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# taz.de -- Alkoholabstinenz: Versuchen Sie mal, nichts zu trinken
> Nicht jeder, der zu viel trinkt, ist automatisch ein Alkoholiker.
> Gedanken darüber, warum Abstinenz eine gute Sache sein kann.
Bild: Es ist gar nicht so leicht, hier nicht zuzugreifen. Oder doch?
Neulich bin ich mit zwei Freunden zu einer Ausstellungseröffnung nach
Danzig gefahren. Wir sind mit dem Künstler, der dort ausstellte,
befreundet, und ich erinnere mich noch heute gern an die epischen
Trinknächte, die wir zu zweit, zu dritt oder zu viert hatten. Drei, von
außen betrachtet, sehr schöne Tage später saß ich allerdings
unverhältnismäßig frustriert im Morgenzug zurück nach Berlin, der auch noch
vier Stunden Verspätung hatte. Ich war unfreundlich zum Zugpersonal,
schloss mich irgendwann in der Zugtoilette ein und rauchte Kette.
Das ist so etwas wie ein massives Warnsignal, wenn man nicht mehr trinkt.
Das Beste, was mir passiert ist, seit ich mich vor fast anderthalb Jahren
vom Alkohol verabschiedet habe, ist das Eintreten einer gewissen Ruhe, die
ich vorher nicht kannte. Zum Anfang des Nüchternseins geschah das noch eher
punktuell, später immer mehr.
Man kann sich das als eine Art leiser Indifferenz gegenüber all den
Arbeits-, Liebes-, Familien- und Freundschaftsdramen vorstellen, die mich
früher fast jeden Tag beschäftigten. Und nur einer solch emotional
aufreibender Momente wie im Zug – Momente, in denen man wirklich man selbst
sein möchte und noch nicht einmal sagen kann, warum – genügt, um zu dem zu
greifen, was früher beim Abschalten half: Rotwein für mich und an den
Wochenenden Wodka-Tonics.
## „Nicht mal ein Glas Wein zum Essen?“
Wenn mich Leute fragen, warum ich keinen Alkohol trinke, sage ich meistens,
dass ich früher zu viel getrunken hätte. „Aber überhaupt nicht mehr? Nicht
mal ein Glas Wein zum Essen?“ Die Wahrheit ist, dass ich so gut wie nie in
meinem Leben nur ein Glas Wein getrunken habe. Ich habe nie maßvoll
getrunken, und diese Eigenschaft hat sich über die Jahre auch noch
erheblich verstärkt.
Das fällt einem die meiste Zeit nicht auf, weil es ein schleichender
Prozess ist, mit Tiefen in den schwierigen Phasen, die man im Leben so hat,
und Höhen, wenn es einem besser geht. Irgendwann werden die schwierigen
Phasen nur immer länger und intensiver, und der eigene Kopf ist ziemlich
gut darin, nicht zu sehen, dass das etwas mit dem Alkohol zu tun hat.
Außerdem habe ich immer Leute gefunden, die genauso viel wie ich tranken
oder noch mehr. An irgendeinem Punkt des Abends gab es immer genügend Koks,
um nur noch halb derangiert weiterzutrinken. Und am nächsten Morgen, wenn
ich mein Telefon durchforstete, um den vorangegangenen Abend zu
rekonstruieren und die ersten Kater-SMS zu verschicken, konnte ich mich
immer glauben machen, dass sich die anderen genauso wenig an mein
beschämendes Auftreten erinnern wie ich selbst. Was natürlich nicht
stimmte.
Ich habe lange in New York gewohnt, wo man anders trinkt. Dort ist um vier
meistens Schluss, und man setzt sich ins Taxi nach Hause. Die Schamgrenze
für öffentliche Trunkenheit liegt etwas höher als bei uns. Aber auch das
hielt mich nicht davon ab, immer mehr zu trinken, als ich vertragen konnte.
## Eine andere Trinkkultur
Stattdessen lag ich auf dem Sofa meiner Analytikerin und redete darüber,
dass es in Deutschland einfach eine andere Trinkkultur gäbe. Was ja nicht
unbedingt falsch ist. Gerade im ländlichen Mecklenburg-Vorpommern, wo ich
groß geworden bin, wirkt Alkoholismus wie ein flächendeckendes Phänomen.
In Deutschland, mit einem jährlichen Pro-Kopf-Konsum von 12,1 Liter reinem
Alkohol einer der europäischen Trinkspitzenreiter, sterben mehr Menschen an
durch Alkoholmissbrauch verursachter Leberzirrhose als bei
Verkehrsunfällen. Laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts von 2010
nehmen bei uns ungefähr 16 Prozent aller Frauen und 31 Prozent aller Männer
mehr als die tolerierbare Menge Alkohol zu sich.
Diese Menge variiert je nach Geschlecht und Körpergewicht, aber sie ist in
jedem Fall sehr viel kleiner, als Sie denken: Der World Cancer Research
Fund empfiehlt, den täglichen Alkoholkonsum bei Frauen auf ein halbes, bei
Männern auf ein ganzes Glas Wein oder eine bzw. zwei kleine Flaschen Bier
zu beschränken. Ein Bekannter erzählt mir jedes Mal, wenn ich ihn sehe,
dass er kein Alkoholproblem habe, weil er abends nie mehr als eine halbe
Flasche Wein trinkt. Das Robert-Koch-Institut stuft den Konsum von 0,375
Liter Wein als Rauschtrinken ein.
## Wie viel Alkohol verträgt dein Leben?
Natürlich muss jeder für sich entscheiden, wie viel Alkohol sein Leben
verträgt. Viele Menschen, die mehr als jenes Glas Wein trinken, führen ein
glückliches Leben. Wäre ich zum Ende in der Lage gewesen, spätestens nach
der halben Flasche, die mein Bekannter abendlich zu sich nimmt, Schluss zu
machen, hätte ich wahrscheinlich nie mit dem Trinken aufgehört. Aber auch
im besten aller Fälle geht man dabei ein erheblich erhöhtes Risiko ein, an
Krebs zu erkranken oder Krankheiten des Herz-Kreislauf-, des
Verdauungssystems sowie Leberkrankheiten zu erleiden.
Jeder, den ich kenne, der mit dem Trinken aufhören musste, hatte zudem
neurologische oder psychische Störungen, die manchmal schon nach ein paar
Monaten Nüchternheit verschwanden. Sitzt man in einer Selbsthilfegruppe mit
Menschen, die ebenfalls nicht mehr trinken, überrascht es einen außerdem,
wie viele von ihnen schon einmal versucht haben, sich das Leben zu nehmen.
Wer regelmäßig viel trinkt, für den besteht statistisch eine um 50 Prozent
höhere Wahrscheinlichkeit, Selbstmord zu begehen.
## Niemand will den Alkohol verbieten
Als ich anfing, mich mit dem Thema zu beschäftigen, bin ich vor allem auf
zwei weit verbreitete Vorurteile gestoßen, die mich ärgern. Viele Menschen
glauben bei jedem Hinweis auf das Problem eine zwanghaft verklemmte
Tyrannei des Glatten aufkommen zu sehen – eine Welt, in der man nach den
Zigaretten nun auch noch den Alkohol verbieten will, damit das
postfordistische Hamsterrad aus Arbeit und Konsum noch reibungsloser
funktioniert.
Das ist ein intellektueller Salto, wie ihn nur wahre oder angehende Trinker
vollbringen können. Denn es ist keineswegs so, dass unser Alkoholkonsum
gesellschaftlich in Verruf geriete. Im Gegenteil, das Angstbild einer
genussfeindlichen Kultur steht in der Realität einer höchst trinkfreudigen
Gesellschaft gegenüber. Sollten Sie daran zweifeln, versuchen Sie, beim
nächsten Büro- oder Geburtstagsfest einfach mal nichts zu trinken.
Das zweite Vorurteil, das es schwierig macht, in Deutschland über Alkohol
zu sprechen, ist die abstruse Annahme, dass es sich dabei um ein Problem
der Hartz-IV-Fernsehen schauenden „Unterschicht“ handele. Statistisch
gesehen zeichnet sich nämlich für Männer zwischen 30 und 64 Jahren ein
Zusammenhang zwischen hohem Bildungsstand und riskantem Alkoholkonsum ab.
Bei Frauen zeigt sich dieser Zusammenhang in allen Altersgruppen ab 30
Jahren.
In jedem Büro, in dem ich bisher gearbeitet habe, gab es jemanden, der oft
übernächtigt zur Arbeit kam, wenig bewerkstelligte, zu katerbedingten
Wutausbrüchen neigte und trotzdem davon überzeugt war, dass ohne ihn nichts
funktionieren würde. Je klüger man ist, desto überzeugender sind die
Geschichten, die man sich selbst erzählt, um weitertrinken zu können. Jeder
Alkoholkranke hinterlässt, ohne dass er es selbst merken muss, eine Spur
der Zerstörung in seiner Familie, an seinem Arbeitsplatz und in seinem
Freundeskreis.
## Es gibt immer genügend Anlässe
Sollten Sie jemals gedacht haben, dass Sie ein Alkoholproblem haben, ist es
nicht unwahrscheinlich, dass Sie die eben erwähnten Zahlen kennen und als
Alarmismus abtun. Zumindest ging mir das so. Wenn man auf riskante Weise
trinkt, ist man gegen warnende Stimmen gewappnet. Man hat immer genug
Probleme und Anlässe, die das nächste Glas geradezu zwingend erscheinen
lassen. Und man hat immer eine Argumentation parat, die beweist, dass man
kein Problem hat – wobei einem nicht auffällt, dass man gar nicht so viel
Argumentationsaufwand betreiben müsste, wenn man das Problem nicht hätte.
Nicht jeder, der zu viel trinkt, ist automatisch ein Alkoholiker, aber wenn
er weiter zu viel trinkt, wird er in jedem Fall einer werden. Beim einen
geschieht das aufgrund genetischer Voraussetzungen und kultureller
Prägungen innerhalb von ein paar Jahren, beim anderen zieht sich dieser
Prozess über Jahrzehnte hin.
Die meisten Alkoholiker sehen nicht kaputt aus und müssen auch nicht
morgens trinken. Sie leben nicht auf der Straße, sie haben Freunde und
einen Job. Sie sind Menschen, die früher einmal tatsächlich Spaß hatten,
wenn sie tranken; Menschen, die in klaren Momenten realisieren, dass
irgendetwas nicht stimmt. Die meisten Alkoholiker sind Menschen, die ein
Leben leben, das sie sich ohne Alkohol einfach nicht mehr vorstellen
können.
Als ich nach meinem Ausflug nach Danzig endlich wieder in Berlin ankam,
fühlte ich mich zutiefst erleichtert und rief sofort ein paar Freunde an,
die auch nicht trinken. Ich hatte viel gelacht, gute Kunst gesehen,
anregende Gespräche geführt und morgens im Hotel einen Turgenjew-Roman
gelesen, den ich schon immer lesen wollte. Aber es war auch eine der
anstrengenderen Reisen, die ich in letzter Zeit unternommen hatte.
Die Freunde, mit denen ich unterwegs war, sind hinreißend, aber zu ihrer
Vorstellung von einem guten Reisetag gehört es, sich abends einen Rausch
anzutrinken. Ein Teil von mir hat sich sehr gewünscht, ich hätte nicht
schon alle solche mir im Leben zustehenden Tage aufgebraucht. Und ich hätte
mir gern bewiesen, dass mir das nichts ausmacht. Aber natürlich tut es das.
Wie könnte es das auch nicht.
27 Dec 2012
## AUTOREN
Daniel Schreiber
## TAGS
Alkohol
Nüchtern
Sucht
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