| # taz.de -- Untergehende Sonne | |
| > Raumfahrt wird Kunst: Zärtlich streichelt der Blick der englischen | |
| > Fotografinnen Jane & Louise Wilson Raketen auf dem russischen | |
| > Raumfahrtbahnhof Baikonur. In Berlin stellen sie ihre Videos vor | |
| von KATRIN BETTINA MÜLLER | |
| Zuerst sieht man nur ein bisschen Gelumpe, das etwas eigenartig in der | |
| furnierten Schrankwand liegt. Dann erkennt erst, was das Foto von Jane und | |
| Louise Wilson zeigt: Raumanzüge mit Helmen und Versorgungsschläuchen. Sie | |
| stammen von einer Besatzung der MIR, fotografiert in Baikonur, dem | |
| sowjetischen Raumfahrtbahnhof. Zuletzt schiebt sich hinter das Bild der | |
| zusammengefallenen Hüllen ein anderes: Sahen so nicht auch die in ihren | |
| Kleidern ausgedörrten Skelette in den Katakomben von Palermo aus, die | |
| Schädel noch absurd groß nach drei, vier Jahrhunderten? Ein Regalbrett ist | |
| leer und man stellt sich plötzlich vor, dass einer da nicht zurückkehrt ist | |
| von seiner Reise. | |
| Es sind keine plakativen Bilder, die das britische Zwillingspaar in | |
| Fotografien, Videos und Film aus Baikonur zurückgebracht hat. Langsam muss | |
| man sich einsehen. Man ist nicht gewohnt, Montagehallen, Raketenbasen und | |
| Türme voller Satellitenschüsseln ohne einen Kommentar zu sehen, der mit | |
| Autorität und Kompetenz Vorgänge erklärt, Begründungen liefert. Bei Jane | |
| und Louise Wilson hört man nur Geräusche wie den Wind in der Wüste | |
| Kasachstans. | |
| Vier Leinwände bilden ein Karree in der Videoinstallation „Proton, Unity, | |
| Energy, Blizzard“, benannt nach den Abschusszonen des Kosmodroms. Die | |
| Bilder gleiten aufeinander zu und verschlucken den Raum dort, wo sie | |
| aufeinander stoßen. Man wird hineingesogen in diese Landschaften. Langsam | |
| tasten die Kameraaugen die Körper der Raketen ab, folgen dem Transport mit | |
| einem Zug im Fußgängertempo. | |
| Kamele grasen zwischen Ruinen, ein Shuttle rostet vor sich hin. Die Wolken | |
| spiegeln sich in einem Wasserbecken zwischen gigantischen Betonmauern. Die | |
| Sonne geht unter in dieser Wüste Kasachstans, hinter dem Schrott der | |
| Weltraumfahrt. So haben die Maler der Romantik die Pyramiden Ägyptens | |
| erlebt. Archaische Landschaft und High-Tech greifen ineinander. Innen steht | |
| stumm eine Reihe von Telefonen nebeneinander. Ausgestorben sind die weiten | |
| Lobbys, menschenleer die Flure. Auch wenn das alles erst gestern passiert | |
| ist, scheint es doch unglaublich weit weg. Verlassenes Gelände. | |
| Baikonur, das war jahrzehntelang eine verbotene Zone und genau kontrolliert | |
| die Bilder, die von dort preisgegeben wurden. Von Baikonur startete der | |
| erste Sputnik 1957, Startschuss für das Wettrennen ins All zwischen der | |
| Sowjetunion und den USA. Von den Unfällen, die 1960 und 1980 bei | |
| Notreparaturen zu Explosionen führten und bei denen über 100 Menschen zu | |
| Tode kamen, durfte nichts nach außen dringen. Seit dem Ende des Kalten | |
| Krieges liegen große Teile des Areals, das Russland von Kasachstan | |
| gepachtet hat, brach. | |
| Als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kaum noch Gelder in die | |
| Raumfahrt flossen und der Kosmonaut Sergej Krikaljow sechs Monate über der | |
| Zeit im All kreiste ohne Möglichkeit der Rückkehr, verwandelte sich | |
| Baikonur von einer Chiffre des Fortschritts durch Disziplin in eine von | |
| Verfall und Aufruhr gezeichnete Landschaft. Einmal kamen die Kasachen, um | |
| die Autos des russischen Personals zu stehlen, einmal revoltierten die | |
| Militärangestellten, die sich im Stich gelassen fühlten. Über 40 Prozent | |
| der Bevölkerung haben die Gegend verlassen. | |
| Inzwischen hat in Baikonur die Phase der Zusammenarbeit von Russen, | |
| Japanern und Amerikanern begonnen. Die MIR ist runter, die International | |
| Space Station (I.S.S.) installiert. Dass es dort jetzt auch ein Hotel im | |
| Western-Style mit Duschen und Satellitenfernsehen ergibt, nehmen | |
| amerikanische Journalisten als beruhigendes Zeichen des Fortschritts. | |
| Leicht hinzukommen aber ist immer noch nicht. Jane und Louise Wilson haben | |
| es auch nur mit großer Unterstützung des British Council in Moskau und viel | |
| Glück geschafft. Sie recherchierten 1999 und 2000, kurz vor dem Start der | |
| internationalen Kooperationen. Ihren Begleitern war nicht so geheuer, dass | |
| die beiden Künstlerinnen vor allem zu den stillgelegten Rampen wollten. | |
| Die ersten Stoffe, die die Schwestern, 1969 in Newcastle geboren, | |
| bearbeiteten, stammten aus der Welt von MTV, Science-Fiction und | |
| Horrorfilmen. Aber irgendwann entdeckten sie, dass sich die Szenarien des | |
| Fiktiven längst in der Realität breit gemacht haben. Sie begannen | |
| Architekturen in ihrer suggestiven Aura zu analysieren, die das Handeln in | |
| einem Maße institutionalisieren, dass sie den Handelnden fast der | |
| Verantwortung entheben. Auf ähnliche Weise hat die amerikanische Fotografin | |
| Lucinda Devlin in dem Zyklus der „Omega Suites“ die Hinrichtungszellen und | |
| Todestrakte in amerikanischen Gefängnissen sichtbar gemacht. | |
| Die Wilsons besuchten verlassene Schauplätze des Kalten Krieges: „Gamma“ | |
| entstand in Greenham Common, der englischen Basis für die | |
| US-Cruise-Missiles, für „Stasi-City“ gingen sie während eines | |
| DAAD-Stipendiums in Berlin in das alte Gefängnis der Staatssicherheit in | |
| Hohenschönhausen, „Star City“ wurde auf dem Übungsgelände der Kosmonauten | |
| nahe Moskau gedreht. Diese Videos waren in New York, London, der Hamburger | |
| Kunsthalle und dem Kunstverein Hannover zu sehen. In den Berliner | |
| Kunst-Werken e. V., der Halle für zeitgenössische Kunst, haben jetzt ihre | |
| Arbeiten aus Kasachstan Premiere. | |
| Auch in Baikonur wird die Arbeit zum Ritual, das zeigt ihr Film „Dream | |
| time“, der beim Start des ersten internationalen Flugs im Sommer 2000 | |
| entstanden ist. Sergej Krikaljow, Jurij Gidsenko und ihr amerikanischer | |
| Kommandant Bill Shepherd sollten auf der I.S.S. defekte Akkus und | |
| unzuverlässige Klimaanlagen reparieren, Signalgeber für Uhren testen und | |
| Materieteilchen unter Weltraumbedingungen beobachten. Aber gleichgültig, | |
| wie profan die Aufgaben sind, mit dem Einstieg in die Rakete beginnt eine | |
| Mission. | |
| Verblüffend ist die Schönheit der Fotografie und der gegenläufig montierten | |
| Bewegungsabläufe in den Arbeiten der Zwillinge. Sie sind nicht nur an einer | |
| Kritik der Hybris des technischen Fortschritts interessiert. Ihnen geht es | |
| mehr, wie Louise Wilson sagt, um die Spannung zwischen der „wirklich | |
| beeindruckenden wissenschaftlichen Leistung und dem gescheiterten Versuch, | |
| einen solchen Ehrgeiz inmitten eines politischen Systems | |
| aufrechtzuerhalten, das sich nach seinem Untergang gerade neu erfinden | |
| muss“. Vielleicht ist eine solche Perspektive nur Außenstehenden möglich. | |
| Jane und Louise Wilson in den Kunst-Werken Berlin, bis 4. April | |
| 13 Feb 2002 | |
| ## AUTOREN | |
| KATRIN BETTINA MÜLLER | |
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