| unwirsch brummelnd herum. | |
| Gerade dies Lakonische aber will erarbeitet sein, darin liegt die große | |
| Leistung der Modell-Theaterwerkstatt Thikwa. Es gibt so viel, was | |
| schiefgehen kann: peinliche Betroffenheit, die Angst des Publikums vor dem | |
| Blick auf die Behinderung, romantisierende Heiligenscheine des | |
| Authentischen, oder die Erfahrung, daß sich im Publikum keiner zu lachen | |
| traut, während die Darsteller kaum noch weiterkönnen vor unterdrückter | |
| Lachlust. | |
| Das Theater Thikwa will Ungleichheiten nicht glätten. Da gibt es zum | |
| Beispiel den Schimpfer, Wolfgang Fliege, der seine Rolle mitzubringen | |
| scheint. Wenn er zu sprechen beginnt, scheinen plötzlich Silben, Wörter, | |
| halbe Sätze ins Nichts zu fallen, und was übrig bleibt, schwillt zu | |
| Schimpftiraden. Man erkennt darin all die unfreundliche Rechthaberei | |
| wieder, den den Berliner Alltag wie der Verkehrslärm durchzieht. Nur | |
| singend verwandelt er sich in einen Charmeur und beides gilt es, in die | |
| Stücke einzuflechten. | |
| Ende dieses Jahres läuft die Förderung des Bundesgesundheitsministeriums | |
| für die Modellwerkstatt aus. Sie wird dann – das ist die gute Nachricht – | |
| durch die Nordberliner Werkgemeinschaft übernommen. In der | |
| Behindertenpolitik bedeutet das einen großen Erfolg: Erstmals wird eine | |
| künstlerische Ausbildung als berufliche Qualifikation für Behinderte | |
| anerkannt. Dazu haben neben den erfolgreichen Tourneen des Theaters auch | |
| die sichtbaren Fortschritte der 14 Teilnehmer beigetragen, deren | |
| Gesundheit, Selbständigkeit in lebenspraktischen Dingen und | |
| Orientierungsfähigkeit sich durch die Arbeit auf der Bühne und in den | |
| Werkstätten für bildnerisches Gestalten sehr verbessert haben. | |
| Für das Theater Thikwa allerdings – das ist die schlechte Nachricht – | |
| beginnen mit der Auskopplung der Werkstatt wieder die Zeiten ohne | |
| Produktionsetat. Rainer Esche, der Geschäftsführer, befürchtet, jetzt | |
| wieder mit Projektanträgen zwischen den Senatsstellen für Kultur und | |
| Soziales hin- und hergeschoben zu werden. Katrin Bettina Müller | |
| „Die lauten Gesänge des Wörterwurms“, bis 22. 11.; ebenfalls im Programm | |
| die Stücke: „blick fällt“, 26.–29. 11., „Ohne Titel“, 3.–6. 12., … | |
| 19.30 Uhr in den Sophiensælen | |
| 21 Nov 1997 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
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