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# taz.de -- „Sind wir wirklich so schwach?“
> Klaus Schmidt, ehemaliger Leiter des geschlossenen Mädchenheims
> Feuerbergstraße und des Jugendnotdienstes, geht in den Ruhestand: Ein
> Rückblick auf die Zeit der Zellentüren und Guckspione – und auf den Kampf
> gegen „Anpassungserwartungen“
von KAIJA KUTTER
Die Aula des ehemaligen Mädchenheims Feuerbergstraße ist weiß getüncht. Nur
an einigen Stellen sind die verschiedenen Schichten früherer Wandbemalung
freigelegt: Eine dunkelgraue aus den 20ern, die die Nazis als „entartete
Kunst“ übermalen ließen, eine bräunliche aus den 30ern. Das Haus hat
Geschichte. Hier wurden Mädchen körperlich gezüchtigt, so sehr, dass sich
1916 der Leiter der „Irrenanstalt Friedrichsberg“, die Zöglinge aus der
Feuerbergstraße aufnahm, beschwerte. In den 30ern wurden hier Kinder als
„unwertig“ eingestuft und – als die Luftangriffe kamen – von der
Landverschickung ausgenommen. Der Pädagoge Klaus Schmidt, der die
Feuerbergstaße in den 70er Jahren leitete und in den 80ern auflöste, nutzte
am Freitag seine Verabschiedung in den Ruhestand, um vor dem Rückfall in
alte Zeiten zu warnen. Mit Blick auf die geschlossene Unterbringung, für
die am Nachbargebäude bereits Gitter angebracht sind, fragte er: „Sind wir
als Erwachsene wirklich so schwach, dass wir Kinder einsperren müssen?“
Schmidt war bis 1973 in der „schönen Jugendhilfe“ tätig, wie er sagt,
leitete ein Bürgerhaus, war Sekretär bei den Falken, veranstaltete
Jugendcamps. Bei einem dieser Zeltlager fiel ihm 1972 die 13-jährige Sabine
auf, „die war sehr engagiert“. Ein halbes Jahr später wurde eine neue
Leitung für die Feuerbergstraße gesucht: Das Heim war in die bundesweiten
Schlagzeilen geraten, weil Hilde Heinemann, die Frau des damaligen
Bundespräsidenten, sich bei einer Besichtigung kritisch über die Guckspione
in den Zellen geäußert hatte. Schmidt sollte neue Konzepte entwickeln. Als
er das Haus übernahm, wurden ihm die Türen zu allen Zellen geöffnet. In
einer saß Sabine. Schmidt: „Da wusste ich, dass ich misstrauisch sein
musste. Das Mädchen war in ihrem pubertären Verhalten etwas auffällig. Das
hat schon gereicht.“
Kurz darauf sollte er eine 13-Jährige einsperren, weil der Freund der
Mutter eine „Beziehung“ mit ihr eingegangen war. Schmidt: „Es gab
dutzendweise solche Geschichten. Ich konnte diese Kinder nicht mehr
einsperren.“ Mädchen, die Opfer sexuellen Missbrauchs waren, wurden als
„sexuell verwahrlost“ weggeschlossen. Mitunter dreimal so lange wie die
Täter.
Klaus Schmidt wechselte die überaltete Erzieherschaft aus, öffnete das Haus
Stück für Stück. Der anfänglichen Aggression folgte eine Phase der Ruhe.
„1978 fiel der Zaun, die Mädchen bekamen Ausgang“, erinnert er sich. „Wir
arbeiteten praktisch schon total offen, bevor 1981 die politische
Entscheidung dafür kam.“ Auch an der war Schmidt maßgeblich beteiligt. 1980
gab es im April und Dezember zwei legendäre Diskussionen in der Markthalle
mit mehreren hundert Heimkindern und Erziehern. Schmidt verfasste dafür
zusammen mit dem Leiter des geschlossenen Jungenheims in Wulsdorf und vier
weiteren Kollegen die Reform-Schrift „Leitgedanken zur Heimerziehung“.
Damals gab es in Hamburg drei geschlossene Großheime, jedes mit über 200
Plätzen, drei geschlossene Durchgangsheime mit je 80 Plätzen, ein großes
Aufnahme- und Beobachtungsheim und eine Vielzahl von Kleinkinder- und
Kinderheimen. Im Mittelpunkt der Diskussionen in der Markthalle stand das
Thema „Heimkarriere“: die oft gegen den Willen von Kindern und Jugendlichen
praktizierte Versetzung in andere Häuser bei auffälligem oder unangepasstem
Verhalten, durch die sich eine Spirale nach unten entwickelte. An letzter
Stelle drohte die geschlossene Heimerziehung. Die Kinder und Jugendlichen
forderten Einsicht in ihre Akten und einen Schutz davor, dass ihnen immer
wieder mit der Versetzung in die Feuerbergstraße und nach Wulfsdorf gedroht
wurde.
Schmidt schrieb in den Thesen: „Wir müssen alle unverhältnismäßigen
Anpassungserwartungen an unsere Heimkinder ebenso zurückweisen wie das
Verlangen, Heimerziehung solle Sühne und Strafe für begangene Missetaten
sein.“ Stattdessen gelte es Bedingungen zu schaffen, die es den Kindern
ermöglichen, „Erfahrungen zu sammeln und Fähigkeiten zu entwickeln, die für
eine eigenständige Lebensgestaltung notwendig sind“. In der „gesicherten
Unterbringung“ hingegen beschränkten sich die pädagogischen Beziehungen für
die Jugendlichen oft nur noch auf das „Überwinden der Sicherheitsmaßnahme“
und für die Pädagogen auf das „Verhindern von Entweichungen“.
„Diese Gedanken waren für die damalige politische Führung der Behörde
außerordentlich fordernd und provokativ, auch wenn sie sich heute
selbstverständlich anhören“, sagt Dorothee Bittscheidt, die damals das Amt
für Jugend leitete und am Freitag gemeinsam mit der damaligen
Pressesprecherin Wilma Simon zu Schmidts Abschied eine Rede hielt.
1981 wurde die geschlossene Unterbringung per Bürgerschaftsbeschluss
abgeschafft. Aber es brauchte eine alternative Hilfestruktur. Bei Schmidt
am Küchentisch wurde das Konzept des späteren „Kinder- und
Jugend-Notdiensts“ entworfen, der Kinder in Krisensituationen hilft und
auch kurzfristig unterbringt und den Schmidt bis vor vier Jahren leitete.
Hinzu kam das Mädchenhaus, dass sich auf die Thematik des sexuellen
Missbrauchs spezialisierte. Jugendwohnungen wurden ausgebaut. 1991
schließlich trat das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) in Kraft. Danach
darf die Jugendhilfe ausdrücklich nicht mehr benutzt werden, um zu strafen.
Trotzdem droht nun, dass Familienrichter zum „Schutz des Kindeswohles“ auf
Antrag von Eltern oder Amtsvormündern der Einweisung in die geschlossene
Unterbringung wieder zustimmen, die der Rechtssenat auf dem Gelände
Feuerbergstraße herrichtet. In 14 Tagen soll sie fertig sein. „Ich sehe
dies mit großer Sorge“, sagt Schmidt. „Ein langer Einschluss in der
Kindheit ist außerordentlich schädlich. Er führt zur Stigmatisierung. Das
Kind denkt von sich selbst, es ist ein Monster.“ Deshalb, so Schmidt,
hätten Jugendliche manchmal sogar Glück, wenn es zum gerichtlichen Prozess
kommt: „Denn da geht es darum, habe ich etwas getan oder nicht.“ Eine
Einweisung zum Schutz des Kindeswohl hingegen könne schon gegeben sein,
wenn den Erziehern nichts anderes mehr einfällt. „Da geht es nicht darum,
was hast du getan, sondern, wie entwickelst du dich.“
Schmidt fürchtet, dass langfristig selbst Prostitution von Minderjährigen
als Einweisungsgrund ausreicht. Dies sei kontraproduktiv: „In diesem Alter
gibt es keine stabile Entwicklung zur Prostitution. Wenn die Angst, ins
Heim zurück zu müssen, aber so groß ist, verpassen die 13- bis 16-Jährigen
den Zeitpunkt, wo es sie ankotzt und sie von sich aus aussteigen.“ Auch die
Internationale Gesellschaft für Erzieherische Hilfen warnt, dass bundesweit
Mädchen aus „vergleichsweise undramatischen Gründen“ eher als Jungen im
Heim landen.
Nach der Heimreform war die Jugendhilfe ständigen Attacken von Opposition
und Medien ausgesetzt, insbesondere vor Wahlen. Die CDU skandierte, dass
als Konsequenz mehr junge Leute in U-Haft säßen, die Jugendpsychiatrie
beklagte, dass bei ihnen immer mehr auffällige Kinder auftauchten. „Seit
1982 beschäftigt die Jugendhilfe der Nachweis, dass weder die Zahlen der
Untersuchungshäftlinge noch die der Psychiatrieeinweisungen mit der
Aufhebung der geschlossenen Unterbringung in irgendeiner Weise in
Zusammenhang standen“, sagt Wilma Simon. Schmidt bekam als Leiter des
Kinder- und Jugendnotdienstes die Attacken an vorderster Front mit. Er hat
noch Dokumente, die belegen, dass zu den Hochzeiten der Crash-Kids
TV-Sender die Kinder für Berichte über ihre Aktionen bezahlten.
Die letzten vier Jahre verbrachte Schmidt als Leiter einer Abteilung der
Jugendhilfe in der Behörde und entwickelte zusammen mit der Sozialpädagogin
Christina Grossmann ein Konzept namens „Pilot“, um kriminelle Karrieren von
Kindern zu verhindern. Pilot wurde drei Jahre lang in Langenhorn erprobt
und gewann am Ende einen Preis des Bundesjustizministeriums. „Das Konzept
geht von der These aus, dass sich in bestimmten Situationen alle, die sich
mit einem Kind beschäftigen, zurückziehen. Die Schule sondert aus, die
sozialen Dienste brechen den Kontakt ab.“ Die Sozialarbeiter von Pilot
rollten diese Fälle wieder auf, nahmen Kontakt zu Familien und Schule auf,
gingen sogar mit in den Unterricht und boten eine Unterrichtseinheit in
Konfliktraining an. Schmidt: „Es hat geklappt, die Hilfe wieder zu
aktivieren. Das beweist, dass es noch andere Möglichkeiten gibt als
geschlossene Heime.“
Und solange dies gilt, so hofft er, werden sich auch Hamburgs
Familienrichter dem Freiheitsentzug für Kinder widersetzen.
2 Dec 2002
## AUTOREN
KAIJA KUTTER
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