# taz.de -- Die metaphysische Geometrie | |
> „M“, „Dr. Mabuse“ und „Metropolis“: Die Retrospektive der 51. Ber… | |
> ist einem Regisseur gewidmet, den die Nouvelle Vague göttergleich | |
> verehrte. Ohne ihn hätte Chabrol nie seinen ersten Film gedreht – einige | |
> Bemerkungen zu Fritz Lang | |
von CLAUDE CHABROL | |
Fritz Lang hat mich zum Kino gebracht. Es war die erste Szene aus „Das | |
Testament des Dr. Mabuse“, mit der alles anfing, weil sie mir die Lust und | |
den Elan gab, selbst Filme zu drehen. Als Kritiker bei den Cahiers du | |
Cinéma habe ich mich nie getraut, über ihn einen großen Artikel zu | |
schreiben, weil er mir zu groß erschien, fast unberührbar. Als wir 1955 die | |
Nummer mit dem Titel „Situation du Cinéma americain“ herausbrachten – La… | |
galt damals als amerikanischer Regisseur, weil er schon so lange in den | |
Staaten arbeitete –, verfasste ich eine kleine filmbiografische Notiz über | |
ihn. Ansonsten schrieb ich Aufsätze über Hitchkock, verfasste Kritiken zu | |
Raoul Walsh, Melville, Mankiewicz; aber Lang war jemand, über den ich | |
einfach nicht schreiben konnte. | |
Es wäre auch irgendwie banal, von seinem „Einfluss“ zu reden, denn seine | |
Wirkung war stärker. Wir alle waren von seinem Kino und seiner geistigen | |
Präsenz wie durchdrungen und lebten quasi mit seiner Weltanschauung (im | |
Original deutsch, d. Red.). Godard hat seinen Interview-Film mit Fritz Lang | |
„Le dinosaure et le bébé“ genannt, ein Titel, der mir für unser Verhält… | |
zu Lang sehr vielsagend scheint. Ihm gegenüber fühlte man sich klein, | |
unbedeutend, unerfahren. Wenn man vor den Alpen steht, kann man eben nur | |
aufschauen. | |
*** | |
Ich habe immer versucht, bei großen Regisseuren ihre Eigenheiten und ihr | |
Geheimnis herauszufinden. Doch bei Lang gab es etwas, wo ich einfach nicht | |
dahinterkam. Wie kommt es, dass in seinem Kino alles eine zwingende, | |
geradezu unerbittliche Präsenz hat? Eines Tages wurde mir klar, dass es | |
ganz einfach ist – und gleichzeitig unvorstellbar schwer. Lang wählte den | |
Rahmen der einzelnen Einstellung immer so, dass er die Totalität der | |
gesamten Welt umfasste. Wenn nur eine einzige Person im Bild zu sehen ist, | |
dann enthält die ganze Welt eben nur diese einzige Person. Und das mit | |
einer Stilisicherheit und Intensität, die fast schon unheimlich ist. Im | |
Grunde ist es menschenunmöglich, diesen Eindruck bzw. diese Totalität über | |
mehrere Filme durchzuhalten. | |
Natürlich hat mich brennend interessiert, wie Lang diesen Eindruck | |
erzeugte. Vor vielen Jahren haben wir uns dann eine Zeit lang recht | |
regelmäßig gesehen. Ich war zunächst sehr schüchtern, traute mich dann aber | |
doch, einige Fragen zu seinem Kino zu stellen. Er war sehr freundlich und | |
erzählte mir, dass er genaue Pläne aller Zimmer zeichnet, in denen er | |
dreht. Dann ließ er ein Dekor bauen, das sich nach jeder einzelnen | |
Einstellung und Kamerabewegung zu richten hatte. Wenn am Ende einer | |
bestimmten Einstellung die Tür stehen sollte, dann wurde da eben eine Tür | |
hingebaut. | |
Ich dachte erst, er sei verrückt. Warum macht er es nicht umgekehrt und | |
passte die Kamera dem Raum an? Irgendwann verstand ich ihn dann: Seine Art, | |
die Welt zu sehen, verpflichtete ihn geradezu, so zu arbeiten. Denn bei | |
Lang kommt schon die winzigste Kamerabewegung einer Explosion gleich. Man | |
hat das Gefühl, dass sich die Welt plötzlich ausdehnt. Da ist nicht nur | |
dieser Tisch, dieser Mann, diese Frau, nein, zur Welt gehört plötzlich auch | |
noch die Lampe dahinten. Gut, dann besteht die Welt also aus dieser | |
Einstellung. Noch eine Bewegung, die Kamera geht bis zu Tür. Die Welt | |
schließt auch die Tür mit ein. Um Gottes Willen! Wenn dann noch jemand | |
durch diese Tür geht, dann ist das ein Ereignis, mit dem das Schicksal des | |
gesamten Universums erschüttert wird. | |
Eigentlich müsste ein so künstliches und kalkuliertes Verfahren im Ergebnis | |
in 99 Prozent aller Fälle trocken und steif wirken, kantig, kalt wie | |
Metall. Aber bei Lang war die rigorose Geometrie stets lebendig und von | |
fast unerträglicher Spannung erfüllt, sie muss einer ganz bestimmten | |
Metaphysik in seinem Kopf entsprochen haben. | |
*** | |
Das, was ich bei Lang die „Paranoia des filmischen Rahmens“ nenne, | |
entspricht nicht ganz meiner eigenen Philosophie. Bei mir war diese | |
Paranoia immer nur Stilfigur und nicht Fundament meiner Filmsprache. Die | |
Beschäftigung mit Langs metaphysischer Geometrie hat mich jedoch ermutigt, | |
meine eigene Filmsprache im Laufe der Zeit immer weiter zu vereinfachen. | |
Ich habe von ihm zum Beispiel gelernt, dass die Figuren umso interessanter | |
und zwingender werden, je weniger Handlung es gibt. Man muss sie von allem | |
Überflüssigen befreien. | |
Wenn man sich an einen Film von Lang erinnert, dann bleiben vor allem die | |
Figuren und die Atmosphäre im Gedächtnis, während die Details und die | |
Wendungen der Handlung in den Hintergrund treten. Wer könnte die Geschichte | |
von „M“ schon Szene für Szene nacherzählen. Aber jeder erinnert sich an d… | |
bedrohlichen Schatten und die bleischwere, beklemmende Stimmung. | |
Fritz Langs interessanteste Filme waren für mich die, die er vor seinem | |
Aufbruch in die Staaten gedreht hat, weil sie die Stimmung im damaligen | |
Deutschland so beeindruckend wiedergaben: „M – Eine Stadt sucht einen | |
Mörder“ und „Das Testament des Dr. Mabuse“ – ungeheuer spannende, gera… | |
„heiße“ Filme, die bereits in aller Deutlichkeit die Schwingungen der | |
Nazizeit registrierten. Obwohl Lang seine visuellen Mittel so ausgeklügelt | |
und streng einsetzte, war sein Kino doch durchlässig für die Zeit, in der | |
es entstand. Alles entstand in seinem Kopf, aber das Ergebnis war alles | |
andere als eine Kopfgeburt. | |
*** | |
Für eine Kinosendung des französischen Fernsehens habe ich Anfang der | |
80er-Jahre ein „Remake“ von „M“ gedreht, auf das ich damals sehr stolz … | |
Es ist nur ein Paar Minuten lang, aber ich finde immer noch, dass es mein | |
bester Film ist. Auch da bekam ich es wieder mit Langs Perfektion zu tun, | |
denn selbst wenn man ungefähr begriffen hat, wie Lang arbeitet, schafft man | |
es doch nie, seine Methoden so anzuwenden wie er. | |
In „M“ gibt es beispielsweise eine Szene, die eigentlich ganz einfach | |
aussieht; M kommt aus einem Geschäft heraus, davor sind Kinder, für die er | |
sich auf unheimliche Weise interessiert, wobei die Kamera um ihn | |
herumfährt. Das alles wirkt sehr bedrohlich, sieht technisch aber ganz | |
einfach aus. Ich habe diese Szene für mein Mini-Remake nachgestellt und | |
sechsmal in verschiedenen Geschwindigkeiten gedreht. Aber nur wenn man es | |
exakt so machte wie Lang, entstand diese merkwürdige Beklemmung – seine | |
Geschwindigkeit war eindeutig die beste. | |
Letztlich konnte man ihn nicht imitieren, und wenn, dann wurde es nur ein | |
Abklatsch. Das wusste auch Hitchcock, und es ist sehr interessant, zu | |
verfolgen, was er von Lang übernommen hat. Er ist von Lang ausgegangen und | |
hat sich dann ziemlich schnell wegentwickelt. In meinem Film „Doktor M“ | |
gibt es übrigens nur ein Element, das ich direkt von Lang übernommen habe: | |
das künstliche Herz. | |
Gegen Ende seines Lebens wollte ich Fritz Langs letzten Film produzieren. | |
Ich brachte ihn in Paris mit meinem eigenen Produzenten zusammen, und Lang | |
entwickelte tatsächlich ein Projekt. Es sollte ein Film über die junge | |
Generation jener Zeit werden, ihren Drang nach Unabhängigkeit und Freiheit, | |
die Auseinandersetzungen mit der älteren Generation, auch über Drogen. Die | |
Finanzierung war quasi gesichert und Lang sollte völlige künstlerische | |
Freiheit erhalten. Doch leider wurde nichts daraus, weil seine Sehkraft | |
immer schwächer wurde. Er schickte mir noch einen traurigen Brief, in dem | |
er schrieb, dass er, je weniger er sehe, umso deutlicher den Schein und die | |
Oberflächlichkeit der Menschen wahrnehme. Ich fand diese Bemerkung | |
schrecklich, aber irgendwie auch schön – wegen ihrer typisch Lang’schen | |
Hellsichtigkeit. | |
Übersetzung: KATJA NICODEMUS | |
7 Feb 2001 | |
## AUTOREN | |
CLAUDE CHABROL | |
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