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# taz.de -- Flügel für die Seele mit Bodenhaftung
> Beim Karneval von Trinidad sind sie die Größten: die Moko Jumbies von
> Cocorite. Ihr Präsident Dragon hat die Tradition des Stelzenlaufens
> wieder belebt, die Karnevalskultur um ein Segment bereichert. Und die
> Kinder aus dem Armutsviertel genießen den Aufstieg mit langen Beinen
von EDITH KRESTA (TEXT)und STEFAN FALKE (FOTOS)
Die Schnellstraße von Port of Spain in Richtung Westen führt am Meer
entlang. Vorbei an schnell hochgezogenen Apartmenthäusern für die
aufstrebende Mittelklasse der Karibikinsel Trinidad. An den gleich dahinter
liegenden Hügeln stehen windschiefe Hütten und kleine Häuser mit
verrosteten Wellblechdächern. Die Straße dort hinauf ist ein Weg:
ungepflastert, eng und voller Schlaglöcher. Kinder spielen barfuß Ball. Am
Wegrand sitzen Männer und Jugendliche, die meisten in weiten Shorts, die
über die Knie schlappern, den Oberkörper frei. Nur die aus den Häusern
dringende Musik stört die lethargische Stimmung. Hier nach Cocorite möchte
nachts kein Taxifahrer fahren. Es ist eines jener schwarzen Viertel
Trinidads, wo ein großer Teil der Männer vom Beschäftigungsprogramm der
Regierung lebt, wo allein stehende Mütter mit ihren Kindern zur allein
stehenden Großmutter ziehen, wo Drogen und Alkohol den zähen Alltag
vernebeln und Kinder schon früh das Überleben auf der Straße lernen. System
ins Gestrüpp der Häuser und Hütten bringen die wenigen Straßenlaternen. Sie
sind gleichzeitig Postadresse.
Wir wollen zur Lamp Post Number 9. Stefan Falke, der 1,96 Meter große weiße
Mann, mit dem ich Cocorite besuche, wird überall auf der Straße mit einem
coolen „Ey man“ begrüßt. Stefan war schon oft hier und steht unter
persönlichem Schutz der Moko Jumbies, der Stelzenläufer von Cocorite. Den
Läufern auf den langen Stangen gilt seine Leidenschaft, vielleicht weil er
selbst sehr groß ist. Er hat sie seit Jahren immer wieder fotografiert.
Hinter einer hohen Mauer an der Lamp Post Number 9 liegt der
tennisplatzgroße Hof der Stelzenschule. Dragon steht am Gaskocher hinter
der Holzhütte und schneidet Gemüse in den Topf. Dragon, eigentlich Glen de
Souza, ist Initiator und Präsident der Schule. Ein sympathischer Trini-Prol
mit Rasta-Einschlag: Dreadlocks, muskulöser, untersetzter Körper,
vergoldeter Schmuck um Hals und Handgelenke. „Welcome“, begrüßt er uns mit
schleppender Stimme. Er ist heute nicht gesprächig. Er hat zu tun. Dafür
bringt er uns eine Kostprobe der selbst gemachten Fischsuppe, die in dem
Riesentopf vor sich hin köchelt. Die Suppe schmeckt leicht wässrig, aber
sie ist mengenmäßig flexibel: Fast täglich kocht Dragon für Schüler und
Freunde. Seine Hütte und sein Hof sind Treffpunkt und beliebte Anlaufstelle
des Viertels. Vor allem aber treffen sich hier die Moko Jumbies zum
Stelzenlaufen.
Wenn die Sonne lange Schatten wirft, kurz vor Einbruch der Dämmerung so
gegen 17 Uhr, füllt sich der Hof mit Kindern und Jugendlichen zwischen 6
und 16 Jahren. Chicken, Barrow, Kyle, Boyse, Joes und die anderen kommen
täglich hierher zum Üben. Als sie Stefan mit seiner Kamera im Hof sehen,
fragen sie gleich nach Fotos. Er reicht ihnen einen Stapel Abzüge. Kichernd
suchen sie nach ihrem Konterfei. Stefan ist akzeptiert in Cocorite, vor
allem wegen der konkreten Freundschaftsbeweise in Form von schönen Bildern.
Jedes der Kinder schnappt sich nun sein Paar Stelzen.
Dragon baut die Stelzen selbst. Die Stangen sind aus Holz oder einer
Mischung aus Holz- und Eisenrohren. Die Turnschuhe sind daran festgeklebt.
Die Läufer erkennen ihre Stelzen an den Schuhen. Sie schlüpfen hinein. Ein
abgeschnittener Autosicherheitsgurt wird um das Bein gelegt, festgezurrt
und an der Stange angenagelt. Nach deutschen Sicherheitsbestimmungen eine
Katastrophe, für Trinidad eine geniale Konstruktion. Dragon geht durch die
Reihen der am Boden sitzenden Stelzenläufer, stellt die Gurte fest, zieht
sie nach. Dann werden die Läufer von den handlern, den Helfern, von hinten
hochgehievt. Heute übernehmen Dragon und sein Freund Colin diese Arbeit.
Ohne Helfer kommt kein Stelzenläufer auf die Beine – oder wieder herunter.
Ein sanfter Stoß in den Rücken, nun muss der Läufer das Gleichgewicht
austarieren. Die ganz hohen Stelzen können nur auf dem Dach der Hütte
anlegt werden. Dragon steigt dann zum Nachziehen der Gurte auf die Leiter.
Los geht’s.
Kalypsosongs und Reggae aus den riesigen Boxen im Hof geben den Rhythmus
vor. Afrikanischer Tanz, Bauchtanz, Limbo – alles wird in luftiger Höhe mit
wackliger Bodenhaftung absolviert. Ein Bein nach vorn, dazu ein Schwung aus
der Hüfte. Wie fröhliche Vogelscheuchen, dunkle Geister im Dämmerlicht,
ziehen die Kinder tanzend ihre Runden im Hof. Total abgehoben. Die
Gesichter strahlen. Auf ihren bis zu zwei Meter hohen Stelzen wachsen die
Kinder über das Elend von Cocorite hinaus. Die Stelzen sind Flügel für die
Seele.
„Viele der Kinder kommen aus kaputten Elternhäusern“, erzählt Dragon. „…
gab Zeiten, wo Drogen an jeder Ecke verkauft wurden. Drogen sind kein Weg.“
Seit seinem neunten Lebensjahr wohnt der 43-jährige Dragon in Cocorite. Er
hat selbst zwei seiner eigenen Kinder hier aufgezogen. Die anderen fünf,
alle von verschiedenen Frauen, leben bei ihren Müttern. „Ich war immer sehr
wild“, erklärt er mir, deshalb werde er auch Dragon, der Drache, genannt.
Morgens von fünf bis zehn arbeitet Dragon in einer Art nationalem
Arbeitsbeschaffungsprogramm, Tagsüber verwaltet er seine Schule. Mit der
Schule, die er 1985 gegründet hat, will er die Kinder von der Straße holen.
„Weg von Drogen und Kriminalität.“ Anfangs bot er nur Tanz an. Später kam…
dann die Stelzen hinzu, eine alte westafrikanische Tradition, in Trinidad
wie in Afrika vom Aussterben bedroht. Für die Kinder bedeutet der
Stelzenlauf Spaß, Spiel und Beschäftigung, aber auch gesellschaftliche
Anerkennung. Ein Erfolgserlebnis. Oft ihr einziges.
1994 nahm Dragon mit seinen Moko Jumbies zum ersten Mal am
Trinidad-Karneval teil. Ein voller Erfolg. Mit den fantasievollen Kostümen,
die die Stelzen bedecken, sehen die kleinen großen Stelzenläufer wie
überdimensionale Fabelwesen aus. „Tanzende Geister“ bedeutet auch der
afrikanische Name „Moko Jumbie“. In Afrika ist der Stelzenlauf ein
religöses Ritual. Inzwischen sind die Moko Jumbies eine gern vorgezeigte
Sensation des Trinidad-Karnevals. Seither sind sie gefragt. Sie waren in
New York, in St. Lucia, Jamaika, Guyana, und sie treten bei
Großveranstaltungen auf Trinidad auf. Letztes Jahr hatte Dragon sogar eine
Einladung der ghanaischen Regierung, um dort, wo es ursprünglich herkommt,
das Stelzenlaufen zu unterrichten.
Die Moko Jumbies haben ein Ziel. Beim nächsten Karneval wollen sie den
Verkleidungs- und Aufführungswettbewerb, die mas, unbedingt gewinnen. Das
bringt Geld. Und an Geld mangelt es in der Stelzenschule von Cocorite. Das
Material für die Stelzen ist zusammengesucht, manchmal fehlt ein schlichtes
Werkzeug wie ein Schraubendreher oder ein Klebeband, die Turnschuhe an den
Stelzen haben ihren Zenit häufig überschritten. Die Schule bekommt keine
öffentlichen Gelder, auch nicht für die Teilnahme am Karneval. Ihre
öffentlichen Auftritte sind gut für den Erfolg, Geld bringen sie aber kaum.
Und Kursgebühren für die Kinder sind bei den Verhältnissen in Cocorite ein
Luxus. Wenn jemand zu laufen anfängt, zahlt er zwar für die Grundausrüstung
ungefähr 15 Mark, für das Lernen 7 Mark in der Woche und für die weitere
Nutzung jeweils einen TT-Dollar, also 30 Pfennig. „Doch dann sahen wir“,
sagt Dragon, „dass viele der Kinder nicht mehr gekommen sind, weil sie
keinen Dollar hatten. Also können sie jetzt wieder umsonst laufen.“
Ein bis zwei Stunden täglich üben die Kinder auf den Stelzen. Dann wird
abgerollt. Sie lassen sich rückwärts in die Arme der handler fallen. Eine
Vertrauensübung. Am Boden wird der Nagel, der den Gurt befestigt, entfernt.
Pause. Die zehnjährige Cecilia nutzt diese und verkauft hausgemachten
Kuchen für einen TT-Dollar das Stück. Die Nachfrage ist gering. Inzwischen
werden die großen Trommeln in den Hof gestellt. Burt gibt heute
Tanzunterricht. Er hat seine eigene Tanzgruppe. Der Tänzer tritt bei Shows
in den Staaten auf und unterrichtet in Schulen auf Trinidad Tanz.
„Shut up your mouth!“, faucht Burt die ungefähr dreißig Kinder an, die si…
für die neue Übung im Hof aufstellen. In der Mehrzahl sind es Mädchen aller
Altersstufen, die Jungs sitzen hinter den Trommeln. „Ihr müsst euren Körper
beherrschen lernen, dann habt ihr euch auch sonst im Griff“, klärt er sie
auf. Burt setzt sich an eine der Trommeln und gibt den Jungen den Rhythmus
an. Dann tanzt er mit seinem zierlichen Gummikörper vor. Die geballte
Ladung Rhythmus und Beweglichkeit, Eleganz und Stil nimmt nicht nur die
Kinder gefangen. Auch wir sind von der erstklassigen Performance
begeistert.
„Tanz ist unsere Kultur. Ihr müsst den Schwung aus der Hüfte lernen, wenn
ihr mal 18 seid, wisst ihr, warum“, feuert er seine Schüler an. Die
schaffen das Wayning, den Hüftschwung, schon ganz gut. Aber Burt ist
unerbittlich. Er will Perfektion. Immer wieder und wieder lässt er sie die
Tanzschritte von neuem einüben. „Ihr wollt doch schließlich die mas
gewinnen, oder?“
Nach zwei Stunden Tanz und vorherigem Stelzenlauf werden die Kinder langsam
unkonzentriert. Sie sind erschöpft. Erfolg ist eine harte Sachen. „Ohne
Disziplin schafft ihr gar nichts“, gibt Dragon ihnen mit auf den Weg. Er
ermahnt die Kinder noch einmal lautstark, morgen pünktlich zum Unterricht
zu kommen, und beendet die Tanzübungen.
Erschöpft schleichen sich die Kinder davon. Und sie wissen: Dragon meint es
ernst. Wer nicht pünktlich ist oder nicht richtig mitmacht, kann schnell
ausgeschlossen werden. Das ist schon öfters passiert. Dragon ist
Respektsperson, für die Kinder und für das ganze Viertel. „Das
Familiengefühl“, sagt er, „ist sicherlich eine Seite der Schule. Die andere
Seite ist unser Erfolg; den wissen alle hier zu schätzen.“ Er steckt sich
eine Zigarette an und dreht das Kassettendeck voll auf. Die Musik aus den
riesigen Boxen auf dem Hof wird noch lange Cocorite beschallen. Heute ist
Samstag. Absolute Partytime in Trinidad. Wir verlassen Dragons Hof. Die
ungepflasterten Straße liegt fast im Dunkeln, sie wird nur schwach von der
Lamp Post Number 9 beleuchtet. Ich stolpere in einem Schlagloch. Das
Gleichgewicht auf hohen Absätzen zu halten ist auch nicht immer einfach.
10 Jun 2000
## AUTOREN
EDITH KRESTA
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