# taz.de -- ...und zum Nachtisch etwas Kultur | |
> Am Hamburger Hauptbahnhof hat sich „Die Mission“ etabliert – ein Haus f… | |
> Obdachlose, das mehr ist als eine staatliche Almosenstelle. Dort gibt es | |
> nicht nur einen Teller heiße Suppe, sondern auch Chancen zur | |
> Selbstverwirklichung. Die Kulturszene fördert das Projekt munter, die | |
> politische Prominenz mit guten Worten. Trotzdem soll das Haus zum 1. | |
> September geschlossen werden. Eine Reportage ■ von Markus Scholz (Foto… | |
> und Kees Wartburg (Text) | |
Paul sitzt in dem wohlbeheizten Raum mit zehn Jacken und Mänteln | |
übereinander, einem schwarzen Fahrradhelm auf dem Kopf. Den nimmt er auch | |
unter der Dusche nicht ab. Am Klavier improvisiert er gerade im Stile Glenn | |
Goulds einige Mozartthemen. Hastig blickt er dabei immer wieder auf seine | |
Armbanduhr, denn er hat sich dazu breitschlagen lassen, zehn Minuten sein | |
verborgenes Talent zu demonstrieren. Nach exakt zehn Minuten ist dann auch | |
Schluß – woran auch frenetischer Applaus nichts ändert. | |
Vor dem Laden steht ein glatzköpfiger junger Mann mit drei Ratten auf den | |
Schultern und Ringen unter den Augen. Mit Musik kann er nicht viel | |
anfangen, schließlich ist er Panzerkommandant und hat Natoeinsätze | |
geleitet. Neben ihm erzählt Ivan davon, wie ihn die albanische | |
Befreiungsarmee unter der Androhung, seine Familie zu ermorden, zum Dienst | |
für ein noch nicht existierendes Vaterland gezwungen hat, wie er nach zwei | |
Schußverletzungen desertiert und nach Deutschland geflohen ist, wo er jetzt | |
mit Drogenverkauf sein Leben fristet. | |
Drei zufällige Biografien eines Abends. Doch mit den meisten anderen | |
Selbstdarstellungen an diesem Ort verbindet sie derselbe Akzent der | |
Traurigkeit – eine Traurigkeit, der es egal ist, ob die Lebensgeschichten | |
nun wahr oder erfunden sind. Denn jeder tarnt sein Schicksal so gut er | |
kann. Und dies ist bei den meisten Anwesenden dasselbe: die | |
Obdachlosigkeit. | |
Dennoch ist dieser etwas unwirtliche und wunderliche Platz zwischen dem | |
Hamburger Hauptbahnhof und dem Nobelhotel Atlantic kein Ort der | |
Niedergeschlagenheit, denn „Die Mission“ bietet einen Treffpunkt für | |
Obdachlose, der etwas für Deutschland Einmaliges schafft: Er gibt den | |
Tippelbrüdern – und die meisten von ihnen sind nach wie vor Männer – | |
gesellschaftliches Leben. | |
Anders als staatliche oder kirchliche Sozialeinrichtungen, die | |
Suppenausschank mit Sozialpädagogik oder Missionstätigkeit verknüpfen, | |
bietet das Hamburger Modell nach dem Essen Kultur. Nina Hagen hat hier | |
gesungen, der frühere „Tagesschau“-Sprecher Wilhelm Wieben auch; die | |
Autoren Peggy Parnass und Feridun Zaimoglu lasen aus ihren Büchern; | |
Schauspieler der Staatstheater und Regisseure der Freien Szene inszenierten | |
und improvisierten kleine Programme. Dazwischen durfte jeder, der seine | |
Rampensau rauslassen wollte, auf die wenige Quadratmeter große Bühne | |
steigen. | |
Was weidlich ausgenützt wurde und zu den ergreifendsten wie peinlichsten | |
Momenten in der Bühnengeschichte der Mission zählt. „Das ist eben so etwas | |
wie unsere Kneipe“, erklärt Andrew Saathoff. Er kommt selbst vom Wohnzimmer | |
Straße, ist aber dem „Missionsprojekt“ nach der Initialzündung durch den | |
Theaterregisseur Christoph Schlingensief im vorigen Jahr treu geblieben. | |
Heute bestreitet er hier die Öffentlichkeitsarbeit. | |
Mit „Passion Impossible – 7 Tage Notruf für Deutschland“ begann das | |
Projekt, mit Schlingensiefs vielgepriesenen Sozialaktionstheater, bei dem | |
eine Woche lang die Umgebung des Hamburger Hauptbahnhofs mit | |
grotesk-moralischen Interventionen und Spaßguerillataktiken in eine Bühne | |
für künstlerisches Sansculottentum verwandelt wurde. Das gipfelte damals in | |
der Forderung nach Fortsetzung. In dem Wunsch nach einer Heimbasis für | |
Schlingensiefs konfrontative Aktionen in der Fußgängerzone, bei den | |
Scientologen oder vor dem Rathaus. Eine Art „Bahnhofsmission“ sollte es | |
werden, eine in der ehemaligen Polizeiwache des Viertels. | |
Hier fand die Szene aus Junkies, Prostituierten und Obdachlosen, für die | |
der Bahnhof Lebensmittelpunkt ist, nicht nur freies Essen und Betten zum | |
Ausruhen, sondern auch ein stets offenes Mikrophon sowie, durch | |
Schlingensief, angelockt ein Publikum vor. Dieses Forum, aufgemischt mit | |
schrillem Polittrash und absurder Fröhlichkeit, stellt auf vielfältigen | |
Ebenen Kontakte zwischen Menschen her, die ansonsten nur achtlos aneinander | |
vorbeihasten. Deswegen entwickelte sich nach dem Ende der Aktion auch | |
genügend Initiative, um die Mission zur Institution werden zu lassen. | |
Der Gastgeber für Schlingensiefs „Notruf“, das Deutsche Schauspielhaus, | |
übernahm vom Stifter ein symbolisches „Staffelholz“, fand einen Raum neben | |
dem Bahnhof und installierte, unterstützt von diversen Paten – darunter | |
auch die taz Hamburg – Essenausgabe und Programm, sammelte Geld und stellte | |
eine Infrastruktur zur Verfügung. | |
Inzwischen hat „Die Mission“ kaum noch etwas gemein mit dem | |
erfahrungsoptimierenden Situationismus des „Chance 2000“-Gründers | |
Schlingensief. Und das hat nicht nur etwas damit zu tun, daß die | |
Obdachlosen die Organisation inzwischen selbst in die Hand genommen haben. | |
„Man kann nicht zehn Monate Hysterie leben“, begründet Jelka Plate die | |
Veränderungen innerhalb des Experiments. | |
Plate gehört zu den nicht obdachlosen Unterstützern, die den Betrieb mit am | |
Laufen halten. Aus den die „Mission“ unterstützenden Hochschulen für | |
bildende Künste und der für Musik und Theater haben sich einige Studenten | |
und Studentinnen inzwischen fest mit dem Projekt verbunden. Sie garantieren | |
die Stabilität der Arbeit, denn obwohl viele der Einzelkämpfer von der | |
Platte hier Sozialverhalten, Tatkraft und Solidarität zeigen, ist die | |
Konstanz doch nicht immer gegeben. „Man darf nicht glauben, daß die | |
Menschen, die wegen persönlicher Probleme auf der Straße gelandet sind, | |
diese hier plötzlich ablegen können“, begründet Saathoff die hohe | |
Fluktuation in dem Projekt. | |
Trotzdem hat sich inzwischen eine Kernmannschaft von ungefähr zehn | |
Obdachlosen gebildet, die die Mission sechs Tage die Woche von drei Uhr | |
nachmittags bis zehn Uhr abends unterhalten, bis zu zweihundert Essen | |
austeilen und das Abendprogramm organisieren. Auch ein Stammpublikum von | |
knapp dreißig Wiederkehrenden hat sich gebildet. Und diese können die | |
auftretenden Künstler schon schwer fordern. Zum Beispiel wenn zwei junge | |
Schauspieler in allerbester Theatermanier versuchen wollen, „Marmor, Stein | |
und Eisen bricht“ in Kunstsprache zu rezitieren, und dann vom Publikum | |
gnadenlos zum Schlagersingen gezwungen werden. | |
Oder wenn der Deutschpopheintje Bernd Begemann erfolglos versucht, sein | |
Publikum zu einem gesitteten Liederabend zu erziehen. Aber wer mit dem | |
speziell rauhen Charme der Gäste umgehen kann, dem gelingt es sogar, wie | |
Peggy Parnass, ein Rauchverbot durchzusetzen oder eine große Party zu | |
entfesseln wie die Band „Schlampen ficken besser“: Diese hatten trotz | |
striktem Alkoholverbot in dem Raum die Gäste mit Wein abgefüllt, Mehl | |
beworfen und mit Wasserpistolen den Laden in ein glitschiges Inferno | |
verwandelt, gegen das jede Schaumdisco höchstens einen Hustenreiz | |
provoziert. | |
Nun droht dieser offenen Kulturkommune das Ende, denn zum 1. September ist | |
der „Mission“ gekündigt worden. Benachbarte Restaurantbesitzer hatten sich | |
beim Vermieter über das Gesindel beschwert. Die Sprinkenhof AG, die den | |
Laden bislang kostenfrei zur Verfügung gestellt hatte, beharrt nun darauf, | |
daß man wieder wirtschaftlich arbeiten müsse. | |
Doch viele der an Angst und Antrieblosigkeit gescheiterten Persönlichkeiten | |
entwickeln nun Kämpfergeist, erkennen den Einsatz für den Erhalt der | |
„Mission“ in Bahnhofsnähe als Teil des Überlebens oder als neue, positive | |
Erfahrung und versuchen gemeinsam, die politische Auseinandersetzung um | |
dieses einmalige Projekt zu organisieren. | |
Mit Hilfe der sympathisierenden Lokalmedien und viel symbolischer, aber | |
wenig konkreter Unterstützung seitens der Politik – SPD-Bürgermeister | |
Ortwin Runde lobte „Die Mission“ in der Bürgerschaft, Kultursenatorin | |
Christina Weiss kam zum Suppeausteilen, Sozialsenatorin Karin Roth will | |
„darüber nachdenken“, ob man das Projekt finanziell unterstützen kann – | |
hoffen die „Missionare“, eine schnelle Lösung zu finden, die bezahlbar und | |
weiterhin in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs sein muß. | |
Doch da man auch in der reichsten Stadt Europas den Stillstand im Denken | |
mit der Ebbe in der Kasse begründet, kann es gut sein, daß dieser Treibsatz | |
neuer Würde schon bald Heimatlosigkeit erfahren muß. Doch an ein mögliches, | |
für die Stadt beschämendes und die Betroffenen deprimierendes Ende glaubt | |
in der „Mission“ momentan niemand. „Man kann dieses Projekt nicht absäge… | |
erklärt Andrew Saathoff kategorisch: „Dazu ist es viel zu lebendig.“ | |
Jeder, der hier zufällig reinschneit – sei es beim ausgelassenen Karneval, | |
beim andächtigen Advent oder beim meditativen Massenfußbad mit Massage –, | |
wird feststellen, daß hier ein Ort der Selbständigkeit entstanden ist und | |
nicht des schlechten Gewissens. „Die Mission“ ist somit eine wesentlich | |
professionellere Einrichtung als jede staatliche Almosenstelle. Diese zu | |
schließen, wäre der Offenbarungseid jeder sozialen Politik. | |
Kees Wartburg, 32 Jahre, aufgewachsen in Hamburg, arbeitet als freier | |
Autor. Er lebt mit seinen zwei Söhnen in Ostfriesland bei Leer. | |
22 Aug 1998 | |
## AUTOREN | |
Kees Wartburg | |
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