# taz.de -- Fluchtweg Liedverschickung | |
> ■ Schauspielhaus: Gastspiel der Berliner Volksbühne mit Christoph | |
> Marthalers „Murx den Europäer!“ | |
Beim vierten oder fünften Sirenenstoß werden Zettel ausgefüllt und – immer | |
schön in der Reihe aufgestellt – auf dem ersten Tisch abgelegt. Später | |
kommt ein Fallsüchtiger vom Ende des Wartesaals zu diesem Tisch, um etwas | |
Unverständliches zu reden, da gehen zwei Windmaschinen los und zerstreuen | |
die Formulare im Parkett. Auf jenem, der mich erreichte, stand unter der | |
Rubrik „2.) Beschreibung des Arbeitsgebietes nach dem gültigen GVPL“: „I… | |
liebe Susanne, Jürgen“ (Jürgen mehrfach unterstrichen). Wer immer hier wen | |
liebt, eins ist völlig klar: Es wird nichts nützen. | |
Denn wir befinden uns in Anna Viebrocks Asyl für Armut und Vergangenheit, | |
das Christoph Marthaler mit Menschen erfüllt hat, denen die ganze | |
menschliche Trostlosigkeit unverschämt ins Gesicht lacht. Da die Fluchtwege | |
nur aufs Klo führen, entkommen die elf Gestalten ins patriotische deutsche | |
Liedgut. Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab! ist | |
ein Liederabend, der christliche Ungetümlichkeit, Rituale aus dem | |
Altersheim, Gemeinheiten aus der Landverschickung und andere Orte | |
menschlicher Resignation und geistiger Wiederholung in ein Museum | |
menschlicher Ruinen zusammenführt. | |
Gemeinsam ist der Versammlung inklusive Heimleiter und Hausmeister die | |
scheinbare Lethargie. Erwartungslos hängen die verschiedenen | |
Bürgerlichkeiten zugehörigen Personen auf schäbigen Stühlen vor schäbigen | |
Tischen und stieren vor sich hin. Doch was unbeweglich wie elf rostige | |
Nägel im Holz wirkt, entpuppt sich schnell als Daumenklavier für | |
Gehässigkeiten, verklärte Erinnerungen, selbstbezogene Rituale und schönen | |
Gesang. | |
Nur über die Lieder funktioniert freiwillige Verabredung, ansonsten ist | |
alles in diesem hohen, braunen Raum mit der knarzenden Heizung, der | |
stehengebliebenen Uhr und dem Spruch „Damit die Zeit nicht stehenbleibt“, | |
der langsam von der Wand fällt, Zwanghaftigkeit. „Du hast den Hund | |
vergiftet“ knurrt die gealterte Blondine wie zum einmillionsten Mal, „Ich | |
habe den Hund nicht vergiftet!“ knurrt stereotyp genervt der gealterte | |
Toupetträger zurück. Wenige Wiederholungen reichen stets, um sicher zu | |
sein, daß man hier ein Beckettsches „Wie es ist“ erlebt, daß aber noch we… | |
komischer entwickelt wird, als des Iren verzweifelter Humor. | |
Schon die Zusammenstellung der Typen läßt erwarten, daß hier nur | |
Ungeheuerliches, nie vorher gesehenes stattfinden kann: Ein sabbernder | |
Zwangsonanist, der sich von einem garstigen Schulmädchen quälen läßt und | |
ihr dafür ein groteskes Mehlsackballett gibt, zwei proletarische Brüder, | |
der eine wohl Seemann, der andere eher Packer, die blonde Blasierte und ihr | |
nazihafter Gatte (“Auf der Erde sind alle gleich, aber im Himmel herrscht | |
dann Ordnung“), dazu der Fallsüchtige, eine Handtaschenjungfer, ein | |
undurchschaubarer Alter, sowie die „Angestellten“. | |
Die zauberhafte Atmosphäre aus Duldung und Schadenfreude, aus verzweifelten | |
Versuchen, sich selbst darzustellen, und stupidem Scheitern, aus | |
christlichen Liedern, Nationalhymnen, romantischen Gesängen und Schlagern | |
kann entstehen, weil Marthaler seine Menschen nicht bloßstellt und | |
karikiert, sondern sie erzählen läßt – und sei es nur mit dem Entfalten | |
einer Weißbrotstulle aus einem Papier. | |
Dies ist einer jener Abende, wo man begeistert mit dem Ensemble in die | |
Zeile einstimmen mag: „Danke! Für meine Arbeitsstelle...“ Till Briegleb | |
Noch heute, 20 Uhr | |
13 Sep 1995 | |
## AUTOREN | |
Till Briegleb | |
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