# taz.de -- Die DDR als Aufreißschuppen | |
> NICHTMITMACHEN Vom Zerfall der Einheit: Mit dem Jahreswechsel 89/90 | |
> verändert Peter Richters Wenderoman überraschend Ton und Gangart | |
VON MORITZ BASSLER | |
Dick prangt die historische Ziffernfolge „89/90“ auf dem Umschlag. | |
Unübersehbar will dies ein gewichtiger Wenderoman sein. Und tatsächlich | |
erzählt der autornahe Ich-Erzähler, Jahrgang 1973, seine Dresdner Jugend | |
opulent, detailreich und mit dem Anspruch fußnotenunterfütterter | |
Zeitzeugenschaft, gern auch in der ersten Person Plural. „Wir waren in | |
einer Phase der Unschuld, die wir natürlich für das Gegenteil hielten.“ | |
Da kommt dann bei Peter Richter überwiegend das Erwartbare: das Freibad, | |
die Schule, die Freundschaft, die willigen, stets nach dem Grad ihrer | |
Hübschheit charakterisierten Mädchen, die evangelische Kirche als | |
„Aufreißschuppen“ („die Kirchenmäuse ohne BH“), Westkontakte, aber au… | |
DDR-typischen Stressfaktoren vom ABV über Stasi-Gerüchte bis zur | |
NVA-Anwerbung. Popmusik aller Art, von Ostpunk bis Westcharts, dient als | |
historischer Marker. | |
## Etwas Legitimatorisches | |
Das hat man alles schon besser gelesen, von Thomas Brussigs „Sonnenallee“ | |
über Clemens Meyers „Als wir träumten“ bis Jochen Schmidts | |
„Schneckenmühle“, wenn vielleicht auch selten in dieser enzyklopädischen | |
Ausführlichkeit. Wobei man selbst bei den Fußnoten, die so Dinge wie Nuth, | |
FDJ-GOL und Petra Felke erklären (oder dass man Konsum auf der ersten und | |
Dynamo auf der zweiten Silbe betont), noch das Gefühl hat, sie dienten im | |
Grunde mehr der ostalgischen Selbstverständigung als der Information. Wer | |
so etwas noch einmal lesen möchte, wird hier bestens bedient. Der Literatur | |
eröffnet es keine neuen Horizonte. | |
Was aber das Historische angeht, so droht diese Erzählhaltung, womöglich | |
wider Willen, die in diversen Walser-Debatten eingeübte Trennung von | |
Erinnerung und Gedächtnis wieder einzuebnen und bekommt dadurch unter der | |
Ironieschicht stellenweise etwas unangenehm Legitimatorisches. Man gewinnt | |
den Eindruck, dass in der DDR im Grunde alle irgendwie dagegen waren: | |
„Einen wirklich ernst zu nehmenden Befürworter des Systems hatte ich bis | |
dahin schlicht und einfach noch nicht getroffen“, berichtet beispielsweise | |
der Erzähler. | |
So eine Befürworterin des Systems wird dann – Kunstgriff! – ausgerechnet | |
seine Auserwählte L. sein, aus deren etwas altkluger Sicht sich die | |
staatstragende Doktrin gar nicht mehr so dumm anhört, etwa wenn sie fragt, | |
ob nicht das Nichtmitmachen „selber schon wieder eine Massenbewegung war“. | |
Im Wehrlager geht ihm folglich das „prinzipielle Dagegenseinmüssen | |
tatsächlich fast schon genauso auf den Wecker wie die Sache selber“. Und am | |
meisten Angst bei den Demos hatten, wie sich im Nachhinein herausstellt, | |
natürlich die Polizisten. So viel zur Phase der Unschuld. | |
Mit dem Jahreswechsel 89/90 verändert der Text dann jedoch überraschend Ton | |
und Gangart. Die Freibad- und Demo-Jugend ist jetzt in Neonazis und Linke | |
gespalten, Dresden in die sichere Neustadt und die No-go-Zonen des | |
Plattenbaus, der Stärkere verpasst dem situativ jeweils Schwächeren einen | |
mit Baseballschläger und Doc Martens – erst jetzt wird das im Wehrlager | |
gelernte Über-die-Mauer-Machen leitmotivisch. | |
Erzählt wird in dieser zweiten Romanhälfte, in mit „oder“ verbundenen | |
Absätzen, ein Panorama exemplarischer Gewalt. So sieht es also aus, „das | |
große A der Anarchie“, das man zuvor unschuldig-rebellisch „auf Schulbänke | |
und Lederjacken gemalt hatte“. Natürlich sind die Linken („wir“) irgendw… | |
im Recht, weil sie die taz lesen und keine Fidschis klatschen, ansonsten | |
verschwimmen die Unterschiede: Gasmasken, Nazioutfits, Dynamo, Ska, später | |
Techno – leider geil, ästhetisch gesehen. Drogen und Prostitution blühen. | |
Und die ältere Generation der Eltern, Lehrer sowie der „Schimmeljeans“ und | |
Schnauzer tragenden Normalos kriegt nichts mehr mit. | |
89/90 als Zerfall der Einheit, Ende der Unschuld, Vertreibung aus dem | |
Paradies – so finster und intensiv das erzählt ist, auch in seinem | |
Nachwendeteil setzt der Roman ganz auf Erinnerung und beschränkt sich so | |
historisch wie literarisch selbst. Auch bleiben Restzweifel: Öfter zuckt | |
das erzählende Ich vor der Gewaltbereitschaft des erlebenden zurück; und | |
wie sich dessen anarchische Persona überhaupt mit der Nebenrolle als | |
Hochkultur rezipierendes Ärztekind verträgt, bleibt ein blinder Fleck. | |
## Anekdotischer Realismus | |
Richters anekdotischer Realismus dringt, trotz Zeitzeugenschaft und | |
enzyklopädischer Vollständigkeit, nicht zu einer Qualität vor, die zum | |
historischen Gedächtnis taugen könnte. Politische oder gesellschaftliche | |
Erklärungen für die geschilderten Zustände ergeben sich nirgends. | |
So stehen wir am Ende vor einem unbewältigten Komplex, dessen Extension | |
unklar bleibt: die DDR, die Ex-DDR, Dresden oder doch nur Richters Jugend? | |
In der Pegida-Reportage „Schlund“, die sich auf der Homepage von Peter | |
Richter findet, der als Journalist arbeitet, sind die Parallelen | |
offensichtlich: „Man ist sich sofort wieder im Klaren“, wenn man die | |
Fleischnacken sieht, „floh hier einst und wird wieder fliehen.“ | |
■ Peter Richter: „89/90“. Luchterhand Verlag, München 2015, 416 Seiten, | |
19,99 Euro | |
23 May 2015 | |
## AUTOREN | |
MORITZ BASSLER | |
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