# taz.de -- Günes’ Licht für Mondfahrt | |
> „Unsere Erinnerungen werden der Traum unserer Kinder sein“: Der türkische | |
> Trainer Senol Günes wähnt sein Team vor dem Halbfinale gegen die | |
> Brasilianer ebenbürtig mit den Großen des Fußballs | |
aus Urawa MARTIN HÄGELE | |
So langsam nehmen die letzten Prophezeiungen bei dieser WM der | |
Überraschungen Gestalt an, nachdem auch die internationalen Medien auf die | |
Spur des türkischen Fußballmärchens gelockt wurden. In der Tokioter | |
Vorstadt Urawa, dem fußballverrücktesten Flecken von ganz Japan, ist es nur | |
zwei Kreuzungen weg vom Quartier der Türken vor Jahren jedes Mal zu einem | |
Volksauflauf gekommen, wenn Weltmeister Guido Buchwald die paar Schritte | |
von der Geschäftsstelle der Red Diamonds zur U-Bahn-Station spaziert ist. | |
Am Sonntag will sich die türkische Mannschaft, die Milli Takim, mit jenem | |
Titel schmücken, den der Deutsche 1990 aus Rom mitgebracht hat. Aber schon | |
das Halbfinale heute gegen Brasilien sowie die Vorbereitung dafür, gehören | |
praktisch zum Krönungszeremoniell dazu. Jedenfalls bahnt sich Großes an im | |
Hotel „Royal Pin“ in Urawa. | |
Die letzten drei Minuten vor der Pressekonferenz des Trainers Senol Günes | |
werden heruntergezählt, wie man das sonst nur von Cape Canaveral kennt, | |
wenn sich Mannschaften mit ihren Raumschiffen zum Mond aufmachen. „The | |
coach is coming“, schreit einer der modernen Herolde, bevor Günes in den | |
Bankettsaal schreitet. Vor ihm der Presseoffizier, nach hinten sichert ein | |
muskulöser Mann im Trainingsanzug ab. Der Sicherheitschef kommt aus | |
Stuttgart und hat zuvor für Willi Weber als Bodyguard in der Formel 1 | |
gearbeitet. Der Gedanke an Astronauten lässt einen nicht los. Da sind Leute | |
in eine Mission hineingeraten, die irgendwie ein paar Nummern zu groß für | |
sie ist. Und zu einem Zeitpunkt, „wo es im Weltfußball keine Großen und | |
keine Kleinen mehr gibt“. | |
Das Zitat stammt aus dem Vortrag, den der 49-jährige Günes vom Blatt | |
abliest. Er hat viel Pathos hineingeschrieben in diese Rede, die er | |
selbstverständlich für sein Volk hält, das 48 Jahre lang auf diese | |
Weltmeisterschaft gewartet hat. Zum einzigen Mal war sein Land 1954 in der | |
Schweiz dabei gewesen, bei jenem Turnier, das die deutsche Mannschaft auf | |
so sensationelle Weise gewonnen hatte. Nun aber wollen Günes und seine | |
Leute eine ähnliche Geschichte schreiben. „Unsere Erinnerungen werden der | |
Traum unserer Kinder sein“, sagt der Trainer. Kein Zweifel, er fühlt sich | |
als Fußballmessias und kein Vergleich kann ihm groß genug sein: „Wir haben | |
Pelé und Beckenbauer bewundert. Und jetzt stehen wir an der gleichen Stelle | |
mit jenen Nationen, welche diese Stars hervorgebracht haben.“ | |
Noch kommt es den Beobachtern ungewohnt vor, diese neue auf asiatischem | |
Boden geborene Großmacht auch in jenem Rahmen zu würdigen, wie es dieser | |
Fußballmuezzin verkündet. In Zukunft solle man die Copacabana und die | |
Strände des Schwarzen Meers in einem Atemzug nennen, wenn darüber | |
gesprochen werde, wo die Wiegen der größten Talente und besten | |
Fußballspieler der Erde stünden. Und irgendwie passt auch diese Botschaft | |
vom Bosporus an die Fußballwelt, in der so viel von Liebe und vom Frieden | |
der Völker die Rede ist und auch davon, dass das Wort Revanche nur für | |
Menschen mit niederen Instinkten zähle, irgendwie passt fast alles, was | |
Senol Günes erzählt, nicht zu jener Atmospäre, die beim Halbfinale in | |
Saitama ohne Zweifel herrschen wird. | |
Ist dieser Trainer, der zwölf Jahre lang im Tor seiner Nationalelf | |
gestanden hat und auch deren Kapitän war, nicht doch nur ein Fantast, den | |
ein Großteil der Journalisten seines Landes nicht ernst nimmt? Wohl auch | |
wegen solcher Reden und weil er bislang nur bei Trabzonspor gearbeitet hat. | |
Ein Provinzpascha, den man in Istanbul erst dank der Erfolge der | |
vergangenen Wochen ernst nehmen muss? | |
Und wie bewertet ein objektiver Beobachter die Tatsache, dass die Spieler | |
von Senol Günes praktisch das Gegenteil von dem behaupten, was ihr Chef | |
sagt? Etwa zum Fall Rivaldo, dessen billige Schauspielerei beim unglücklich | |
verlorenen Gruppenspiel (1:2) die Türken aufgebracht hat. Günes legt den | |
Mantel barmherzigen Vergessens über diesen Vorfall. Der Abwehrspieler Alpay | |
aber sagt: „Man kannte Rivaldo bislang nur als Künstler. Bei dieser WM aber | |
hat man entdeckt, dass er auch ein Betrüger ist. Ich werde mich in den | |
ersten zwanzig Minuten persönlich um ihn kümmern, obwohl ich schon mit | |
einer Verwarnung vorbelastet bin.“ | |
Sollte Alpay deshalb eine zweite gelbe Karte erhalten, was ihn automatisch | |
von der Teilnahme am Endspiel ausschließen würde, so Alpay, „bin ich gerne | |
bereit, mich für die Mannschaft zu opfern“. Vor sechs Jahren, nach der | |
Europameisterschaft in England, hat der Abwehrspieler von Aston Villa noch | |
den Fairnesspreis der internationalen Sportpresse erhalten, weil er einen | |
Stürmer ein Tor erzielen ließ, anstatt die branchenübliche Notbremse zu | |
ziehen und die rote Karte dafür halt als Berufsrisiko zu kalkulieren. | |
Und der kahlköpfige Hasan Sas von Galatasaray Istanbul möchte sich selbst | |
auf dem Gipfel des Ruhms nicht mit alten Feinden versöhnen. Nach dem Spiel | |
gegen Senegal hätten sie einander in der Kabine geschworen, als Weltmeister | |
heimzufliegen. Doch kaum hatte er den internationalen Journalisten von | |
diesem Versprechen berichtet, bekamen seine Landsleute einen ganz anderen | |
Schwur zu hören: „Sie haben unseren Kapitän Hakan Sükür sehr hart | |
attackiert – das war ein Angriff auf die ganze Mannschaft. Sie werden dafür | |
einen sehr hohen Preis bezahlen müssen. In ein paar Tagen werden wir mit | |
dem Weltpokal in Istanbul landen, und dann gehen Sie ganz schweren Zeiten | |
entgegen.“ | |
Die Fußballwelt ist tatsächlich aus den Fugen geraten. Und die Frage, auf | |
wen oder auf was man sich hier noch verlassen kann, ist nach einem Besuch | |
im türkischen Lager noch schwerer als zuvor. In solchen Fällen hilft nur | |
Adi Preißlers altbekannte Weisheit: „Die Wahrheit liegt aufm Platz.“ Auch | |
die türkische. | |
26 Jun 2002 | |
## AUTOREN | |
MARTIN HÄGELE | |
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