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# taz.de -- Ein Verbrechen aus einer anderen Welt
Im Prozess um die Entführung Jan Philipp Reemtsmas ist ein Mann angeklagt,
dem sein Opfer stets gleichgültig war – und ist. Thomas Drach gefällt sich
vor dem Hamburger Landgericht in der Rolle des gestrauchelten Kaufmanns,
dem ein lukratives Geschäft geplatzt ist. Anfang März wird das Urteil über
ihn gesprochen
von JAN FEDDERSEN
Im Sommer 1995 bekam Thomas Drach in Budapest Besuch von einem
„Geschäftsfreund“, Wolfgang Koszicz. Beide kannten sich aus der gemeinsamen
Zeit in einer nordrhein-westfälischen Strafanstalt. Beide hatten nie anders
als mit kriminellen Methoden Geld verdient. Koszicz, der unter Geldnot
litt, fragte Drach, ob er bei einem lukrativen Betrug mitmachen wolle.
Drach, so sagte Wolfgang Koszicz vor dem Hamburger Landgericht, winkte ab.
Nein, auf keinen Fall, denn er habe genug Geld und sei in Freiheit; ein
Betrug wäre viel zu riskant. Wenn, dann würde er nur in einer höheren Liga
spielen. Eine Entführung beispielsweise, die könne er sich vorstellen. Da
schlug also einer vor, an einer Imbissbude den Hunger zu stillen, und der
andere sagte, wenn schon, dann möchte es doch bitte ein Sternerestaurant
sein.
Jan Philipp Reemtsma hatte bis zum Abend des 23. März 1996 ein Leben
gelebt, wie es für ihn selbstverständlicher nicht hätte sein können. Als
Philologe hatte er es zu Ansehen gebracht. Freund und Förderer des
Schriftstellers Arno Schmidt. Finanzier von Buchprojekten, die zu verlegen
ohne sein Geld nie möglich gewesen wäre, etwa eine vierzehnbändige
Gesamtausgabe des Essayisten Christoph Martin Wieland. Autor eines
exzellenten Buchs über den Boxer Muhammad Ali. Lehrbeauftragter an der
Universität Hamburg.
In Hamburg war Reemtsma bis zu diesem Tag keine sehr öffentliche Person.
Selbst seine Mitarbeit an der befriedenden Moderation des
bürgerkriegsähnlichen Konflikts um die besetzten Häuser an der Hafenstraße
fand eher im Verborgenen statt. Dieses Engagement war für Jan Philipp
Reemtsma nicht ungewöhnlich. Die großbürgerlichen Kreise, in denen er
aufgewachsen war, hatten vom kleinbürgerlichen Geist der hanseatischen
Sozialdemokratie, von deren Unfähigkeit, den Streit mit den alternativen
Reihenhauseroberern beizulegen, und von der daraus folgenden Neigung zu
martialischen Lösungen eines Streits um illegitime Lebensweisen längst die
Nase voll.
Wobei nicht unerwähnt bleiben soll, dass Reemtsmas sonstiges Tun dem Milieu
seiner Herkunft durchaus bis heute fremd blieb. Nicht nur dass der scheue
Mann nicht wie sein Vater einem Tabakkonzern vorstehen wollte, einem
obendrein, der während der Nazizeit einen besonderen Aufschwung nehmen
konnte, sondern stattdessen die Firmenanteile verkaufte, um aus den
Zinserlösen seit Anfang der Achtzigerjahre etliche linke und alternative
Projekte zu unterstützen. Auch das Institut für Sozialforschung – das mit
seiner Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht erst noch berühmt
werden sollte – zu gründen war nichts, womit man in den Hamburger
Elbvororten Ruhm und Ehre hätte gewinnen können.
Dieser Mann sagte kürzlich in einem Gespräch mit der Zeit, das
Millionenerbe habe ihm ermöglicht, „viele Dinge zu tun, die ich gerne getan
habe und die vielleicht auch anderen nützlich gewesen sind“. Er könne sich
einen Beruf leisten, „der mich Geld kostet“. Und: „Mich hat das Geld nicht
daran gehindert, mich mit den Themen zu beschäftigen, die mich
interessieren.“
Am 23. März 1996 überfielen drei Männer, unter ihnen Thomas Drach und
Wolfgang Koszicz, den Hamburger Millionär Jan Philipp Reemtsma auf dessen
Privatgelände. Sie ließen ihn wissen, dass Widerstand zwecklos sei,
verfrachteten ihn in ein bereitstehendes Auto und brachten ihn in ein
abgelegenes Haus nahe Bremen. Die Entführer hinterließen am Eingang des
Hauses der Familie Reemtsma eine schriftliche Mitteilung über das
Kidnapping. Sie beschwerten sie mit einer Handgranate, um die
Ernsthaftigkeit ihres Anliegens zu unterstreichen, aber auch damit das
Papier nicht weggeweht würde.
33 Tage hielten Thomas Drach und seine Komplizen das Opfer in ihrer Gewalt.
Drei Geldübergaben scheiterten, erst den vierten Versuch, dreißig Millionen
Mark Lösegeld zu übergeben, akzeptierte Drach. Zuvor hatte er an den
vereinbarten Geldtransferorten stets Polizei ausgemacht. Vor Gericht
betonte er, dass er für die lange Gefangenschaft Reemtsmas keine
Verantwortung übernehme, denn wäre es nach ihm gegangen, hätte die
Geldübergabe reibungslos gleich beim ersten Versuch organisiert werden
können.
Thomas Drach hört es gern, dass man ihn als clever, ja intelligent
bezeichnet. Reemtsma hat dies in seinem Buch, das er über die Tage seiner
Entführung während der Wochen nach der Freilassung verfasst hat, berichtet.
„Im Keller“ heißt die Schrift. Den Kopf der Bande schildert der Autor als
intelligent. Als „Englishman“, weil er so ein gutes, idiomatisches Englisch
spricht. Kaum zu glauben, denn Drach trägt seine Aussagen vor Gericht in
jenem rheinischen Dialekt vor, der wie ein gemütvolles Singen klingt.
Reemtsma hört ihm stets aufmerksam zu. Einmal sagt er, befragt, was es ihm
bringe, Verhandlungstag für Verhandlungstag bei der gerichtlichen Klärung
seiner eigenen Entführung anwesend zu sein, er lerne viel und habe schon
viel gelernt. Etwa dass seine Welt, sein Leben, nichts, gar nichts mit der
seines Entführers gemein hat?
Thomas Drach weckt keine Sympathien. Vierzig Jahre alt. Schmächtig von
Statur, fast mager. Nichts mehr vom Speck auf den Hüften, Spuren der
Wohllebe auf der Flucht, die ihn über Frankreich nach Lateinamerika, nach
Uruguay und schließlich nach Argentinien führte. Die Rolle des Robin Hood,
der sich an den Töpfen der Reichen vergreift, um den Armen zu geben, könnte
mit ihm nicht besetzt werden. An andere hat er nie gedacht. Was er wollte,
tat er für sich.
Er fiele nirgends auf. Säße er in der Gerichtskantine, könnte man ihn für
einen Anwalt halten oder einen jener Menschen, die gern bei
Gerichtsverhandlungen zuhören. Er wirkt nicht einmal unsympathisch. Ein
unprägnantes Äußeres. Nur seine Sprache fällt auf. Kölsch. Jovial.
Irgendwie nett. Menschen, die ihn näher kennen, schildern ihn aber als
leicht aufbrausend, wenn ihm widersprochen wird. „Das hatte er nicht so
gerne“, sagte sein Komplize Wolfgang Koszicz.
Erst der brachte Drach überhaupt auf die Idee, Reemtsma und keinen anderen
zu entführen. Koszicz wusste, dass der Philologe keinen Schutz durch
Bodyguards im Rücken hatte; er hatte recherchiert, dass Reemtsma einmal in
der Woche an der Hamburger Universität Vorlesungen hielt und zu Fuß dorthin
ging von seinem Institut für Sozialforschung. Und Koszicz wusste nach
Berichten über Reemtsmas schlichtende Rolle im Hafenstraßenkonflikt, dass
da ein Mann war, für den Geld nur eine dienende Rolle spielt.
Aber Koszicz musste viel Überzeugungsarbeit leisten, ehe Drach diese Wahl
des Entführungsobjekts überhaupt für voll nahm. Denn als der Angeklagte
einmal mehrere Stunden vor dem Institut für Sozialforschung am Mittelweg
ausharrte, um sich Reemtsma überhaupt einmal anzugucken, sah er ihn nur mit
einem Volvo vorfahren. Mit einem Volvo! In Drachs innerer Rangliste war
dies ein Gefährt, das nicht eben Wohlhabenheit anzeigte. Hatte Koszicz
nicht etwas von Abermillionen geschwärmt, über die Reemtsma von Geburt an
verfügt? Und dann so ein Auto! Einen Mercedes, einen aus der teuren
Baureihe, hätte er als Zeichen umsichtigen Headhuntings genommen. Sonst
hätte man ja gleich den ursprünglichen Betrugsplan ausführen können, hätte
er anfügen können.
Ob Reemtsma gelernt hat, dass Drach die kleinen und großen Zeichen des
Understatements wirklichen Reichtums nicht versteht? Dass für seinen
Entführer, der sich doch so intelligent wähnt, goldene Wasserhähne und
schwere Uhren für Geld stehen – nicht die Neigung, die Gediegenheit
materieller Sorglosigkeit wie hinter einer Sichtblende dezent zu
verstecken. Als Drach zur eigenen Person aussagte, wirkte er wieder ganz
wie der Gangsterboss, der jede Unsicherheit über den ausgeheckten Plan
hinter entschiedener Rhetorik versteckt. Doch befragt zu der Zeit, als er
und seine Kumpanen Reemtsma ausspähten, da antwortete der Angeklagte wie
ein Jugendlicher, der immer Las Vegas für ein Paradies gehalten hat und nun
enttäuscht erkennen muss, dass die wirklichen Spieler sich niemals mit
Daddelautomaten abgeben, sondern an einer vergleichsweise unglamourösen
Börse ihren Geschäften nachgehen. Ein Volvo? Als Drach diese Anekdote, die
ihm nur Rätsel aufgab, erzählte, schaute Reemtsma, auf dem Stuhl der
Nebenklage, besonders grübelnd.
Zwar teilte Drach nach der Zeugenaussage von Ann Kathrin Scheerer,
Lebensgefährtin Jan Philipp Reemtsmas, mit, ihm sei nicht klar gewesen, was
er der Familie seines Opfers angetan habe. Er sprach von „Terror“ und
„Leid“. Vielleicht hat es ihn bewegt, was sowohl sein Opfer als auch dessen
Frau sagten. Dass das vielleicht Schlimmste während einer Entführung sei,
weiterhin Hoffnung zu haben, weil es keinen Grund für Zuversicht gebe. Dass
die Nächte, wartend am Telefon auf die Order der Entführer, eine Tortur
gewesen seien, weil durch die von den Entführern eingebauten
Stimmenverzerrer keine sinnvolle Kommunikation funktioniert habe.
Die Todesangst eines Menschen, der nicht weiß, ob sein Leben tatsächlich
gegen Geld aufgewogen oder er doch getötet wird, auf dass es keinen Zeugen
gebe; das Bangen der Angehörigen, seiner Frau, seines Sohnes, seiner
Freunde um einen geliebten und geschätzten Menschen. Die bleibende
Verwundung, dass diese Erfahrungen, im Keller, außerhalb des Kellers, nie
mehr ganz verschwinden.
Es spielt für Reemtsma keine Rolle, dass Thomas Drach ihn als Opfer eher
zufällig, ja erst durch Koszicz’ Zureden wählte. Denn eigentlich hatte
Drach an andere Menschen gedacht, die zu kidnappen lohnen würde. Solche,
die in schnell begreifbaren Magazinen wie Focus in den Listen der Reichsten
genannt werden. Aber die leben gesichert, nicht wie Reemtsma damals, ohne
Leibwächter und in einem Haus, auf dessen Gelände nicht einmal
Bewegungsmelder installiert waren.
Aber der Angeklagte musste ja sagen, dass er das Leid nicht wollte, das er
verursacht hat. Sein Kalkül würde gänzlich platzen, würde er nicht
wenigstens etwas Reue zeigen. Mit seiner Festnahme hatte er nicht
gerechnet. Selbst in der Haft in Buenos Aires, nach zweijähriger Flucht,
wähnte er sich sicher; Argentinien und Deutschland haben kein Abkommen
geschlossen, mit dessen Hilfe einer wie Drach hätte ausgeliefert werden
müssen. Geld würde die Justiz in Buenos Aires schon milde stimmen.
Pech nur, dass das lateinamerikanische Land gerade an sehr guten
Beziehungen mit Deutschland interessiert war und ist; da hätte eine
Freilassung Drachs keinen guten Eindruck gemacht.
Und unglücklich für ihn auch, dass er einen Reemtsma entführt hatte: leicht
zu erbeuten, aber auch jemand, der für eine Prominenz des Verfahrens sorgt,
die für Thomas Drach vor allem in Zukunft lästig sein wird. Kommt er frei
in, geht es nach der Staatsanwaltschaft, fünfzehn Jahren, wird der
Angeklagte kaum noch seinen seit Ende der Schulzeit durchweg kriminellen
Geschäften nachgehen können. Hinter so einem lauert immer die Polizei,
zumal noch immer fast das gesamte Lösegeld verschwunden ist. Drach – eine
für sein Milieu und deren diskrete Tätigkeiten verbrannte Figur.
Ohnehin wäre es von Drach zu viel verlangt, würde man die Beurteilung der
Schwere seiner Tat davon abhängig machen, ob er die Todesangst seines
Opfers nachfühlen kann. Da der Angeklagte, wie er selbst zu Protokoll
gegeben hat, niemals zu Tode geängstigt war, ist da für ihn auch nichts
nachzuempfinden. Wer ihm da also mit Blick auf die Zeugin Ann Kathrin
Scheerer Leid tat, war wohl vor allem er selbst.
Und hat er nicht auch jeden Anlass dazu? Sohn eines biederen Buchhalters
aus dem Rheinischen. Kurz nach der Schulzeit beginnt er seine kriminelle
Karriere. Drach versteht sich als freier Unternehmer. Man konnte ihn
anheuern. Autoverschiebung. Schmuggel. Einbrüche. Körperverletzungen.
Mehrmals im Knast. Intellektuelle Interessen scheint er nicht zu kennen,
gar Reflexionen über sich selbst. Über seine Eitelkeit, als der coole Boss
gelten zu wollen.
Über seinen Hang zu drastischen Renommierobjekten. Oder über seine innere
Fragilität, die immer dann zum Vorschein kommt, wenn er auf eine stabile
Person wie Reemtsma trifft, die er nicht mehr in seiner Gewalt hat. Dann
beginnt Drach zu motzen, sich zu beschweren über illegale
Ermittlungsmethoden und unwürdige Haftbedingungen in Argentinien. Nicht
eine Sekunde lässt er in seinen Aussagen durchschimmern, dass er sein
Verbrechen bedauert.
In seinem Leben gab es offenkundig nur ein Ziel, dem ist jede persönliche
Moral strikt untergeordnet: Geld zu machen, mehr als sein Vater, so viel,
dass er mit fünfzig nicht mehr arbeiten müsse. Womit sich Drach als Freund
der kleinbürgerlichen Idee von Arbeit zu erkennen gibt. Arbeit hat für ihn
in sich keinen Sinn; sie dient dazu, Geld anzuschaffen. Um frei zu sein,
unabhängig von anderen, von Vorgesetzten oder, in seinem Fall, von
Informanten und Komplizen, die seiner Meinung nach ohnehin nie etwas
taugen.
Der Angeklagte ist gescheitert, und er wird es in den nächsten Jahren im
Gefängnis (und in anschließender Sicherungsverwahrung, vermutlich)
begreifen können. Gescheitert an dem Versuch, den Traum vieler Menschen,
die nicht wie Reemtsma materiell behütet geboren wurden, auf seine Weise zu
realisieren. Anderen mit allen Mitteln zu nehmen, was man selbst nicht hat.
Teilzuhaben an einer Welt, die Menschen wie Drach sich als unbeschwert
vorstellen.
Drach geht stets lässig zu seiner Anklagebank. Spielt er diese Lockerheit
nur? Muss es nicht eine Pein für ihn gewesen sein, von der Polizei, von
Komplizen vorgehalten zu bekommen, dass er, der Profi, Fehler über Fehler
machte – die zum Ende seiner Flucht führten? Nicht einmal die Ehre bleibt
ihm, ein gestrauchelter, aber dennoch kluger Kaufmann zu sein, der sein
Metier und seine Ware kennt. Probiert er aber, seinen gekränkten Stolz
wiederherzustellen, redet er sich um Kopf und Kragen.
Er habe ja den Angeklagten niemals bedroht – die Pistole hielt er offenbar
nur zum Dekor in seinen Händen. Reemtsma habe es im Keller, angekettet
zwar, gut gehabt, er hingegen habe in Argentinien sich erst eine
komfortable Zelle „mit meinem Geld“ einrichten müssen.
Nein, solche Sätze hört kein Gericht gerne, selbst die Anwälte Drachs
wirken nicht froh über die Worte ihres Mandanten. Offenbar haben selbst
zehn Verhandlungstage beim Angeklagten nicht bewirkt, seine Tat als
vollständig indiskutabel wahrzunehmen.
Jan Philipp Reemtsma nimmt den Prozess wohl nicht als Posse wahr.
Verhandlungstag für Verhandlungstag sieht er den Mann, der dafür gesorgt
hat, dass er sein Leben nicht mehr als unverwundbar nimmt. Dass Drach als
letzter seiner vier Entführer vor Gericht steht, freue ihn, Genugtuung
empfände er aber nicht. „Ich sitze da. Und da sitzt der Angeklagte. Und ich
denke mir: Okay, wenigstens das.“
JAN FEDDERSEN, 43, taz.mag-Redakteur, lebt in Berlin. Er beobachtet den
Prozess gegen Thomas Drach seit Mitte Dezember
17 Feb 2001
## AUTOREN
JAN FEDDERSEN
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