# taz.de -- Der vergessene Feminismus | |
> Der klassische Feminismus ist überholt, abgehakt, vielleicht sogar schon | |
> tot. So lautet die vorherrschende Meinung. Viele seiner einstigen | |
> Vordenkerinnen und Starautorinnen indes leben noch – wenn auch häufig in | |
> Vergessenheit und nicht selten am Rand des Existenzminimums. | |
> Selbstbeobachtungen über den Schwebezustand zwischen verblaßtem Ruhm und | |
> drohender Altersarmut ■ von Kate Millett | |
Wieder ein Sommer auf der Farm, nicht schlecht, aber auch nicht besonders | |
gut: die Eintönigkeit einer kleinen Gemeinschaft, das Abernten der Bäume, | |
hinterher so erschöpft, daß ich nur gelesen habe. Ein Sommer, ohne zu | |
schreiben oder Siebdrucke zu machen oder zu malen. Zurück nach New York in | |
eine andere Leere. Ich kann nicht den ganzen Tag mit Lesen verbringen, also | |
schreibe ich oder versuche es wenigstens. Eine reine Fingerübung, sinnlos. | |
Meine Bücher sind vergriffen, sogar „Sexus und Herrschaft“, und für das | |
Manuskript über meine Mutter findet sich kein Verlag. | |
Ich versuche auch, einen Job zu bekommen. Zuerst ist der Ton an den | |
Universitäten freundlich und einladend, weil sie denken, ich sei wohlhabend | |
und es gehe mir nicht um das Geld. Ein bißchen Verlegenheit, als sie mir | |
den neuen Hungerlohn anbieten. Ich höre das schuldbewußte kurze Stocken in | |
der Stimme der Verwaltung. In meinem Fall sehen sie sich genötigt, | |
möglicherweise ein großes Zugeständnis zu machen, 3.000 Dollar. Davon könne | |
ich nicht leben, wende ich ein. „Natürlich nicht, niemand kann das.“ Sie | |
lachen in sich hinein und sitzen dabei selber auf ihren 50.000- bis | |
100.000-Dollar-“Positionen“. Ich habe promovierte Freundinnen, die nicht | |
mehr als 12.000 Dollar im Jahr verdienen, sich an fünf verschiedenen | |
Hochschulen mühsam durchschlagen, ihr Leben im Auto verbringen und dabei | |
wirtschaftlich am Abgrund stehen. | |
Ich bin dafür zu alt, ich brauche mehr. „Ach, unser Budget“, klagen sie, | |
„wir haben wirklich keine Mittel zur Verfügung, so gern wir Sie auch | |
einstellen würden.“ „Qualifiziert bin ich doch?“ frage ich, nicht als ei… | |
„Berühmtheit“, sondern als angesehene Wissenschaftlerin mit jahrelanger | |
Lehrerfahrung, einer Prädikats-Promotion an der Universität Columbia, einem | |
erstklassigen Oxford-Abschluß und acht veröffentlichten Büchern. Sie würden | |
sich wieder melden. Aber sie tun es nie. | |
Ich frage mich allmählich, was mit mir nicht stimmt. Bin ich „zu | |
exzentrisch“ oder zu alt? Ist es das Alter? Ich bin 63. Oder bin ich in den | |
Augen der „neuen feministischen Wissenschaft“ unmodern? Oder ist es etwas | |
Schlimmeres? Bin ich denunziert oder schlechtgemacht worden? Von wem? Was | |
um Himmels willen ist mit mir los? Läßt mein Feminismus mich so abstoßend | |
erscheinen? | |
Eigentlich sollten meine guten Oxford- Manieren beruhigend wirken. Gott | |
weiß, daß ich ehrerbietig genug mit diesen Leuten umgehe. Mir wird | |
allmählich klar, daß es keinen Job gibt. Ich kann keine feste Anstellung | |
bekommen. Ich kann kein Geld verdienen. Nur indem ich Weihnachtsbäume | |
verkaufe, einen nach dem anderen, in der Kälte von Poughkeepsie. Ich kann | |
nicht unterrichten und habe jetzt nur noch die Farm. | |
Und wenn ich körperlich nicht mehr in der Lage bin, die Farm zu | |
bewirtschaften, was dann? Nichts, was ich jetzt schreibe, hat Aussicht, je | |
veröffentlicht zu werden. Ich habe keine marktgängigen Fähigkeiten, bei all | |
meiner vermeintlichen Bildung. Ich bin nicht vermittelbar. Beängstigend, | |
diese Zukunft. Armut, Demütigung, die ferne Horrorvision einer Obdachlosen | |
mit ihren Plastiktüten – was steht mir bevor, wenn meine Ersparnisse | |
aufgebraucht sind? Und warum habe ich gedacht, es würde anders sein, meine | |
Bücher würden mir ein bescheidenes Auskommen sichern oder ich könnte | |
wenigstens unterrichten – in der Lebensphase, in der die anderen | |
HochschullehrerInnen in den Ruhestand treten, nachdem sie all die langen | |
Jahre ihren Dienst getan haben? Während ich die Freiheit einer Autorin und | |
Künstlerin genossen habe, ohne festes Einkommen, aber imstande, mit dem | |
wenigen, was ich brauchte, zu überleben, eine Farm aufzubauen und daraus | |
eine sich selbst versorgende Künstlerinnen-Kolonie zu machen und sogar noch | |
etwas beiseite zu legen. | |
Die Ersparnisse werden vielleicht für zehn Jahre reichen, eher für sieben. | |
Also sollte ich in sieben Jahren sterben. Aber das werde ich wahrscheinlich | |
nicht, die Frauen in meiner Familie leben ewig. So müde ich eines Lebens | |
ohne Zukunft bin und ohne eine sinnvolle Arbeit, die es erträglich machen | |
würde, ich kann nicht sterben, denn in dem Moment, wo ich sterbe, werden | |
meine Skulpturen, Zeichnungen, Negative und Drucke auf den Abfall gekarrt | |
werden. | |
In ihrem ersten Angebot letzten Herbst (es dauerte zwölf Monate, bis sie es | |
schickten) bot mir The Feminist Press 500 Dollar für einen Nachdruck des | |
Textes von „Sexus und Herrschaft“. Mehr noch, sie konnten es nicht vor dem | |
Jahr 2000 herausbringen, weil sie erst ein oder zwei hochgestochene | |
Einleitungen von jüngeren, großartigeren Wissenschaftlerinnen aus den | |
„Women's Studies“ in Auftrag geben mußten. Meine Agentin und ich lehnten | |
dieses Angebot freudig ab, auch das nächste, über 1.000 Dollar. Auch bei | |
den entscheidenden Leuten von Doubleday stößt „Sexus und Herrschaft“ auf | |
kein Interesse. Sie haben einen Nachdruck abgelehnt, obwohl eine andere | |
Verlagsabteilung einen langen Auszug in eine Anthologie der zehn | |
wichtigsten Bücher aufgenommen hat, die der Verlag in seiner | |
hundertjährigen Geschichte publiziert hat. Eine junge | |
Doubleday-Herausgeberin gab meiner Agentin zu verstehen, die neuere | |
feministische Forschung lasse mein Buch im „gegenwärtigen Klima“ irgendwie | |
veraltet erscheinen. Ich bin aus der Mode in der neuen akademischen | |
Feminismus-Industrie. | |
Vor kurzem erschien ein Buch mit dem Titel „Wer hat den Feminismus | |
gestohlen?“ Ich jedenfalls nicht. Auch nicht Ti- Grace Atkinson. Oder Jill | |
Johnston. Unsere Bücher sind alle vergriffen. Wir haben einander wenig | |
geholfen, waren nicht imstande, ein stabiles Gebäude zu errichten, das | |
Gemeinschaft oder Sicherheit geboten hätte. Ein paar Frauen dieser | |
Generation sind verschwunden, um in vorläufiger Vergessenheit allein zu | |
kämpfen. Oder sie haben sich in Irrenanstalten verloren und müssen noch | |
zurückkehren, um ihre Geschichte zu erzählen, so wie Shula Firestone es | |
getan hat. Es gab Verzweiflung, die nur im Tod enden konnte: Maria del | |
Drago hat den Freitod gewählt, ebenso Ellen Frankfurt und Elizabeth | |
Fischer, die Gründerin von Aphra, der ersten feministischen | |
Literaturzeitschrift. | |
Elizabeth und ich haben uns in einem behaglichen alten Hippie-Café im | |
Greenwich Village oft zufällig getroffen. Ich ging dort nachmittags hin, um | |
einige der dunkleren Passagen des „Klapsmühlentrips“ in der Öffentlichkeit | |
zu schreiben und so den Gefahren der selbstmörderischen Privatheit zu Hause | |
zu entgehen. Sie beendete gerade ein Buch, das ihr Lebenswerk darstellte. | |
Vermutlich fand es auf dem bereits überfüllten neuen Markt der „Women's | |
Studies“, unter den Büchern der frisch gekürten Expertinnen, nicht die | |
Resonanz, die sie sich erhofft hatte. Elizabeth und ich aßen gemeinsam ein | |
spätes Frühstück und plauderten, wobei wir unser Elend sorgsam verbargen. | |
Feministinnen beklagten sich damals nicht beieinander, jede dachte, ihre | |
Einsamkeit und ihr Gefühl des Scheiterns seien einzigartig. | |
Selbsterfahrungsgruppen gab es damals nicht mehr. Wir hatten keine | |
Gefährtinnen: New York ist keine gemütliche Stadt. Elizabeth ist tot, und | |
ich muß leben, um die Geschichte zu erzählen – in der Hoffnung, einer neuen | |
Generation etwas von dem zu vermitteln, was ich sie wissen lassen möchte, | |
über den langen Kampf um die Frauenbefreiung, über Geschichte, über Amerika | |
und über Zensur. Vielleicht hoffe ich auch erklären zu können, daß es nicht | |
leicht ist, sozialen Wandel herbeizuführen, daß die Pionierinnen in einer | |
Einsamkeit leben, die nicht notwendig wäre, und daß sie teuer bezahlen für | |
das, was die Nutznießerinnen für selbstverständlich halten. Warum sind | |
Frauen zum Teil unfähig, ihre eigene Geschichte zu sehen und hochzuhalten? | |
Welches verborgene Schamgefühl stumpft uns so ab? Wir haben nicht die | |
Gemeinschaft errichtet, die notwendig wäre, um einander im Alter zu | |
unterstützen. Und nun klafft ein Spalt zwischen der Sichtweise der einen | |
Generation und der der nächsten, und wir haben unseren Sinn für Kontinuität | |
und Zusammengehörigkeit weitgehend verloren. | |
Aber ich habe auch 40 Jahre als Künstlerin in New York gelebt und mich an | |
den existentiellen Abgrund gewöhnt. Und sogar während ich alles für | |
verloren erkläre, plane ich ein Comeback... Ich denke an eine | |
Menschenrechtsinitiative für sehr alte Leute, an Auswahleditionen meiner | |
gesammelten Werke und an den endgültigen Ruhm. Erst letzte Woche, nach | |
einem guten Essen und einer guten Theateraufführung (Arthur Millers | |
„American Clock“), lag ich wach und schmiedete Pläne, addierte die | |
Einnahmen aus der Farm und malte mir einen Sommer der Instandsetzung aus. | |
Ich nahm mir vor, das Schieferdach des Wohnhauses zu erneuern und jedes | |
Gebäude frisch zu streichen, das Haus lavendelfarben und die Scheune blau. | |
Ich rechnete alles zusammen, entzückt darüber, daß meine Kreditkartenkonten | |
endlich ausgeglichen sind, und um drei Uhr morgens notierte ich mir, daß | |
ich wieder Rosen pflanzen will, die ultimative Geste des Erfolgs. Am Ende | |
werde ich gesiegt haben. Gut zu leben ist die beste Revanche. | |
Und dann die Krönung meines Entschlusses, ein Besuch bei meiner älteren | |
Schwester, der Bankerin und Rechtsanwältin. Ihr Computerprogramm stellt | |
sicher, daß ich bei fünf Prozent Zinsen von meinen Ersparnissen leben kann, | |
sofern ich nicht mehr als sieben Prozent abhebe – eine Perspektive für | |
nicht weniger als dreißig Jahre. Meine Ersparnisse plus das bißchen | |
Rattenscheiße von Sozialversicherung: Beides zusammen würde für ein | |
Überleben auf bescheidenstem Niveau reichen. Dank der Magie der | |
programmmierten Arithmetik bleiben mir auf einen Schlag die Demütigungen | |
der Suche nach einer festen Anstellung, die Abhängigkeit von Behörden und | |
deren Bevormundung und Willkür erspart. | |
Es sieht so aus, als könnte ich für immer ungebunden und Künstlerin | |
bleiben, eine emsige Schriftstellerin, frei von den Zwängen der | |
Erwerbsarbeit. Am Ende frei – vorausgesetzt, ich begnüge mich mit dem | |
absoluten Minimum. Aus dem Englischen von Karsta Frank | |
14 Nov 1998 | |
## AUTOREN | |
Kate Millett | |
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