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# taz.de -- Jörg Fausers 25. Todestag: Literat der Loser
> Der Kult-Autor Jörg Fauser begann im Istanbuler Drogenmilieu seinen
> ersten Roman zu schreiben. Eine Spurensuche an seinem einstigem Wohnort.
Bild: Die Blaue Moschee liegt unweit von Jörg Fausers damaligem Hotel im Istan…
Istanbul, Juli 2012. Eine schwüle Hitze hängt über der Stadt, sie kriecht
in jede noch so kleine Ritze, ihr zu entkommen, ist unmöglich. 34° C zeigt
das Thermometer, in dieser Stadt, in der der Schriftsteller Jörg Fauser ein
Jahr verbrachte – ein erlebnisreiches Jahr, das sich in vielen seiner
späteren Werke wiederfindet.
„In Istanbul lebte ich meistens im Stadtteil Cagaloglu, etwas oberhalb der
blauen Moschee.“ Das ist der erste Satz in Jörg Fausers Roman „Rohstoff“.
Er beginnt in den späten sechziger Jahren. In Europa fangen die Studenten
an, Revolution zu machen, und Harry Gelb, der Protagonist, hat seinen
Zivildienst abgebrochen und sich nach Istanbul abgesetzt. Harry Gelb ist
Fausers Alter Ego, „Rohstoff“ ein stark autobiografisch geprägter Roman.
Auch Fauser ließ Deutschland und die Zivistelle im Bethanien-Krankenhaus in
Heidelberg weit hinter sich. Dort hatte er sich am Medizinschrank bedient
und war drogenabhängig geworden. Er flüchtete an den Bosporus. Um zu
schreiben – und um eine ganze Menge Drogen zu nehmen. „Das Hotel war ein
fünfstöckiger Altbau in einer Seitenstraße“, erzählt Gelb weiter. „Dane…
lag eine Schule, und morgens traten die Schulklassen auf dem Hof an und
sangen die Nationalhymne. Die türkische Nationalhymne ist recht lang, und
wie die Hymne glich auch Istanbul einer Collage, deren Schnittlinien im
Unendlichen verlaufen.“
In Cagaloglu ist die Hölle los. Der Stadtteil gehört zu Sultanahmet, so
wird die Ecke hier genannt, es ist der historische Kern Istanbuls – mit der
Blauen Moschee, der Hagia Sophia und dem Sultanspalast. Die Türken sind gut
vorbereitet auf die Massen an Touristen, die hier in den vielen Hotels
abgestiegen sind oder im Abstand von fünf Minuten aus der überfüllten
Straßenbahn ausgespuckt werden. Alle zwei Meter will jemand etwas
verkaufen: Sonnenbrillen, Handytaschen, Plastikvögel, Uhren, schlecht
kopiertes Parfüm, folkloristischen Türkeisouvenirkram, sogar Teppiche. Wer
nicht im Straßenverkäuferbusiness ist, versucht, die Leute in die
Restaurants zu ziehen. „My friend, come here, we have delicious food.“
## Notizhefte mit Wachstuchumschlag
„Ich schrieb. Die Türken verkauften sehr solid gemachte Notizhefte mit
Wachstuchumschlag in allen denkbaren Formaten, und ich entdeckte die
Vorzüge des Rapidographen – der feine Strich, verbunden mit der Haltbarkeit
und Klasse von echter Tinte.“ Noch immer ist Cagaloglu der Ort, an dem man
Schreibwaren kauft. Die Läden abzuklappern, stellt sich als naive Idee
heraus. Kaum ein Verkäufer ist so alt, dass er Fauser Wachstuchkladden
hätte verkaufen können, und von den wenigen, die schon seit einer Ewigkeit
hier arbeiten, kann sich keiner an den abgemagerten, drogenabhängigen
jungen Mann erinnern, der hier einkaufte. Also suche ich: ein Hotel, eine
Schule nebenan, etwas oberhalb der Blauen Moschee. Das sollte sich doch
finden lassen!
In einer Seitenstraße stoße ich auf die erste Schule. Direkt nebenan zwei
Hotels, die Beschreibung passt. Die Frau an der Rezeption ist Mitte
dreißig, doch nein, das Hotel existiert erst seit Mitte der Siebziger. Sie
fragt den älteren Kollegen, der empfiehlt, drei Straßen weiter zu gehen, da
stehe ein sehr altes Hotel. Aber: keine Schule. Auf niedrigen Hockern
sitzen fünf alte Männer vor einem Teehaus und schauen neugierig zu. Ich
frage sie, sie schütteln ihre Köpfe, nein, hier war nie eine Schule. Und
das Hotel? Vielleicht zwanzig Jahre alt.
Es ist überall das Gleiche, in jeder Gasse: die Menschen in den Hotels sind
überaus hilfsbereit und freundlich, fragen Bekannte, holen Kollegen, wollen
jedes Detail wissen – und doch habe ich das Hotel nach mehr als drei Tagen
Suche noch immer nicht gefunden. „Istanbul hat sich sehr verändert im Laufe
der Zeit“, sagt Emre aus dem Ayasultan Hotel. Es klingt fast
entschuldigend.
## Erste Schreibversuche unter Drogen
Auch in Tophane erinnert nichts an das düstere Viertel aus „Rohstoff“. Hier
kaufte Fauser seine Drogen. „Pro Quadratmeter lebten dort wahrscheinlich so
viele Opiatsüchtige wie in Harlem oder Hongkong. Es hieß, dass es in
Tophane nicht ungefährlich sei, und tatsächlich sah man auch manchmal einen
Toten herumliegen, aber mir ist nie etwas Ärgeres passiert, als dass ich
beim Einkaufen übers Ohr gehauen wurde.“
Heute: keine Spur davon. Ein Wohnviertel mit Gemüseläden, Hunden und
Katzen, die auf der Straße leben und von den Anwohnern gefüttert werden. Es
ist dreckiger und rauer als in Sultanahmet, doch in den sich langsam den
Hang in Richtung Galata-Turm hinaufschlängelnden Gassen liegen keine Toten.
Mittlerweile haben sich mehrere kleine Kunstgalerien angesiedelt.
Schon als Jörg Fauser in den späten sechziger Jahren in Istanbul abhängt
und Drogen nimmt, ist ihm eins klar: Er will Schriftsteller werden. Er muss
es. Und ihm ist genauso klar, dass die Schreiberei Arbeit ist, ein Geschäft
wie jedes andere auch. „Writing is my business“, hat er später einmal
gesagt. Im Rausch schreibt er die Wachstuchkladden voll, es soll sein
erster Roman werden, der Protagonist: ein Zivildienstleistender in einer
Nervenklinik. Schon hier zeigt sich: Fauser beobachtet seine Zeit an seinem
eigenen Beispiel. Und auch später sind es oft die eigenen Erlebnisse, die
er in seinen Texten verarbeitet.
Sein literarisches Interesse gilt den Menschen am Rande der Gesellschaft,
den Losern, den Gebrochenen, den Perspektivlosen. Er kennt das Milieu, er
weiß, wie es auf der Straße läuft. Seine große Gabe ist, klar,
schnörkellos, messerscharf und bissig zu beschreiben – durch die Augen
eines Dazwischenstehenden, er schaut die Gesellschaft von innen an, aber
auf eine gewisse Art und Weise auch von außen.
## Abgeschoben und der eigenen Schriften beraubt
Als die Türkei anfing, härter gegen Drogenkonsum vorzugehen, wird auch
Fauser mit Heroin erwischt. Das war es für ihn am Bosporus, er wird
abgeschoben. Dem kalten Entzug, der bei der Inhaftierung und beim Transport
zur Grenze zwangsläufig auf ihn wartet, begegnet er journalistisch: Er
versucht, sich in die Beobachterposition zu versetzen, um sich von den
eigenen Qualen abzulenken.
Doch viel schlimmer noch die Tatsache: Er musste die Wachstuchkladden
zurücklassen. Der auf Drogen angefangene erste Roman ist fort. In
„Rohstoff“ lässt Fauser Harry Gelb immer wieder sehnsuchtsvoll an Istanbul
denken. Irgendwann müsse er zurück, die Kladden abholen. Abgesehen von den
Kladden scheint nicht viel von Fauser übrig geblieben zu sein in dieser
Stadt.
17 Jul 2012
## AUTOREN
Benjamin Weber
## TAGS
Jörg Fauser
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