# taz.de -- Ahmad Mansour im Interview: Die Realität ist mehrdimensional | |
> Der Psychologe Ahmad Mansour über die Realität der Integration in | |
> Deutschland und seine Lebenserfahrung von vier Shutdowns. | |
Bild: Ahmad Mansour in Berlin | |
taz FUTURZWEI: Wie fühlt man sich, wenn man immer der Partykiller ist, Herr | |
Mansour? | |
AHMAD MANSOUR: Wie meinen Sie das? Und was heißt überhaupt »Party«? | |
Sie lachen, aber in Bezug auf die Integrationsdebatte gelten Sie als | |
Spielverderber. | |
Ah, ich verstehe. Weil es über mich heißt: »Der streitbare Autor sagt das | |
und das.« Aber bin ich tatsächlich streitbar oder nicht eher ein absoluter | |
Realist, der Probleme anspricht? Sehen Sie: Ich gehe in Schulen, in | |
Willkommensklassen, in Asylheime. Ich habe bei WhatsApp mehrere | |
Diskussionsgruppen mit Frauen und Männern, die aus Syrien kommen. Ich bin | |
da, wo die meisten nicht sind, die mich für einen Partykiller halten. Ich | |
sehe die Realität. Man muss schon blind sein, um nicht zu sehen, dass nicht | |
alles rosig ist, was Integrationspolitik angeht. Die Frage sollte daher | |
sein: Warum haben wir als Gesellschaft Schwierigkeiten, über die Realität | |
zu sprechen? Warum haben wir eine romantisierte Vorstellung von unseren | |
Themen? | |
Das ist genau unser Thema: Realitäten, die sich im Verborgenen befinden | |
oder bisher befunden haben, auch weil Leute kein Interesse daran haben, | |
diese Realität zu sehen. Derzeit werden durch die Corona-Krise einige | |
dieser Dinge sichtbar, aber auch die Erderhitzung und die | |
Flüchtlingsentwicklung lassen sich immer schwerer ignorieren. | |
Es gibt Phasen im Leben und Phasen in der politischen Entwicklung, in denen | |
bestimmte Themen verdrängt oder erstmal in die zweite Reihe geschoben | |
werden. Es ist absolut verständlich, dass wir zuletzt mehr über | |
Beatmungsgeräte und über unser Gesundheitssystem gesprochen haben als über | |
Integration von Flüchtlingen. Nach dem Anschlag in Hanau war es sehr | |
wichtig, darüber zu sprechen, dass wir rechtsextremen Terror in dieser | |
Gesellschaft haben. Damit habe ich kein Problem. Ich habe auch nicht das | |
Gefühl, dass Integration das Thema Nummer eins ist, dass uns alle 24/7 | |
beschäftigen sollte. Es ist eine Herausforderung neben vielen. | |
Jetzt kommt das »Aber«? | |
Aber was mich an unserer Politik und unserer Wahrnehmung stört, ist die | |
Eindimensionalität. Wir reden ununterbrochen, manchmal sogar obsessiv, über | |
das jeweilige Thema und vergessen alles andere, als ob es nicht existiert. | |
Man merkt es beim Thema Klimawandel: Die Gefahren und Herausforderungen | |
sind genauso da wie vor wenigen Wochen und dennoch sieht man in den | |
Umfragen, wie das in den Hintergrund rutscht. Ich wünsche mir eine | |
Gesellschaft, und dazu gehören auch die Medien, die begreift, dass wir | |
mehrdimensionale Herausforderungen haben. Die Realität ist mehrdimensional. | |
Genauso wie für manche nicht aushaltbar ist, wenn unklar ist, wie es | |
weitergeht, ist es auch nicht aushaltbar, Themen multidimensional zu | |
erschließen. Wie kriegt man, um mit Maja Göpel zu sprechen, eine | |
Diskurshygiene hin, bei der man die unterschiedlichen Dimensionen bedenkt? | |
Ich habe keine ultimative Lösung, aber ich denke, wichtig wäre schon mal | |
eine bessere Streitkultur, die den unterschiedlichen Sichtweisen und der | |
Komplexität auch einen Platz gibt. Unsere Talkshows sind maßgebliche | |
Meinungsbildner, die aber so aufgebaut sind, dass man immer an der | |
Oberfläche bleibt. Ich merke weltweit eine Sehnsucht nach Vereinfachung, | |
nach Autoritäten, die uns sagen, wo es langgeht, die Verantwortung von uns | |
nehmen, uns mit Schwarz-Weiß-Bildern füttern und die die Welt in | |
Feind-Freund teilen. Denn die Welt überfordert uns oder jedenfalls viele. | |
Allein in meiner Nachbarschaft: Was ich da für WhatsApp-Nachrichten kriege! | |
Die meisten können nicht damit umgehen, dass es im Moment keine Antwort | |
bezüglich der Zukunft gibt. | |
Woran machen Sie das fest? | |
Warum müssen jetzt Verschwörungstheorien verbreitet werden? In der Art von: | |
Es gibt kein Virus, das ist ein Spiel von Jens Spahn, um Kanzler zu werden, | |
die Juden stecken dahinter, das wurde im Labor gefertigt. Aus | |
psychologischer Sicht handelt es sich um ein tief greifendes Bedürfnis von | |
Menschen nach einer einfachen Antwort, die einem das Gefühl gibt, die | |
Mächte da draußen sind verantwortlich, aber niemals ich. Auch die Skepsis | |
gegenüber Medien, Institutionen und der Glaube, nichts sei zufällig, alles | |
hinge zusammen und nichts sei so, wie es aussehe, schafft fruchtbaren Boden | |
für Verschwörungen. Das findet man in allen Themenbereichen, vor allem, | |
sobald es komplexer wird. | |
Wir – taz FUTURZWEI – versuchen innerhalb unserer eigenen Filterblase neue | |
Gedanken unterzubringen und das ist schwer genug. Das Bedürfnis nach | |
Einfachheit ist bei allen ausgeprägt, bei den »Guten« wie bei den »Bösen«… | |
Ich gebe Ihnen recht: Unter Meinungsmachern gibt es zahlreiche Blasen und | |
diese werden nicht verlassen. Dabei ist die große Aufgabe von Medien, genau | |
dies zu tun und die eigenen Blasen aktiv zu reflektieren. Das heißt nicht, | |
dass es Hetze gegen eine Plattform geben muss, aber andere Meinungen muss | |
man aushalten können und Platz auf der eigenen argumentativen Linie lassen. | |
Das ist eine große Herausforderung der Medien, der Politik und der | |
einzelnen Menschen im Umgang miteinander. Wenn man schaut, ist aber genau | |
das nicht vorhanden, nicht im linken oder rechten Spektrum, nicht in der | |
Mitte, die eh am liebsten Themen vermeidet, lieber nicht darüber redet und | |
stattdessen feiern geht. Das sind alles Entwicklungen, die jemandem wie | |
mir, der aus einem sehr zerrissenen Land kommt, Angst machen. Weil genau | |
das zu Polarisierung führt und zur Unfähigkeit, Probleme zu benennen. Das | |
schließt die Lösungsfindung schon von Anfang an aus. | |
Gerade weiß sowieso keiner, wie es weitergeht, dann lasst uns doch mal | |
diesen leeren Raum benutzen, um über Dinge vernünftig zu sprechen. | |
Ich habe dazu eine sehr persönliche Geschichte. Ich habe die Zeit um | |
Weihnachten herum schon immer sehr geschätzt, nicht weil ich Christ | |
geworden bin, sondern weil ich bemerkt habe, dass in diesen zwei bis drei | |
Wochen am Ende des Jahres alles stoppt. Keine E-Mails, keine Lesungen, kaum | |
Arbeit. Das war für mich die Zeit, um nachzudenken: Wie war dieses Jahr, | |
was habe ich getan, wie war die Arbeit, wie waren die Menschen um mich | |
herum? Krisen sind auch Zeiten, die einen zur Selbstreflexion bringen und | |
bereiter für Veränderungen machen. Das zeigt sich jetzt am Schulsystem. | |
Weil es gezwungenermaßen anders laufen muss? | |
Ja, es ist vorbei mit: Die Kinder kommen jeden Tag um acht Uhr und jemand | |
stellt sich vorne hin. Was jetzt? Ich bin im engen Austausch mit Eltern und | |
Lehrern und merke, es gibt eine große Überforderung beim Thema | |
Digitalisierung. Genau diese Überforderung jedoch ist die große Chance: Ab | |
sofort kann ein neuer Weg begangen werden. Das wünsche ich mir von dieser | |
Krise, dass es zu einem Umdenken kommt, nicht nur in den Schulen, sondern | |
auch in den Medien, der Gesellschaft und der Politik. | |
Das ist ein schöner Gedanke, dass so ein einmaliger Shutdown das möglich | |
macht, was unter normalen Bedingungen völlig undenkbar ist. | |
Für Sie mag das einmalig sein, ich habe das schon dreimal in meinem Leben | |
erlebt. | |
Dreimal? | |
Das erste Mal war ich noch ein Kind während des Libanon-Kriegs 1982. Das | |
zweite Mal war 1991, als Saddam Hussein Israel angegriffen hat und man | |
dachte, dass da auch Chemiewaffen kommen. Wir waren 40 Tage zu Hause und | |
trugen unsere Gasmasken. Das dritte Ereignis war kurz bevor ich nach | |
Deutschland kam, die zweite Intifada, als es jeden Tag Anschläge gab, als | |
man nirgendwo mehr hinkam, weil überall Angst und Checkpoints waren. | |
Für einen in der Bundesrepublik geborenen und lebenden Menschen ist die | |
Corona-Krise das erste Mal, dass es ihn direkt trifft. Sie haben Erfahrung | |
mit Shutdowns, wo erleben Sie die Unterschiede? | |
Es hat diesmal zu Konflikten mit meiner Frau geführt. Als Deutsche ist sie | |
anders an die Sache herangegangen, das ganze »Klopapier kaufen« war in | |
ihrem Denken gar nicht existent. Sie hat mich sogar ein wenig verspottet. | |
Auch in unserer Arbeit – wir leiten gemeinsam die MIND-Initiative, die wir | |
vor drei Jahren gegründet haben und mit der wir unsere Projekte in Schulen | |
und Gefängnissen durchführen – hat sie sich anfangs schwergetan, Termine | |
und Reisen für unser Team komplett abzusagen. Erst als es Mitte März sehr | |
deutlich war, es geht wirklich nicht mehr, konnte sie diese neue Realität | |
annehmen. Ich habe dagegen früh gemerkt, es geht gerade in eine Richtung, | |
auf die man sich vorbereiten muss. | |
Sie haben Vorräte angelegt und andere Vorbereitungen getroffen? | |
Ich bin intuitiv so vorgegangen, wie ich es damals bei meinen Eltern und | |
Großeltern erlebt habe: Kohle, Streichhölzer, Batterien kaufen, die Autos | |
volltanken. Grundsätzlich habe ich selbst Vertrauen in das System, dass wir | |
das auf jeden Fall schaffen werden. Ich habe aber gemerkt, dass die Ängste | |
eben gerade bei denen da sind, die das schon einmal erlebt haben, meistens | |
sogar über mehrere Jahre hinweg. Bei den Flüchtlingen werden jetzt Traumata | |
aktiviert. Wir sprechen über Ausgangssperren und Essensknappheit und | |
denken, das wird schon werden, aber bei den Kindern bringt das Erinnerungen | |
aus dem Krieg hervor, die nicht nur sie, sondern auch Erwachsene | |
überfordern. | |
Sie sollten in diesem Jahr bei der Naumann-Stiftung die jährliche Rede zu | |
Freiheit und Mündigkeit halten, die dann ausfiel. Darin sagen Sie, dass | |
jenseits von linksliberalem Multikulti, konservativer Leitkultur und | |
Religion der Verfassungspatriotismus Pflicht ist, um sich zu integrieren. | |
Das klingt toll, wie bei Habermas. Die Frage ist, wie viele in Deutschland | |
geborene Menschen überhaupt Verfassungspatrioten sind. Wie wird man | |
Verfassungspatriot? | |
Ich wehre mich gegen diese Vergleiche mit anderen Gruppen. Wenn wir uns | |
einen Flüchtling anschauen, wäre es der optimale Pfad der Integration, dass | |
jemand nach Deutschland kommt und sagt: »Wow, dieses Grundgesetz ist genau | |
das, was ich gesucht habe, eine riesige Chance für mich und meine Familie.« | |
Das ist wohl nicht der Normalfall. | |
Nein, normalerweise ist das nicht so, sondern es handelt sich um einen | |
Prozess, der mehrere Jahre dauert. Ich begleite solche Prozesse, helfe | |
dabei, Ängste abzubauen, versuche, die Probleme zu verstehen, die die | |
Menschen haben oder hier entwickeln, und überlege im nächsten Schritt: Wie | |
kann man diese Menschen zu Verfassungspatrioten machen? Wenn man dabei | |
bleibt, dass Integration nur Sprache plus Arbeit minus Kriminalität ist, | |
dann betrachten wir das emotionale Ankommen nicht und das schafft eine | |
emotionale Distanz zur Gesellschaft, zum »Wir« – und genau das schafft | |
viele Probleme. Wollen Sie eine Geschichte aus meinem persönlichen Umfeld? | |
Bitte. | |
Ich habe 2015 beim Einkaufen einen Familienvater kennengelernt, der mich | |
auf Englisch um Hilfe bat, weil ihn alles überforderte. Ich antwortete auf | |
Arabisch, sofort entstand eine Freundschaft. Am Anfang adressierte er die | |
essenziellen Fragen: »Werde ich Arbeit finden?«, »Werde ich Deutsch | |
lernen?«, »Wie finde ich eine Wohnung?« Jetzt, fünf Jahre später, ist er in | |
dieser Hinsicht angekommen. Seine Kinder gehen zur Schule, er und seine | |
Frau arbeiten. | |
Erstmal klingt das gut ... | |
Warten Sie ab. Ich treffe ihn jetzt und er beschäftigt sich mit anderen | |
Themen. Er fragt sich, was mit den Kindern passiert, die kulturell ganz | |
anders aufwachsen als er – neue Lieder, neue Gebräuche und neue Freunde. | |
Das überfordert ihn jetzt. Er hat das Gefühl, er kann seine Identität nicht | |
weitergeben. | |
Wie reagiert er darauf? | |
Aus dieser Angst heraus versucht er, die Wünsche der Kinder zu | |
unterdrücken. Sie sollen nicht zu deutschen Geburtstagen gehen, jeden Tag | |
beten, das Mädchen soll nicht in den Schwimmunterricht. Meine Analyse ist, | |
dass dieser Mann Angst vor dem liberalen Deutschland hat, vor allem vor | |
Themen wie Gleichberechtigung, Sexualität und Religionsfreiheit. Er sieht, | |
dass Religion kritisiert und sogar gewechselt werden kann. Die Pluralität | |
macht ihm Angst. Seine Antwort ist der emotionale Rückzug in eine | |
Parallelgesellschaft. | |
Und nun? | |
Das Thema der Integration müsste sein: Wie kann ich diesen Mann erreichen | |
und seine Ängste abbauen, sodass er emotional in Deutschland ankommen kann, | |
natürlich ohne seine Kultur aufzugeben? Dafür braucht es Begleitung. | |
Es begann vielversprechend bei ihm. Woher kommt der Wandel zum | |
Problematischen? | |
Es gibt Gruppen, in denen »Integration« ein Schimpfwort ist. Wenn ich unter | |
Syrern jemandem sage, »du bist integriert«, dann heißt das, ich lehne ihn | |
ab, denn er hat seine Identität aufgegeben. Er ist anders geworden. | |
Was bedeutet Verfassungspatriotismus genau? | |
Es geht nicht um die Sprache, um Oktoberfestkultur, Schweinefleisch essen | |
und abends das Feierabendbier trinken. Die Probleme liegen in den Werten | |
der Gleichberechtigung, Sexualität, Männlichkeit, Religionsfreiheit und in | |
den patriarchalischen Strukturen. Man kann nicht Verfassungspatriot sein | |
und patriarchalisch. Verfassungspatriotismus ist Mündigkeit, und dafür muss | |
man das abbauen, was dem Verfassungspatriotismus im Weg steht. Aber wenn | |
Menschen keine Chance haben, Deutsche kennenzulernen und zu verstehen, dann | |
suchen sie sich woanders ihre Gruppe, die ihnen Rückhalt gibt und die sie | |
in ihren Werten bestätigt. Die Menschen sind dann in Deutschland, aber sie | |
sind nicht hier angekommen. | |
Kann man Verfassungspatriot sein, ohne es zu wissen? | |
Ja. Das Wort werden die meisten nicht kennen. | |
Man muss nicht Habermas gelesen haben. | |
Nein. | |
Was bedeutet Corona im Kontext der Integration? | |
Die Flüchtlinge haben zu kleine Wohnungen, mehr Kinder und bringen Traumata | |
mit. Die Quarantäne aktiviert Erinnerungen. Sie sind dreifach belastet. Wie | |
alle anderen plus durch ihre Vorerfahrungen und drittens, dass sie nicht | |
alles verstehen, was gesagt wird. Öffentlich-rechtliche Medien geben sich | |
Mühe, Zugänge zu Informationen zu ermöglichen, aber die wenigsten der | |
Flüchtlinge konsumieren diese Medien. | |
Was sind die Folgen der dreifachen Krisenbelastung? | |
Ich kriege von Sozialarbeitern täglich Anrufe, die von verzweifelten | |
Kindern berichten, die bei ihnen anrufen und um Hilfe bitten wegen | |
gewalttätigen Vätern. Die Sozialarbeiter arbeiten gerade nur vom Telefon | |
aus. Das Jugendamt arbeitet nicht mehr. Das andere ist der Antisemitismus | |
und die vielen Verschwörungstheorien darüber, dass die Juden und Israel | |
hinter diesem Virus stecken. Nicht nur unter Muslimen wird davon geredet, | |
dass es einen Zionismus gibt, der die Welt einnehmen möchte, auch in den | |
USA sind solche Theorien verbreitet. Auch das ist angsteinflößend. | |
Was legt die Krise offen, was sowieso da ist, aber von der Politik | |
»umsurft« wird? | |
Die Krise legt unsere Eindimensionalität offen, unsere einfachen | |
Betrachtungsweisen. Die Krise ist vielleicht sogar ein Produkt davon, weil | |
die Menschen zu kurz gedacht und sich nicht ausreichend um die | |
Gesundheitssysteme gekümmert haben. Systemrelevanz muss neu austariert | |
werden, denn in dieser Krise sind Sozialarbeiter nicht als systemrelevant | |
gekennzeichnet, wobei sie das sonst sind. Dazu macht mir als mündiger und | |
auch solidarischer Mensch Angst, wie schnell wir bereit sind, unsere | |
Freiheiten aufzugeben. | |
Über die Integrationsfrage hinaus haben viele Menschen ein Problem mit | |
Mündigkeit. Das Abgeben von Verantwortung und Befolgen von Regeln oder | |
Peergroup-Normen ist einfacher, als sich der Anforderung der Mündigkeit zu | |
stellen. | |
Mündigkeit ist ein Luxusprodukt geworden. | |
Das müssen Sie ausführen. | |
Ich kann nicht mündig sein, wenn ich zur Unterschicht gehöre und täglich | |
dafür kämpfe, dass es etwas zu essen gibt. Ich kann nicht mündig sein, wenn | |
meine Schule mir Streitkultur und Hinterfragen von Dingen nie beigebracht | |
hat. Ich kann nicht mündig sein, wenn ich nicht verstanden habe, wie Medien | |
funktionieren. Ich brauche ein Selbstwertgefühl zum Hinterfragen und | |
Reflektieren. Das kann ich nur machen, wenn ich eine Erziehung genossen | |
habe, die bewusst in Richtung Individualität und Mündigkeit geht. Im Abitur | |
wird keine Mündigkeit geprüft, im Abitur wird Wissen geprüft. Solange das | |
so ist, haben wir ein Problem mit Mündigkeit. | |
In Bezug auf Ihre Geschichte oder meine persönliche waren die Chancen auf | |
Mündigkeit nicht besonders hoch. Mein Vater war das Gegenteil eines Mannes, | |
der gerne autonom denkende Kinder haben wollte. | |
Meiner auch. | |
Wieso gibt es in der gleichen Kultur beides: Die mit dem Bedürfnis nach | |
Unmündigkeit und Autorität und die mit dem Bedürfnis nach Mündigkeit? Wie | |
beurteilen Sie das als Psychologe? | |
Das hat mehrere Ebenen. Es gibt immer Menschen, die aus der Reihe tanzen | |
wollen. Es ist Teil ihrer Persönlichkeit. Dann sind die Fragen: Wurden | |
Krisen erlebt? Gruppenzwänge vorgelebt? Inwiefern hat der Vater | |
Selbstentfaltungsversuche unterdrückt? Und hat er sie zu 20 oder zu 80 | |
Prozent unterdrückt? Mein Vater wollte nie, dass ich mit dem Auto nach Tel | |
Aviv fahre, um feiern zu gehen. Aber die Autoschlüssel hat er jeden Abend | |
am gleichen Ort versteckt und ich habe sie jeden Abend gefunden. | |
Hat er es mit Absicht gemacht? | |
Ich glaube, unbewusst. Ich merke, dass vieles von dem, was ich mache, bei | |
ihm Sehnsüchte auslöst. Er wäre gerne auch so gewesen, aber er hatte keine | |
Chance dazu. Der eigene Weg ist davon abhängig, was man auf diesem Weg für | |
Menschen trifft. Wäre ich nach dem Abitur nach Jordanien gegangen, um dort | |
zu studieren, in einem autokratischen und sehr hierarchischen System, dann | |
wäre die Chance, dass ich heute mit Ihnen spreche, viel geringer. Tel Aviv, | |
wo ich stattdessen hinging, war deutlich westlicher geprägt. Es erhöhte die | |
Chance für mich, freier zu denken. Mündigkeit hängt von der Biografie und | |
Persönlichkeit ab. | |
Mit 13 Jahren haben Sie sich radikalisiert und sind Fundamentalist | |
geworden. Ist das die Gegenentwicklung zur Mündigkeit? | |
Absolut. Fundamentalismus geht von Hierarchien aus, die Sicherheit geben. | |
Das trifft im Islamismus und Rechtsextremismus zu. Wenn ich die Biografien | |
von den hunderten Menschen anschaue, die ich kenne und die in Richtung | |
Extremismus gegangen sind, dann merke ich, dass persönliche Krisen, zum | |
Beispiel eine fehlende oder eine sehr patriarchalische Vaterfigur, dazu | |
führen, dass Menschen Unmündigkeit attraktiv finden. Sie haben das | |
Bedürfnis, die Verantwortung abzugeben und einen einfachen Weg zu gehen. | |
Das war bei mir so. | |
Nämlich? | |
Ich wurde gemobbt, fühlte mich allein, ein Imam sprach mich an und lud mich | |
ein. Ich fand Freunde, Aufgaben, fühlte mich zugehörig zu einer Elite. Es | |
war genau, was ich brauchte. Damals habe ich nichts allein entschieden, | |
habe sogar den Imam gefragt, ob ich einem Mädchen aus meiner Klasse in die | |
Augen schauen darf. Es war die absolute Unmündigkeit. Heute rufen immer | |
noch Menschen von hier aus ihren Imam in einem anderen Land an und fragen, | |
ob sie ihren Nachbarn frohe Weihnachten wünschen dürfen. Das ist nicht | |
mündig. | |
Der Begriff Mündigkeit kommt ethnologisch wohl aus dem Mittelhochdeutschen, | |
wo Mund mit t geschrieben wird und der Sinn des Begriffs ist der Vormund, | |
der Schutz übernimmt für andere. Mündigkeit bedeutet, diesen Schutz für | |
sich selbst zu übernehmen. Das ist der Schlüssel: Wenn ich autonom bin, | |
kann ich für mich selbst Verantwortung übernehmen, mich schützen. Wenn ich | |
unmündig bin, ist die ganze Verantwortung abgegeben. | |
Ohne diese sprachliche Entwicklung genau zu kennen, habe ich aus meiner | |
Biografie gelernt: Mündigkeit heißt vor allem, gegen das Patriarchat zu | |
rebellieren. Es war die Rebellion gegen meinen Vater, die mir so viele | |
Türen öffnete. Eine Frau zu heiraten, die nicht aus meiner Kultur kommt, | |
ist für meine Familie ein »No-Go«, für mich aber ein Akt der Mündigkeit. | |
Genauso wie meine Entscheidung, mit Gott zu streiten. Warum wollen Syrer, | |
Iraker und Afrikaner nach Europa kommen? | |
Sagen Sie es. | |
Man kann das einfach beantworten: Bei ihnen herrscht Krieg und sie wollen | |
Sicherheit. Aber warum Europa? Mit Europa verbinden sie Freiheit, | |
Wohlstand, Sicherheit und Fortschritt. Jetzt ist die Frage: Warum gibt es | |
solche Werte hier und nicht auch woanders? Wenn man die Entwicklung in | |
Europa und woanders anschaut, dann merkt man, dass der Unterschied vor | |
allem die Aufklärung und Mündigkeit ist. Das ist eine Befreiung von der | |
Kirche, von patriarchalischen Strukturen, von sexueller Unterdrückung. Das | |
waren keine einfachen Prozesse, sicherlich nicht. In den Ländern vieler | |
Flüchtlinge und in dem Land, aus dem ich komme, haben diese Prozesse nie | |
stattgefunden. Diese Menschen kommen zu uns, wollen Freiheit, Wohlstand und | |
Sicherheit genießen. Das geht aber nicht, wenn man nicht auch Teile von dem | |
aufgibt, mit dem man hergekommen ist. Mündigkeit ist ein Gesamtpaket. | |
Aufklärung ist wichtig, aber wichtiger ist eine rechtsstaatliche Ordnung. | |
Das Grundgesetz ermöglicht, dass man sich, ohne je mit der Aufklärung in | |
Berührung gekommen zu sein, in deren Sinne verhalten kann. | |
Das Problem des Arabischen Frühlings war, dass die Emanzipation zum Chaos | |
geführt hat. Menschen geben sich zufrieden mit der Unterdrückung, weil die | |
Alternative Chaos ist. Die Menschen, die ihre Frauen umbringen, um eine | |
Ehre zu retten, sind absolut unmündig, weil sie das tun, was das Kollektiv | |
von ihnen erwartet. Sie nehmen Rechtsstaatlichkeit nicht ernst. Ihre | |
Unmündigkeit ist stärker als der Rechtsstaat. In Deutschland gibt es das | |
auch. Menschen leben in Kollektiven, deren Einfluss stärker auf sie ist als | |
der des Rechtsstaates. | |
Das Ernstnehmen des Grundgesetzes nennen Sie die Bringschuld der Migranten, | |
richtig? | |
Genau. Wir haben Probleme mit Menschen, die seit drei Generationen hier | |
leben und auf der Straße sagen: »Erdogan ist mein Präsident« – sie erkenn… | |
weder Merkel noch Steinmeier an. Das geht nicht. | |
In einer Zeitung stand, dass Sie Ihren Müll nicht trennen wollen. Ist das | |
unmündig oder mündig? | |
Ich habe im Berliner Stadtteil Schöneberg gewohnt, und da gab es bis vor | |
zwei Jahren nur zwei Tonnen. Kartons und Normal. Ich sehe es als eine Art | |
von Mündigkeit zu sagen: Ich mache da nicht mit. Dann muss man aber die | |
Konsequenzen tragen. Auch Spazierengehen mochte ich sehr lange nicht. Aber | |
seit Corona weiß ich das zu schätzen. | |
Interview: [1][PETER UNFRIED] und [2][HARALD WELZER] | |
2 Jul 2020 | |
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