# taz.de -- Krieg der Glandelinians | |
> Henry Darger lebte in einer obsessiven Fantasiewelt, er schrieb und | |
> illustrierte den umfangreichsten Roman der Welt. Die Berliner Kunst-Werke | |
> zeigen eine Auswahl seiner apokalyptischen Bilder von gepeinigten | |
> Prinzessinnen und bösen Armeen | |
von OLIVER KOERNER VON GUSTORF | |
Henry Darger verbrachte beinahe sechzig Jahre seines Lebens als | |
Hilfsarbeiter in Krankenhäusern, wo er Latrinen reinigte, Bandagen wickelte | |
und Reparaturen ausführte. 1892 geboren, früh verwaist, in katholischen | |
Heimen und Einrichtungen für geistesschwache Kinder aufgewachsen, führte | |
Darger ein unauffälliges und zurückgezogenes Leben am Rande der Armut. Erst | |
nach seinem Tod im Jahre 1973 sollte bekannt werden, dass der verschrobene, | |
einsiedlerische Mann in dem winzigen, vollgestopften Raum eines Chicagoer | |
Apartments während zwanzig Jahren neben hunderten von Kunstwerken das bis | |
dato umfangreichste zusammenhängende schriftstellerische Werk der Welt | |
geschaffen hatte. | |
Sein Vermieter, der Bauhaus-Künstler Nathan Lerner, entdeckte völlig | |
unerwartet das in mehreren Bänden gebundene Manuskript von 15.145 | |
maschinengeschriebenen Seiten, dessen Titel ebenso episch ist wie die | |
Legende, die der Autor hinterlassen hat: „The Story of the Vivian Girls in | |
What is known as the Realms of the Unreal or the Glandelinian War Storm or | |
the Glandico-Abbiennian Wars, as Caused by the Child Slave Rebellion“. | |
Der Roman entwickelt die fantastische Chronik der Kriege zwischen mehreren | |
Nationen auf einem gigantischen, namenlosen Planeten, den die Erde als Mond | |
umkreist. Der Konflikt wird durch die Glandelinians ausgelöst, einem | |
kriegerischen Volk von Schlächtern, die die Versklavung von Kindern | |
betreiben. Nach hunderten von blutrünstigen Schlachten zwingt die | |
christliche Nation der Abbienna die gottlosen Gegner zur Aufgabe ihrer | |
barbarischen Praktiken. Die Heldinnen von Dargers Sage sind die sieben | |
kindlichen Vivian-Schwestern, Prinzessinen von Abbienna. Sie werden von | |
einem Panoptikum von Schurken und Helden begleitet, die oft als Dargers | |
Alter Ego oder als Abbild der realen Peiniger seiner Kindheit auftreten. | |
Der Verlauf der Schlachten wird von abenteuerlichen Gefangennahmen, | |
Explosionen, Hinrichtungen und den Erscheinungen von Dämonen und | |
hilfreichen Drachen, den Blengins, bestimmt. | |
Auch wenn Darger es im Dunkeln beließ, auf welche Weise man in die | |
„Königreiche des Wirklichen“ gelangt, lesen sich die Passagen der | |
utopischen Geschichte als Spiegelung seiner eigenen leidvollen | |
Autobiografie. Der Schlüssel zum Verständnis seines Werkes liegt im | |
Martyrium kleiner Kinder, in ihrer sadistischen Unterwerfung, Folterung und | |
Verstümmelung, die sie stellvertretend für alle Geschöpfe erleiden müssen, | |
damit Gnade und Barmherzigkeit endgültig obsiegen können. Eine Ausstellung | |
in den Berliner Kunst-Werken zeigt nun erstmals in Europa einen begrenzten | |
Teil der von Darger angefertigten Bebilderung zu seinem Epos. | |
Er hinterließ etwa dreihundert aquarellierte und collagierte Zeichnungen, | |
die sich in ihrer Grausamkeit und Schönheit jeder Kategorisierung | |
entziehen. Sie verinnerlichen seine Visionen mit einer Präzision und Wucht, | |
die keine niedergeschriebene Erzählung vermitteln kann. Die von Darger | |
teils zu überdimensionalen Formaten zusammengenähten und beidseitig | |
bemalten Bilderbögen sind mit ausführlichen Erklärungen und Anmerkungen | |
versehen, die den Eindruck erwecken, der Künstler wolle historische | |
Ereignisse möglichst genau festhalten. Eine Auswahl der in Berlin | |
präsentierten Aquarelle wurde letztes Jahr zusammen mit den „Schrecken des | |
Krieges“ von Francisco Goya und dem Werkzyklus „Hell“ von Dinos und Jake | |
Chapman im New Yorker PS1 gezeigt. | |
Ganz bewusst verzichtet die von Klaus Biesenbach organisierte Show auf die | |
vielen paradiesischen Darstellungen Dargers, die seine aus Bilderbüchern, | |
Magazinen und Comic-Heften der Zwanziger- und Dreißigerjahre entnommenen | |
Figuren in wahnhaft schönen Landschaften zeigen: Häufig mit winzigen | |
Penissen, Flügeln und Hörnern versehen, sind sie Kopien von mädchenhaften | |
Wesen, die an Shirley Temple oder das Cartoongirl „Little Orphan Annie“ | |
erinnern – kulleräugige puppengleiche Nymphen, die sich nackt oder in | |
kurzen Kleidchen zwischen Pilzbäumen, Drachen und exotischer Vegetation die | |
Zeit vertreiben, gigantische Schmetterlinge fangen, baden oder im Sand | |
spielen. | |
Das sich auf den dunkel gestrichenen Wänden der Ausstellungsräume | |
entfaltende apokalyptische Szenario hingegen gleicht einem Fegefeuer: Die | |
kindlichen Hermaphroditen werden hier stranguliert, von Bränden und Stürmen | |
hinweggefegt, gekreuzigt, zu Tode geschleift, lebendig begraben, | |
erschlagen, in Stücke gerissen. Die durchweg männlichen und erwachsenen | |
Glandelinians, die in die Idylle eindringen und die Kinder massakrieren, | |
sind zumeist in die Uniformen des amerikanischen Bürgerkriegs und des | |
Ersten Weltkriegs gekleidet. Da Darger nicht auf seine eigenen Fähigkeiten, | |
den menschlichen Körper zu zeichnen, vertraute, pauste er ihre Umrisse von | |
Vorlagen durch. | |
Zeit seines Lebens war Darger obsessiver Sammler von Magazin- und | |
Zeitungsausrissen, die sich in seiner Wohnung bis unter die Decke | |
stapelten. So reflektieren die schrecklichen Visionen nicht nur die inneren | |
Welten des Künstlers, sondern liefern auch einen Eindruck der Tagespresse | |
seiner Zeit: Werbung, Kriegsbilder, Filmbilder und Mordfälle – wie den der | |
vierjährigen Elsie Paroubeck, die 1911 gekidnappt und umgebracht wurde. | |
Darger, der bis zu sechsmal täglich die katholische Messe besuchte, verlor | |
eines Tages ihr aus den Chicago Daily News entnommenes Foto und inszenierte | |
diesen Verlust der Vorlage als grundlegende Handlung in den „Realms of | |
Reality“. Aus Elsie wurde die fiktive Rebellin und Kindermärtyrerin Annie | |
Aronburg, die in Dargers Geschichte vor ihrer Hinschlachtung dem Autor | |
eigenhändig ihr Porträt überreicht. | |
Das „Aronburg-Mysterium“ bezeichnet die endgültige Verschmelzung Dargers | |
mit seiner Fantasiewelt. In religiöser Verehrung erbaute er in der Scheune | |
seines einzigen Jugendfreundes Whilliam Schloeder einen Altar für Annie, | |
nahm aus Hingabe zeitweilig sogar ihren Namen an und betete um die | |
Wiedererlangung des Fotos. Schließlich stellte er Gott vor ein Ultimatum: | |
Für den Fall, dass das Bild bis zum März 1912 nicht zu ihm zurückkehren | |
werde, würde er auch um den Preis ewiger Verdammnis den Besuch der Messe | |
verweigern und in seinen imaginären Reichen die Bluttaten der Peiniger noch | |
erbarmungsloser über ihre Opfer hereinbrechen lassen als je zuvor. | |
Henry Dargers pathologische Fixierung auf den kindlichen Körper und seine | |
umfassende Beschreibung sadistischer Praktiken lassen die Vermutung | |
berechtigt erscheinen, bei seiner künstlerischen Produktion handele es sich | |
ausschließlich um die Manifestationen geistesgestörter Pädophilie. So | |
befand der Journalist und Art-Brut-Experte John Mc Gregor, der Künstler | |
habe „das Potenzial eines Massenmörders“. Man könnte jedoch das einmalige | |
Phänomen, das Henry Darger in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts | |
darstellt, auch genau anders herum, aus der Perspektive der von ihm | |
abgebildeten Opfer, bewerten. Tatsächlich stellt Darger mit der | |
persönlichen Herausforderung des alttestamentarischen Gotteszorns wie auch | |
mit seinem verstörendem Werk die eindringliche Frage nach der | |
Rechtfertigung des Bösen, so wie sie auch von den infantilen Helden vieler | |
Märchen und Klassikern der „Kinderliteratur“ gestellt wird: „Wie kann ei… | |
absolut gütige und allmächtige Gottheit die Existenz von Leid, Schmerz und | |
Tod zulassen?“ | |
Selbst wenn Darger als Geheimtipp der internationalen Kunstszene gilt und | |
der ungewöhnliche Einsatz seiner Motive und seine eigenwilligen | |
Reproduktionstechniken Arbeiten der zeitgenössischen Kunstproduktion wie | |
die von Damien Hirst, Anna Gaskell oder der Chapman-Brüder vorwegzunehmen | |
scheinen – alle Versuche, seine Kunst als Outsider Art, Art Brut oder | |
Proto-pop einzuordnen, wirken verfehlt. Das mag daran liegen, dass er | |
kindliche Unschuld auf eine Weise idealisiert, die ebenso wie seine barock | |
anmutenden Darstellungen des Bösen dem aufgeklärten Geist seines | |
Jahrhunderts fremd ist. Die beeindruckende Farbigkeit von Dargers | |
Aquarellen wurde von Kritikern mit Giottos Fresken der Frührenaissance oder | |
japanischer Papiermalerei assoziiert. Sie könnte jedoch ebenfalls mit den | |
illuminierten Büchern William Blakes in Verbindung gebracht werden, der mit | |
seinen 1789 erschienenen „Songs of Innocence and Songs of Experience“ in | |
einer Synthese aus Text und Bildern ein Thema aufgreift, das auch Dragers | |
Schaffen wie ein roter Faden durchzieht: die Dialektik von Unschuld und | |
Erfahrung. | |
Wie bei William Blake erscheinen Dargers kindliche Geschöpfe nicht als | |
Verharmlosung des Erwachsenen, sondern als seine Vorwegnahme. Von Anfang an | |
erfahren sie Lüge und Heuchelei und werden missbraucht. So wie Jesus sind | |
ihnen die Prüfungen ihres Auftrages vorgezeichnet, sie müssen | |
stellvertretend, also unschuldig leiden. In ihrer Schutzlosigkeit | |
verkörpern sie den Gott der Barmherzigkeit und zugleich das Paradigma | |
seiner Leiden. 1996 ließen Nathan Lerner und seine Frau Kiyoko, die auch | |
das Erbe verwaltet, einen Stein auf der bis dahin schmucklosen Grabstätte | |
Dargers errichten. Neben den Lebensdaten trägt er die Inschrift: „Henry | |
Darger, Künstler, Beschützer der Kinder“. Selbst den Wunsch hegend, nie | |
erwachsen zu werden, erscheint der „kranke alte Furz“, wie sich ein Nachbar | |
an ihn erinnerte, posthum als zorniger und wankelmütiger Heiliger, der | |
unermüdlich für die ihm von Gott anvertrauten Kreaturen arbeitete und litt. | |
Das atemberaubende Kunstwerk, das er für sie erschuf, glich auf | |
absonderliche Weise der Welt, vor der er sie bewahren wollte – einem | |
Paradies und einem Schlachthaus. | |
Bis 31. 3. 2002, Kunst-Werke, Berlin | |
25 Oct 2001 | |
## AUTOREN | |
OLIVER KOERNER VON GUSTORF | |
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