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# taz.de -- Auf halluzinogenem Betriebsausflug
> Zukunftsvisionen postfordistischer Junkies: René Polleschs Theaterstücke
> reflektieren das Leben im Netzkapitalismus. Ein Dramatiker möchte der
> Autor trotzdem nicht sein. In Berlin inszenierte er gerade seine jüngste
> „Heidi Hoh“-Folge
Fünfzehn Minuten lang hat er sich extrem gefreut. Fünfzehn Minuten lang war
René Pollesch glücklich, als er Mitte dieses Monats den Mühlheimer
Dramatikerwettbewerb gewann – dann überwog die Skepsis. Denn den
bedeutendsten deutschen Dramatikerpreis zu gewinnen bedeutet in einem
gewissen Sinne ja auch, Dramatiker zu sein. Ein Dramatiker aber wollte er
nie werden. René Pollesch begreift sich als Regisseur, nicht als Autor; als
Regisseur, der die Texte, die er inszeniert, aus guten Gründen selbst
schreibt. Wobei es ihm „ums Denken, nicht ums Gestalten“ geht. Vielleicht
aus Furcht, in diesem Punkt die Welt der Missverständnisse um eines zu
bereichern und man könnte nicht nur ihn für einen Dramatiker, sondern auch
seine Stücke für Dramen halten, hat der 39-Jährige gerade das
Nachinszenieren seiner Texte verboten.
Schade eigentlich. Denn René Pollesch schreibt zwar viel und inszeniert
ununterbrochen – in dieser Spielzeit allein neun Folgen der „world wide web
slums“ am Schauspielhaus in Hamburg, „Frau unter Einfluss“ im Prater der
Berliner Volksbühne und soeben „Heidi Hoh 3“ im Podewil Berlin –, aber
überall kann er nicht sein. Und so bleiben alle, die sich nicht auf der
Achse Berlin–Hamburg bewegen, ausgeschlossen aus dem Textuniversum des –
man muss es eben doch sagen – interessantesten deutschen Dramatikers dieser
Zeit.
Seinen Figuren stellen sich Raum-Zeit-Probleme ganz anderer Art. Im
Netzkapitalismus kannst du überall zugleich sein. Theoretisch. Faktisch ist
dieses Überall zeitgleich in dir. Die expandierenden Verhältnisse sind
implodiert, die Globalisierung konvergiert im Individuum: Du bist die
Firma. Online, offline. Kaufen, arbeiten, lieben wird in Nanosekunden
erledigt, die sich zu deinem Leben addieren. Wenn du Glück hast, legt
Napster ein paar Gefühle in dir auf. „Ich ist dieses Display und der Ort
seiner Ausbeutung“, analysiert Bambi Sickafossee mit derselben aggressiven
Verwunderung, die jeden Satz in „Heidi Hoh“ beherrscht. Ein Augenblick
seltenen Trosts: „Wenigstens bist du kein Sweatshop, Baby.“
„Die Interessen der Firma können nicht die Interessen sein, die Heidi Hoh
hat“ heißt die dritte „Heidi Hoh“-Folge, angelehnt an Bernhard Sinkels 1…
entstandenen Film „Die Interessen der Bank können nicht die Interessen
sein, die Lina Braake hat“. Zwischen 70er-Jahre-Sozialkritik und
80er-Jahre-„Blade Runner“-Fiction bewegen sich die drei Heldinnen Heidi Hoh
(Nina Kronjäger), Bambi Sickafossee (Christine Groß) und Gong Scheinpfluga
(Wiebke Mauss) fließend und unfreiwillig: „Wir haben das Kino verwechselt,
mitten im Film.“ Lina Braake, in ein Altersheim abgeschoben, nachdem die
Bank sie zwecks Modernisierung aus ihrem Haus schmiss, ist auf der Suche
nach einem Rest selbstbestimmten Lebens. Der Blade Runner ist auf der Suche
nach Replikanten, die seinen fremdbestimmten Kollegen verdammt ähnlich
sind, aber ausgelöscht gehören. Für Heidi Hoh ist das alles sehr
verwirrend: In der aktuell dominanten Gefühls- und
Erinnerungstransplantationsindustrie kann von einem Selbst doch gar nicht
mehr geredet werden. Was bleibt, ist Karaoke.
Die Sprache von Polleschs Figuren ist die Sprache des Kapitalismus, der
Leben und Arbeiten immer mehr als Einheit verkaufen will. Auf faszinierende
Art reproduzieren sie Werbestrategien, zitieren und variieren Versatzstücke
medial propagierten Lebens zu einem Möbiusband der Entfremdung. „Heidi Hoh
3“ ist da genau wie die vorangegangenen Folgen und verschwindet doch nicht
in der Wiederholungsfalle. Wieder ist die Bühne mit modischen Zeichen
übersät – Janina Audick hat den Zuschauerraum wie eine Chill-out-Lounge mit
Sitzkissen gefüllt und die Wände mit Plattencovern bzw. einem Videoscreen
bestückt. Wieder sitzen die drei Darstellerinnen im Wesentlichen statisch
auf drei Hockern nebeneinander und tragen ihre Texte 70 Minuten lang in
einer einzigen Tonlage vor, in unregelmäßigen Abständen unterbrochen von
ihren eigenen Schreien oder Songs. „Waterloo! Couldn’t escape if I wanted
to!“ gibt Abba den Ton an. Aber diesmal hat Heidi Hoh eine Strategie.
Zu Beginn scheint sie aussichtslos. Heidi akzeptierte die
bewusstseinserweiternden Drogen auf ihrem Schreibtisch als Angebot, „wie
ich meine Subjektivität besser in die Firma einbringen kann“. Seitdem ist
sie auf halluzinogenem Betriebsausflug. Ein „Outsourcing von
Betriebsausflügen“, das Gewinn bringend genutzt wird: „Deine multiplen
Persönlichkeiten vernetzten sich zur Erschließung neuer Märkte.“ Leben im
sozialen Zusammenbruchsraum, doch zum Glück bleibt die Dialektik. „Die
Selbstzerstörung des Betriebes, der man ist, ist die einzige Lösung gegen
diesen Scheiß-Neoliberalismus!“ Heidi Hoh brüllt. Postfordistische Junkies
sehen zuversichtlich in die Zukunft. CHRISTIANE KÜHL
30 Jun 2001
## AUTOREN
CHRISTIANE KÜHL
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