# taz.de -- Neue Theorie über Estonia-Unglück | |
> Ermittler der Meyer-Werft spricht von einer Bombenexplosion als Ursache | |
> der Katastrophe. Mitglieder der Havariekommission weisen Version zurück | |
> ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff | |
Der Streit um die Frage der Verantwortung für Europas schwerwiegendste | |
Schiffskatastrophe in der Nachkriegszeit, dem Untergang des Fährschiffs | |
Estonia am 28. September 1994, bei dem 852 Menschen starben, geht weiter. | |
Im schwedischen Fernsehsender TV 4 präsentierte am Dienstagabend Werner | |
Hummel, Leiter einer von der Meyer-Werft in Papenburg beauftragten und | |
finanzierten „Expertengruppe“, eine neue Theorie: Auf die Estonia sei ein | |
Sprengstoffattentat verübt worden, welches die Katastrophe entscheidend | |
mitverursacht habe. Der Abschlussbericht der Meyer-Werft-Kommission, der im | |
Herbst vorgelegt werde, würde Beweise für diese Version enthalten. Es | |
handele sich um ein in den Rumpf der Fähre gerissenes Loch sowie um am | |
Schiffsrumpf befestigte mutmaßliche Sprengladungen. | |
Die Meyer-Werft wollte den Bericht gestern nicht bestätigen. Der Experte | |
arbeite eigenständig. „Wir sind kein Geheimdienst, sondern Schiffbauer“, | |
sagte Firmensprecher Peter Hackmann. | |
Tatsächlich sind auf von Tauchern im Winter 1994/95 gefilmten | |
Videosequenzen des Wracks einige vierkantige Gegenstände zu sehen, die am | |
Schiffsrumpf befestigt zu sein scheinen. Diese „Pakete“ wurden bei allen | |
Tauchoperationen nicht näher überprüft. Die nach der Katastrophe | |
eingesetzte internationale Havariekommission beauftragte verschiedene | |
Militärexperten mit der Analyse der Videoaufnahmen, ohne dass eine | |
Erklärung für die Existenz der „Pakete“ gefunden werden konnte. Nachdem m… | |
den Untergangsort der Estonia zur Grabstätte erklärt hatte, wurden die | |
Tauchoperationen eingestellt. Von der Meyer-Werft herangezogene britische | |
Sprengstoffexperten halten es laut Werner Hummel aufgrund der Videos für | |
möglich, dass es sich um Sprengladungen handeln könnte. | |
Ann-Louise Eksborg, schwedisches Mitglied der Havariekommission, weist den | |
neuen Erklärungsversuch der Meyer-Werft zurück. Man habe sich die Filme mit | |
Experten mehrmals angesehen: „Wir konnten nicht ergründen, was es mit den | |
Paketen auf sich hatte.“ Genau analysiert habe man durch finnische Experten | |
alle Teile des Rumpfs, durch die Wasser in die Estonia eingedrungen sei. | |
Nirgends habe man Sprengmittelreste gefunden. | |
Sowohl Eksborg als auch das schwedische Kommissionsmitglied Olle Noord | |
sehen die neue Version als Versuch der Meyer-Werft, aus dem | |
Verantwortlichkeitsdunst im Zusammenhang mit der Estonia-Katastrophe | |
herauszukommen. Im Bericht der Havariekommission war der fehlerhaften | |
Konstruktion die Hauptschuld gegeben, der Meyer-Werft jedoch nicht die | |
alleinige Verantwortung angelastet worden. | |
Die Meyer-Werft hat nach dem Unglück mit verschiedenen Theorien versucht, | |
von einer zu schwachen Konstruktion als Unfallursache abzulenken. So wurde | |
zunächst behauptet, die Estonia könne auf eine Boje oder eine andere | |
Hinterlassenschaft der Sowjetmarine aufgefahren sein, man meinte Beweise | |
für einen mangelhaften Unterhalt oder bauliche Änderungen zu haben, für | |
eine inkompetente Besatzung. Unter diesen Erklärungsversuchen war die | |
„Sprengstofftheorie“ bislang nicht aufgetaucht. Derzeit beschränkt sich das | |
rechtliche Nachspiel auf zwei Zivilprozesse gegen die Meyer-Werft, die | |
Reederei, die Versicherungsgesellschaft und die staatlichen | |
Schifffahrtsbehörden. Beide sind im Anfangsstadium. | |
Die Meyer-Werft hat mit verschiedenen Theorien versucht, von einer zu | |
schwachen Konstruktion als Unfallursache abzulenken | |
12 Aug 1999 | |
## AUTOREN | |
Reinhard Wolff | |
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