# taz.de -- Sorry, bin nur virtuell | |
> ■ Echte Internet-Junkies klicken vom Heim-PC auch mal bei Medienkunst | |
> vorbei. Wozu braucht man dafür noch Museen? Oldenburg hat sich trotzdem | |
> ein Medienkunst-Museum gebaut | |
„Ich möchte, dass am Ende dieses wirren Jahrhunderts in Oldenburg ein Bau | |
steht, der in seiner Einfachheit und Klarheit ein würdiger Übergang in das | |
Jahr 2000 ist,“ hatte die kunstsinnige Sonderschullehrerin Edith Ruß in | |
ihrem Testament verfügt. Mit diesem Auftrag vermachte sie 1993 der Stadt | |
Oldenburg zwei Millionen Mark. Die Nachlassverwalter und die Kulturbehörden | |
der Stadt kamen zu dem Schluss: Damit kann nur ein Haus für Medienkunst | |
gemeint sein. Jetzt wurde der würfelförmige Komplex „Edith-Ruß-Haus“ | |
feierlich an die Stadt übergeben. | |
Es plappert, wimmert, klopft. Lachen ertönt, stereotyper Gesang quäkt, | |
computergeneriert. Mit der Eröffnungsausstellung „Reality Checkpoint: | |
Körperszenarien“ des frisch eingeweihten Medienkunstzentrums öffnet die | |
Oldenburger Museums-Szene eine Homepage im Netz virtueller Welten. Ein | |
ehrgeiziges Projekt. Im „Checkpoint“ soll zunächst die Veränderung des | |
Körpers und seiner Wahrnehmung im Zeitalter digitaler Verfremdung | |
thematisiert werden. Medienkritisch, versteht sich. | |
„Talk with me“, so animiert die makellos schöne „Virtual Beauty“ von | |
Kirsten Geisler den Betrachter zum Flirt. In Anspielung auf Telefonsex, der | |
das Gegenüber anonym idealisiert, kann man über einen Hörer mit der | |
haarlosen Leinwandschönheit schäkern. Via Spracherkennung reagiert sie – | |
sehr zeitverzögert –, indem sie die schönen Augen scheu niederschlägt, | |
schmollt, ihr Mündchen zum Lachen verzieht, um schließlich zu bekennen: | |
„I'm a virtual.“ Als hätte man es nicht geahnt! | |
Welch merkwürdige Umkehrung in der virtuellen Entkörperlichung entsteht, | |
und wie deutlich sie dennoch mit Sex und Erotik verführt (weg von uns | |
selbst), das thematisiert Björn Melhus mit „No Sunshine“. Das digitale | |
Filmprodukt ist ein amüsanter Videoclip in rauschhaftem Rot-Orange, in dem | |
virtuelle Zwillinge – der Künstler und sein Alter Ego – einen Dialog über | |
„there's no sunshine“ rappen. Das ist ironisch, witzig, aber irgendwie hat | |
man sich an diese Ästhetik schon zu sehr gewöhnt, als dass sie nun | |
besonders shocking wäre und dem aufklärerischen Tonfall der Katalogtexte | |
nur annähernd entspräche. Wohin es aber führen mag, wenn man die eigene | |
Leiblichkeit an der Virtualität misst, sich in ihr verliert, markiert eine | |
leise Installation von Kirsten Bremer. | |
Kirsten Bremer lässt in der „Angst vor Gesichtsverlust“ einen roten | |
Wollfaden über Nägel an der Wand laufen. Das entstehende Textrelief aus | |
unterschiedlich goßen Buchstaben geht formal noch in die Richtung | |
Plastik/Installation. Der rote Lebensfaden endet in einem Knäuel, das man | |
wohl in die Hand nehmen mag, um es anders weiter zu spinnen, oder um das | |
gesponnene Netz weiter aufzudröseln. Doch auf diese Idee kam bei der | |
Eröffnung trotz all der Interaktivität im Raum Niemand. | |
Die Aufmachung des Untergeschosses suggeriert hingegen eher | |
Technikfaszination denn Kritik. An den Wänden und auf dem Boden | |
fluoresziert ein verwirrendes Netz, Kabel sind kunstvoll zu einer großen | |
Kuppel drapiert. Hier stehen die Netzprojekte „The Living“ von Debra A. | |
Solomon (NL) und „Brandon“ von Shu Lea Cheang (USA), die sich mit der | |
Konstruktion des Körpers und des Geschlechtes im Internet | |
auseinandersetzen. Die BesucherInnen können sich selbst in dem Projekt „The | |
Living“ via Kamera verewigen. Und über eine offene Schnittstelle in | |
Oldenburg kann jeder Internet-Junkie zum Koproduzenten des „Brandon – Big | |
Doll“ Projektes werden und die Projektion im Museum nach einem vorgegebenen | |
Muster verändern. | |
Damit soll Oldenburg zu einer Dependance des New Yorker Guggenheim-Museums | |
werden, von wo aus das Projekt – ausgehend vom Mord an dem Transvestiten | |
Brandon – inszeniert wurde. Jenseits der Einweihungsvorführung aber – also | |
im realen Museumsalltag – klickten die BesucherInnen eher etwas hilflos an | |
den Macs herum: „the living“ funktioniert nicht so, wie es soll, und bei | |
„big-doll“ ging auch nicht gerade die Post ab. Die echten User klinken sich | |
von Zuhause aus ein – der Museumsbesucher löst sich auf im virtuellen Netz. | |
Wozu dann Museen bauen? | |
Immerhin: Das Edith-Ruß-Haus soll eine Mischung aus Museum und Akademie | |
sein. Unter der Federführung Jens Thieles von der | |
Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg soll ab Herbst der | |
Postgraduiertenstudiengang „Medienkunst“ starten. Neben der reinen Lehre in | |
Medientheorie findet ein Teil des Studiums dann im Edith-Ruß-Haus statt. | |
Geplant sind nach Thieles Angaben Ausstellungen sowie Projekte von | |
StudentInnen mit „Artists in residence“, die jeweils für ein paar Monate in | |
der Atelierwohnung leben sollen. | |
Marijke Gerwin | |
bis 4. März im Edith-Ruß-Haus, Katharinenstr. 23, Oldenburg; Di-Fr 14-17 | |
Uhr; Sa-So 11-17 Uhr; [1][http://www.edith-russ-haus.de] ; brandon-Projekt: | |
[2][http://www.intra.aag.org./brandon/bigdoll_oldenburg/index.html] | |
27 Jan 2000 | |
## LINKS | |
[1] http://www.edith-russ-haus.de | |
[2] http://www.intra.aag.org./brandon/bigdoll_oldenburg/index.html | |
## AUTOREN | |
Marijke Gerwin | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |