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# taz.de -- Triumph des Dionysischen
> Ein Dutzend exzentrischer Musiker, die sich anschicken, einen ganzen
> Kontinent aus dem Gleichgewicht zu bringen: die St. Petersburger Band
> „Leningrad“ – heute in der Fabrik
von ALEXANDER MIRIMOV
Sie kommen aus St. Petersburg und sie heißen Leningrad. Sie sind jung,
frech, abgefahren, witzig und sie beherrschen die russische Musik-Szene auf
eine für unsere Zeit nicht gerade gewöhnliche Art: Mit einem einzigen
Video-Clip (nach dem Prinzip „weniger ist mehr“) und ohne jegliche
PR-Aktionen sind sie bekannter und beliebter, als die ganzen
MTV-Quotenbringer des Riesenlandes. Diese ungewöhnliche Popularität haben
sie, neben den bis jetzt erschienenen knapp fünf Alben, ihren zahlreichen
Live-Auftritten zu verdanken, die das gelangweilte postsowjetische Clubbing
auf eine angenehm slawische Art revolutioniert haben.
Die Band wurde 1997 vom Bass-Gitarristen und ehemaligen Theologie-Studenten
Sergej Schnurow gegründet. Das Ganze geschah in einer Stadt, die von jeher
als Russlands inoffizielle Musikhauptstadt gehandelt wurde, seit den
„wilden Achtzigern“ aber in dieser Hinsicht so manches eingebüßt hatte, S…
Petersburg nämlich. Der als „zukunftsweisend“ sich herausstellende Name
Leningrad war dabei zu gleichen Teilen Provokation und nüchterne
Feststellung der Tatsachen, denn auch sechs Jahre nach der Rückumbenennung
der Stadt war sie nichts anderes als Leningrad – und wird es gewiss noch
mehrere Jahre bleiben.
Somit sei das Leningrader Kontingent an Nüchternem aber auch wohl
erschöpft. Denn nun gehen wir zum musikalischen Teil über. Man stelle sich
ein Dutzend exzentrischer Musiker vor, die so aussehen, als hätten sie vor,
einen ganzen Kontinent aus dem Gleichgewicht zu bringen. Gespielt wird eine
explosive Mischung aus hyperschnellem, blasinstrumentenlastigem Ska, nicht
weniger tanzhaften Latin- und Balkanrhythmen und trunkenen russischen
Verbrecher-Polkas aus den dreißiger bis fünfziger Jahren. Mit anderen
Worten: ein reiner Triumph des Dionysischen in seiner slawisch-sowjetischen
Form, ganz im Sinne von Schnurows Lieblingsphilosophen Friedrich Nietzsche.
Vergeblich würde man dagegen nach dessen Spuren in Leningrad-Texten suchen.
Vielmehr stößt man da auf die Spuren von Schnurows Lieblingsschriftsteller
Wladimir Sorokin – zurzeit auf der Anklagebank wegen des Gebrauchs obszöner
Wörter und – in seinem letzten Roman – der Darstellung eines
Geschlechtsverkehrs zwischen Hitler, Chruschtschow und Stalin. Aber keine
Angst, liebe (deutsche) Konzert-Besucher: Die Texte von Leningrad sind
weder pervers noch gefährlich. Sie sind lediglich Ausdruck einer ganz
gewöhnlichen, alltäglichen Normalität des Wahnsinns: Ein Grund, warum sie
mittlerweile von Millionen junger Russen als Alltagsweisheiten zu jedem
passenden Anlass zitiert werden (und Anlässe gibt es genug).
Dass die schrägen Leningrad-Klänge nicht nur dem schweren russischen Ohr,
sondern durchaus auch dem raffinierten, auslandserfahrenen westlichen
Musik-Geschmack bekommen können, beweist der Fall der Berliner Russendisko
und ihrem Hamburger Pendant, dem Datscha-Projekt: Dort sind die genannten
Klänge längst zum musikalischen Markenzeichen geworden. Das Geheimnis
liegt, neben den unstrittigen musikalischen Qualitäten, an der
außergewöhnlich starken positiven Energie, mit der die Lieder geladen sind
und die, abhängig vom Charakter, dem Promille-Stand und der
Tanzanfälligkeit des Betroffenen, sich auf ihn überträgt – meist aber
geschieht das unverzüglich.
In ihrer volksnahen wie anarchischen Art sind Leningrad so uncool, wie man
es sich in unserem Video-Clip-Zeitalter nur wünschen kann. Aber man darf
nicht vergessen: Das nächste Zeitalter steht an der Schwelle, und die
Trendmacher von morgen haben bereits ihre Wahl getroffen. Und so bleibt uns
nur eins: so schnell wie möglich zum Konzert zu laufen und das „Echte“ in
vollen Zügen genießen, bevor es morgen endgültig zum neuen Trend wird. Man
muss die Feste feiern, wie sie fallen.
heute, 21 Uhr, Fabrik
24 Jul 2002
## AUTOREN
ALEXANDER MIRIMOV
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