# taz.de -- Phantombilder von Dichtern | |
> Irrfahrt ins Exil oder Tod im Folterkeller der Militärdiktatur? Mit „Die | |
> wilden Detektive“ schreibt Roberto Bolaño den Roman einer verlorenen | |
> Generation lateinamerikanischer Intellektueller | |
von DIEMUT ROETHER | |
Es beginnt, wie viele Geschichten des chilenischen Autors Roberto Bolaño, | |
in einer kleinen Literaturwerkstatt irgendwo in Lateinamerika. Diesmal ist | |
es die Dichterwerkstatt von Julio César Álamo in Mexiko-Stadt, in der Juan | |
García Madero, 17 Jahre und Waise, die Begründer des Realviszeralismus, | |
Ulises Lima und Arturo Belano, kennen lernt. Voller Stolz notiert der junge | |
Poet in seinem Tagebuch, die beiden Älteren hätten ihn eingeladen, sich der | |
Bewegung des viszeralen Realismus anzuschließen. | |
Eine Farce, dieser Realviszeralismus. Eine typische Schnapsidee zweier | |
junger, begabter Intellektueller, die sich langweilen. Die Zeitschrift, von | |
der sie reden, wird nie erscheinen. Kaum ein Mitglied der Bewegung wird je | |
Gedichte veröffentlichen. Doch wie es sich für junge, politisch engagierte | |
Dichter gehört, führen sie schon nach wenigen Wochen die erste „Säuberung�… | |
in den eigenen Reihen durch. Jahre später noch wird sich einer der | |
Bekannten von Ulises Lima und Arturo Belano daran erinnern, dass er damals | |
„alles dafür gegeben“ hätte, „um zu dieser lächerlichen Gruppe, den | |
Realviszeralisten, zu gehören, die Jugend ist ein einziger Schwindel“. | |
In der unbedeutenden Literaturwerkstatt von Julio César Álamo also lässt | |
Roberto Bolaño seinen Roman „Die wilden Detektive“ beginnen. Und die | |
kleine, skurrile Farce, mit der das Buch anfängt, wächst sich nach und nach | |
aus zum Roman einer verlorenen Generation – jener lateinamerikanischen | |
Generation, die in Argentinien oder Chile in den Folterkellern der | |
Militärdiktaturen „verschwand“ oder deren Suche nach einem sicheren Exil in | |
Europa endete – meist in Paris oder im „mütterlichen Vaterland“ Spanien. | |
Einer Generation, die in den Jahren nach 1968 ihr Leben ließ oder heimatlos | |
über den Globus irrte und nirgends willkommen war – weder in Spanien noch | |
in Frankreich und schon gar nicht im anderen Amerika, in den USA. | |
Bolaño hat seinen Roman als zweifache Spurensuche angelegt: Während Arturo | |
Belano und Ulises Lima nach der „großen alten Dame“ des Realviszeralismus, | |
Cesárea Tinajero, suchen, trägt der Autor die Spuren ihrer Odyssee durch | |
Mexiko, Europa, Israel und Afrika zusammen. Alles, was wir über die beiden | |
Anführer der Bewegung erfahren, wird von Dritten erzählt, die ihnen | |
irgendwann begegnet sind. So entsteht mit den diffusen und oft | |
widersprüchlichen Phantombildern der zwei Dichter das Gruppenbild einer | |
ganzen Generation, die ihre literarischen Ambitionen nach und nach | |
zugunsten tragfähigerer Lebensentwürfe aufgibt. | |
Immer sind die jungen Möchtegerndichter Außenseiter. Immer sind sie in | |
Bewegung. Sie irren durch die Straßen des Molochs Mexiko-Stadt, durch die | |
Wüste an der Grenze zu den USA, durch Paris, Wien, Frankreich oder Israel. | |
Irgendwann geht Ulises Lima bei einem Besuch einer mexikanischen | |
Dichterdelegation in Nicaragua verloren. Der Dichter, der verloren geht, | |
geht zwar unter, philosophiert ein Schriftstellerkollege, „aber er stirbt | |
nicht“. | |
Poesie ist in diesem Buch Synonym für Fantasie, Abenteuer, Jugend, das | |
Leben überhaupt. „Wie so viele hunderttausende Mexikaner hatte auch ich, | |
als der Zeitpunkt gekommen war, aufgehört, Gedichte zu schreiben oder zu | |
lesen“, erinnert sich Amadeo Salvatierra, Weggefährte der legendären | |
Cesárea Tinajero, im Gespräch mit Ulises Lima und Arturo Belano: „Von da an | |
lief mein Leben in den denkbar grauesten Bahnen.“ Die „manchmal heroische | |
und viel öfter niederträchtige Welt der Literatur“, die Bolaño schon in | |
früheren Büchern beschrieben hat, wird hier zum Spiegelbild des Lebens. | |
Der in Spanien lebende Autor, der bereits in „Die Naziliteratur in Amerika“ | |
einen ganzen Roman aus fiktiven Autorenporträts konstruierte, garniert auch | |
sein Opus magnum mit hinreißend bösartigen Skizzen mehr oder weniger | |
gescheiterter Schriftstellerexistenzen. Die Literaten, denen Ulises Lima | |
und Alberto Belano auf ihrer Irrfahrt begegnen, sind größtenteils | |
jämmerliche, aufgeblasene Wichte – einzig sie selbst sind sich der eigenen | |
Bedeutung bewusst. Ein satirischer Höhepunkt des Romans ist die Schilderung | |
des Besuchs der Dichterdelegation in Nicaragua, der mit einer hochtrabenden | |
Solidaritätserklärung beginnt und nach dem Verschwinden des Genossen Ulises | |
Lima in einem skurrilen Gespräch mit einem nicaraguanischen Kommissar | |
gipfelt, in dem beide Seiten keinen Hehl aus ihrer gegenseitigen Verachtung | |
machen. | |
Was als Farce begann, wird zu einem irren Unternehmen. Irre nicht nur wegen | |
der Irrfahrt der beiden Protagonisten oder weil einige Randfiguren | |
buchstäblich im Irrenhaus landen. Das Irrste ist, dass Bolaño, der als | |
19-Jähriger in Mexiko die Bewegung des Infrarealismus begründete, beiläufig | |
seine persönliche Chronik der Siebziger-, Achtziger- und Neunzigerjahre in | |
Lateinamerika und Europa geschrieben hat. Die sandinistische Revolution in | |
Nicaragua findet in dem Roman genauso ihren Niederschlag wie die Rote Armee | |
Fraktion oder der Völkermord in Ruanda. Arturo Belano, der den chilenischen | |
Folterern entkommen konnte, geht am Ende des Buches in einer | |
Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Gruppen in Sierra Leone | |
verloren. | |
Erzählt werden die Begegnungen mit Arturo Belano und Ulises Lima in dem | |
eher beiläufigen, distanzierten Tonfall, in dem man eben über Personen | |
redet, denen man irgendwann im Leben einmal begegnet ist. Nur wenige | |
Erzähler haben ein inniges Verhältnis zu einem der beiden entwickelt, | |
allerdings haben die zwei Dichter bei den meisten einen nachhaltigen | |
Eindruck hinterlassen. Auf einen mexikanischen Künstler, der sie wegen des | |
Marihuanas schätzte, das sie ihm verkauften, wirkten sie wie Außerirdische, | |
er empfand sie als „kalt, als wären sie da und wieder nicht“. Einen anderen | |
erinnerten sie an den Film „Easy Rider“: „Sie waren wie Dennis Hopper und | |
sein Spiegelbild: kraftvoll und schnell.“ Die Vielfalt der Erzählerstimmen | |
und die vielen einander oft widersprechenden Geschichten geben dem Roman | |
den Charakter eines Puzzlespiels. Der moderne Mensch hat keine Biografie, | |
seine Identität setzt sich aus vielen schwer zusammenzufügenden Teilen | |
zusammen – Bolaño hat diesen Gedanken konsequent umgesetzt in eine Form, | |
die den Roman zu einem grandiosen und beunruhigenden Leseabenteuer macht. | |
Denn welchem Erzähler glauben wir – und warum?! Dem, der am besten erzählt, | |
also wahrscheinlich lügt? | |
Zur Glaubwürdigkeit seiner Erzähler trägt bei, dass Bolaño jeden mit einer | |
eigenen Redeweise und eigenem Slang ausgestattet hat. Sein Übersetzer, | |
Heinrich von Berenberg, hat auch im Deutschen überzeugende Entsprechungen | |
für diese Vielfalt gefunden. Leider verwirrt die Übersetzung in der ersten | |
Hälfte durch einige Bezugsfehler. | |
Wenige Monate nach seiner ersten Begegnung mit den Realviszeralisten wird | |
der junge Dichter Juan García Madero das letzte Mal in der Wüste von | |
Sonora, im Norden Mexikos, gesehen. Keiner aus der Gruppe wird sich später | |
an ihn erinnern. Was als pubertäres Tagebuch begann, endet im Vergessen. | |
Auch das ein Dichterleben. | |
Roberto Bolaño: „Die wilden Detektive“. Aus dem Spanischen von Heinrich von | |
Berenberg. Hanser Verlag, München 2002, 684 Seiten, 29,90 € | |
2 Apr 2002 | |
## AUTOREN | |
DIEMUT ROETHER | |
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