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# taz.de -- Survival statt Revival
> Die Wiederbelebung des Mythos Berlin für die eigentumsfähigen
> Mittelschichten oder Armutsmetropole. Im amerikanischen Cambridge
> diskutierten Stadtplaner über das Bauen einer nationalen Hauptstadt  ■
> Von Uwe Rada
In Berlin herrschte Bürgerkrieg. Unvermittelt explodierte Haß, ohne
Vorwarnung, aus dem Nichts; an Straßenecken, in Restaurants, in Kinos,
Tanzhallen, Schwimmbädern; um Mitternacht, nach dem Frühstück, am
hellichten Nachmittag.“ Es war kein Sensationsreporter, der diese Zeilen
schrieb, sondern Christopher Isherwood, der von 1929 bis 1933 als
Sprachlehrer in Berlin arbeitete und dessen Tagebuch-Roman „Leb wohl,
Berlin“ die Vorlage für Bob Fosses „Cabaret“ mit Liza Minelli gab. Dabei
ging es Isherwood kaum um die Gestaltung des Berliner Mythos. Für ihn stand
der ungetrübte Blick auf die Stadt samt ihrer Schattenseiten im
Vordergrund: „Ich bin eine Kamera mit offenem Verschluß, nehme nur auf,
registriere nur, denke nichts. Eines Tages werde ich alle diese Bilder
entwickelt, sorgfältig kopiert und fixiert haben.“
Um Berlinbilder, genauer den amerikanischen Blick auf die hausgemachten
Bilder der deutschen Hauptstadt, ging es auch am vergangenen Wochenende im
amerikanischen Cambridge. Das Minda de Gunzburg Center for European
Studies, an dem auch Daniel Goldhagen lehrt, hatte Berliner Politiker,
Stadtplaner und Architekten zu einer dreitägigen Konferenz in die
Harvard-Universität eingeladen, um mit ihnen über den „Bau einer nationalen
Hauptstadt am Ende des 20. Jahrhunderts zu sprechen“. Daß es kein Heimspiel
für die Berliner werden würde, stand von vornherein fest. Immerhin hatten
die Organisatoren der Konferenz vorgegeben, wie sich die Diskutanten,
darunter der Berliner Kultursenator Peter Radunski,
Stadtentwicklungssenator Peter Strieder und der Stadthistoriker Dieter
Hoffmann-Axthelm, dem Thema zu nähern hatten: kontrovers und
selbstreflektierend. Ein glattes Parkett also für die Akteure der Berliner
(Haupt-)Stadtplanung, die sich im alltgäglichen Geschäft lieber mit den
kaukasischen Bauchhändlern vor dem Hotel Adlon beschäftigen als mit der
Frage, wie zeitgemäß traditionelle Hauptstadtbilder in Zeiten von
Globalisierung und Migration überhaupt noch sind.
## Berlin ist Grenzstadt und zeigt's
Gleich zu Beginn der Konferenz hatte John Czaplicka vom International
Center for Advanced Studies der New Yorker Universität deshalb deutlich
gemacht, daß nur die Dekonstruktion der Berliner Broschürenrealität den
Blick auf die tatsächlichen Themen der Stadt freigibt. „Wo ist der Berliner
Platz in Europa?“ fragte Czaplicka und gab sogleich eine Antwort: Eine
Ost-West-Drehscheibe sei Berlin weniger als politischer und
Wirtschaftsstandort, sondern vielmehr als Fluchtpunkt für osteuropäische
Migranten. „Berlin ist eine Grenzstadt und zeigt es auch“, sagte Czaplicka.
„Die entscheidende Frage ist nur, inwieweit Berlin diese Realität als
Einwandererstadt akzeptiert.“
Um der Berliner Suche nach sich selbst etwas auf die Sprünge zu helfen,
schlug Czaplicka vor, sich der Frage nach der Identität der Stadt weniger
in vordergründigen Zuschreibungen zu nähern als mit den Begriffen
„Revivals“ und „Survivals“. Ein überaus hilfreicher Gedanke, wie sich …
Verlauf der Konferenz herausstellen sollte. Dieter Hoffmann-Axthelm,
einstiger Protagonist der behutsamen Stadterneuerung in Kreuzberg und als
Mitverfasser des Berliner Masterplans nunmehr Verfechter einer
„Reurbanisierung“ der Innenstadt zugunsten einer „eigentumsfähigen
Mittelschicht“, erwies sich etwa ganz als Wortführer des „Revival-Lagers�…
Das wiedervereinigte Berlin, so Hoffman-Axthelm, erscheine ihm wie Peter
Schlemihl, dem in Chamissos Novelle der Schatten abhanden gekommen ist. Der
Schatten, das sei die Geschichte, auch die der eigenen Mittelschicht, die
Berlin verloren habe und die es nun städtebaulich, im Zentrum der Stadt, zu
rekonstruieren gelte.
Heftigen Protest erntete Hoffmann-Axthelm damit allerdings nicht nur bei
einem in den dreißiger Jahren emigrierten Berliner, der dieser Planung im
Namen des städtischen Bürgertums glattweg einen demokratischen Anspruch
absprach. Auch Charles Maier, der Direktor des Center for European Studies,
wollte einen derartigen Rekurs auf die Stadt des 19. Jahrhunderts nicht
unwidersprochen lassen. „In den europäischen Metropolen“, erinnerte Maier
an eine andere Tradition der europäischen Stadt, „haben immer auch die
Verlierer einen Platz gehabt.“ So sei es in Paris eine
Selbstverständlichkeit, daß den unterlegenen Kämpfern der Kommune durch
Straßennamen gedacht werde. In Berlin würden solche Straßen umbenannt,
sagte Maier und nannte als Beispiel die Umbenennung der Clara-Zetkin-Straße
in Dorotheenstraße. „Ich habe deshalb große Sorge um den Charakter der
Berliner Vereinigung“, so Maier.
Revival und Survival – das waren in Harvard auch Metaphern für die
Wahrnehmung der Stadt durch ihre Politiker und Bewohner. Wenn Kultursenator
Radunski das kulturelle Kapital der Stadt als weichen Standortfaktor in
Erinnerung rief oder der ehemalige Bauminister Klaus Töpfer den Nutzen des
Regierungsumzugs für Berlin beschwor, drückte sich darin nicht nur eine –
freilich hilflose – Hoffnung auf einen wirtschaftlichen Aufschwung via
einwohnerschaftlicher Frischzellenkur aus. Die politischen, kulturellen und
städtebaulichen „Revivals“ waren zugleich Hinweis auf die herrschende
Konfliktbewältigung in der deutschen Hauptstadt: Es sind die goldenen
Bilder der Vergangenheit, die den Weg in eine bessere Zukunft ebnen sollen.
## Schon eher den Berliner Dom abreißen
Im Gegenteil dazu stand das Beharren der meisten Berlin-Beobachter aus den
USA auf dem Begriff der „Survivals“ für eine gegenwartsorientierte
Wahrnehmung sozialer Konflikte. Ganz im Sinne der Isherwoodschen Technik
der „Kamera mit offenem Verschluß“ hat zum Beispiel der Bostoner Soziologe
Andreas Glaeser 1994/95 Berliner Polizeibeamte elf Monate lang bei ihren
Streifenfahrten begleitet. Glaesers Ausgangspunkt war so einfach wie
bestechend. Wo sonst ließe sich die Differenz in der Wahrnehmung
städtischer Räume besser untersuchen als im Mikrokosmos der deutschen
Vereinigung: den ost-west- gemischten Funkstreifenbesatzungen. Es ist die
Geschichte einer Enteignung, die Glaeser bei den ostdeutschen
Polizeibeamten beobachtet hat, einer Enteigung der baulichen wie der
sozialen Räume. So habe ein ehemaliger Volkspolizist überhaupt nicht
verstanden, warum eine zu DDR-Zeiten gebaute Polizeiwache abgerissen wurde
– nur um einer ebenso häßlichen Platz zu machen. Offenbar, zitiert Glaeser
den Beamten, müsse der Westen immer alles zunächst niederreißen, um dann
etwas Neues zu bauen. Ähnliches hat auch der texanische Historiker Peter
Jelavich im Zusammenhang mit der Diskussion um den Abriß des Palastes der
Republik festgestellt. Seine Schlußfolgerung („Let's have a Gedankenspiel“)
glich einer Provokation an die Berliner Adresse, die vom Publikum mit
großem Beifall bedacht wurde. Wenn man schon am Schloßplatz etwas
wegsprengen müßte, so Jelavich, dann nicht den Palast der Republik, sondern
den Berliner Dom, die größte ästhetische Beleidigung in der Mitte der
Stadt.
Im Sinne Glaesers war Jelavichs Bemerkung durchaus ernst zu nehmen. Wenn
man die städtische Raumerfahrung auch als Moment der individuellen
Selbstwahrnehmung begreife, ließ der Bostoner die Berliner Gäste wissen,
müsse man den Rückzug der Ostberliner Polizeibeamten in die Gestaltung der
privaten Räume auch als Hinweis auf einen Mangel an Demokratie verstehen.
Von der, so Glaeser, könne nämlich nur gesprochen werden, wenn jede
Bevölkerungsgruppe nicht nur das Recht auf kollektive Erinnerung habe,
sondern auch die Möglichkeit, die eigenen städtischen Räume selbstbestimmt
zu gestalten. Ein deutlicher Dissens zu Hoffmann-Axthelm, der im
Ostberliner Stadtbezirk Mitte am liebsten mit den Hinterlassenschaften der
DDR-Moderne aufräumen möchte.
Für die Ostberliner Bauhistorikerin Simone Hain stand der Umgang mit dem
baulichen wie sozialen Erbe der Ostberliner dagegen geradezu paradigmatisch
nicht nur für eine tatsächliche – das heißt gleichberechtigte – Einigung
zwischen West und Ost, sondern auch als Prüfstein für den Umgang mit
Wirklichkeit: die Einwandererstadt Berlin als Laboratorium für die
multiethnische und multikulturelle Zukunft der Städte.
Hains Plädoyer gegen ein retrospektives Geschichtsbild als alleinigen
Referenzpunkt für die Zukunft und für eine Konzentration auf die
gegenwärtigen Konflikte fand nicht nur den Beifall der Berliner
Ausländerbeauftragten Barbara John, sondern auch des etwa 100köpfigen
Publikums, das den Weg in die Graduate School of Design gefunden hatte.
Dies nicht nur, weil das Gebäude der Kunsthochschule in Harvard selbst von
einem Migranten, nämlich Walter Gropius, gebaut wurde, sondern weil das
Verständnis von Stadt als sozialer Raum, wie es von Hain vertreten wurde,
den amerikanischen Geschmack am vergangenen Wochenende weitaus mehr
getroffen hat als das Berliner Politiker- und Planerbild der Stadt als
„Spur der Steine“. Daß dieser Diskussionsverlauf auch im Sinne der
Veranstalter war, ließ sich auch an der Konferenzdramaturgie ablesen. Ging
es am ersten Tag noch um die Frage „Hauptstadt“ oder „Weltstadt“, stand…
am Schlußtag vor allem „group experiences“ im Vordergrund. Stadtsoziologie
also statt Hauptstadtkunde.
„Auf wen wartet Berlin eigentlich?“ fragte der Anthropolge John Borneman am
Ende der Konferenz und erinnerte an die Probleme der Stadt: zunehmende
soziale Polarisierung, wachsende Segregation, Gewalt. Bereits sechzig Jahre
zuvor hatte Christopher Isherwood ähnliches vor seine „Kamera mit offenem
Verschluß“ bekommen. „Es kam vor, daß mitten auf einer belebten Straße e…
junger Mann angegriffen, ausgeraubt, verprügelt und blutend auf dem
Bürgersteig liegengelassen wurde.“ Was Isherwood in seinen
Berliner-Tagebüchern beschreibt, ist ein Mosaik der Gegenwart, eine Prosa
des Überlebens, Survival eben. Die andere Lesart, der Mythos der Goldenen
Zwanziger, den man in Berlin so gerne wiederbeleben möchte, hat mit diesem
Überleben so wenig gemein wie der neue Potsdamer Platz mit dem Alltag einer
Armutsmetropole kaum hundert Meter weiter auf der Potsdamer Straße. Oder
wie die neue, Demokratie suggerierende, gläserne Kuppel des Reichstags mit
den hohen Zäunen um die Regierungsbauten, wie es der New Yorker John
Czaplicka treffend formuliert hat.
14 Feb 1998
## AUTOREN
Uwe Rada
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