# taz.de -- Eine irre gute Idee: Tel Aviv | |
Vor fast einhundert Jahren kamen einige Juden in Palästina auf die Idee, | |
eine neue Stadt am Meer zu gründen – und seit 75 Jahren spricht man dort | |
auch Deutsch: Für die „Jeckes“, vor den Nazis geflüchtete deutsche Juden, | |
war es ein schwieriger Neubeginn in der weißen Stadt. Doch heute werden sie | |
für ihre Aufbauarbeit verehrt. Ein Besuch bei den letzten Überlebenden | |
VON KLAUS HILLENBRAND | |
Zum langen weißen Strand geht Viola Virshubski in ein paar Minuten. Sie | |
liebt das Leben dort, den Trubel, die Restaurants. Aber auch die Geschäfte | |
sind nicht weit von der Wohnung der 76-Jährigen und ihres Mannes Mordechai | |
entfernt. Einmal um die Ecke, und sie steht auf der Ben Yehuda, dieser ewig | |
langen Straße, die Tel Aviv von Süden nach Norden durchschneidet. Die Ben | |
Yehuda: das war früher einmal das Zentrum der deutschen Einwanderer. In den | |
Läden und Cafés hatte es die hebräische Sprache schwer, denn die Deutschen | |
– Jeckes genannt – sprachen untereinander lieber Deutsch. | |
„Tel Aviv war immer lebenslustig“, sagt die gebürtige Berlinerin. „Es war | |
fantastisch. Es gab Theater, Konzerte, Bars, Kaffeehäuser, die Hotels am | |
Strand. Früher gab es sogar ein Kasino. Wir haben uns wunderbar amüsiert.“ | |
Sie und ihre Eltern flüchten 1934 aus dem nationalsozialistischen Berlin, | |
aber kein Land will die Familie aufnehmen. Sie finden vorläufige Aufnahme | |
in Barcelona, wo die Republikaner die faschistischen Franquisten aus der | |
Stadt gejagt haben. Erst knapp zwei Jahre später erreichen sie mit einem | |
Touristenvisum Palästina – die neue Heimat. Die Familie zieht nach Tel | |
Aviv. In die weiße Stadt, den Melting Pot der Kulturen. Inklusive eines | |
kleinen Stückchens Deutschland an der Ben-Yehuda-Straße. | |
Viola Virshubski sagt: „Seitdem wohne ich an der Ben Yehuda. Ich könnte | |
nirgendwo anders leben als hier. Ich muss hier sein.“ Andere alte Menschen | |
mögen die Ruhe bevorzugen und das Grün weiter Landschaften. Frau Virshubski | |
nicht. So wie die meisten Tel Aviver. Sie lieben ihre Stadt. | |
Von 1933 an sind die deutschen Juden auf der Flucht vor den Nazis. Doch | |
kaum ein Land will sie aufnehmen. Nur die wenigsten haben sich bisher für | |
Palästina und das große zionistische Projekt eines jüdischen Lands | |
interessiert. Jetzt wird Tel Aviv für viele zur Rettung. | |
Eine flache Küste, braun und sonnenverbrannt: Der Dampfer verringert sein | |
Tempo. Zuletzt laufen die Schrauben rückwärts, um die Fahrt zu stoppen. | |
Draußen, weit weg an Land, sieht man Häuser und Menschen. Die Aufregung | |
unter den Passagieren an Bord nimmt überhand. Gestapeltes Gepäck wird von | |
drängelnden Menschen umgeworfen. Sie wollen an die Reling, um einen ersten | |
Blick auf das fremde Land zu erhaschen, sie sind nach der tagelangen | |
Seereise endlich dort angekommen, wo für sie ein neues Leben beginnen soll: | |
fern der Heimat Deutschland, deren Machthaber sie anfangs schikaniert und | |
am Ende mit dem Tode bedroht haben, weg von Freunden und Verwandten, die in | |
aller Herren Länder verzweifelt ein Exil suchen, getrennt von den Straßen | |
und Häusern der Kindheit. | |
Sie haben Palästina erreicht. | |
„Das Schiff konnte nicht in den Hafen von Tel Aviv einfahren“, erinnert | |
sich Lotte Norbert an ihre Ankunft im Februar 1939. Die junge Frau ist mit | |
einer Gruppe Jugendlicher unterwegs, ohne die Eltern „Wir wurden mit | |
kleinen Booten hereingebracht. Der erste Mensch, mit dem ich sprach, war | |
ein Polizist in einer blauen Uniform. Es war ein jüdischer Polizist! Er | |
fragte mich, wer wir seien und woher wir kämen.“ Wir erhielten alle ein | |
Spritze gegen Typhus. Dann kam ein Lehrer, der uns zu einem Autobus | |
brachte, der nach Tel Aviv fuhr. | |
Der Berliner Hans Landau erreicht Palästina im Jahr 1933 als Elfjähriger | |
mit seinen Eltern. Der Vater besaß in der Reichshauptstadt eine | |
zahnärztliche Praxis. „Wir kamen im arabischen Jaffa an“, berichtet er. | |
„Das Schiff stoppte weit draußen vor dem Hafen. Unten warteten kleine | |
Boote, die uns an Land bringen sollten. Wir mussten das Fallreep herunter | |
vom Schiff steigen. Durch den starken Wellengang hob und senkte sich der | |
Abstand zu den Booten um eineinhalb Meter. Wir mussten springen. Die | |
arabischen Bootsleute fingen uns auf – kein angenehmes Erlebnis. Sie | |
brachten uns zum Hafen von Jaffa. Da regierten die Briten mit ihren | |
arabischen und jüdischen Polizisten und Zöllnern. Von dort brachte uns eine | |
Kutsche ins nahe Tel Aviv.“ | |
Die ersten Eindrücke von der unbekannten Stadt am Meer sind für die | |
deutsch-jüdischen Neueinwanderer widersprüchlich. Tel Aviv hat damals schon | |
mehr als 100.000 Einwohner, ausschließlich Juden, und ist noch nicht einmal | |
dreißig Jahre alt. | |
Eugenie Afuri Ajad war 1935 in Berlin beim Verteilen antifaschistischer | |
Flugblätter von der Gestapo verhaftet worden. Sie kommt mit viel Glück | |
wieder frei, und über Breslau und Triest wird ihre klandestine Ausreise | |
organisiert. „Tel Aviv war für mich schon damals ein Wunder“, sagt die | |
heute 93-jährige Dame: „Dass es so etwas überhaupt gab: eine Stadt der | |
Juden! Obwohl damals viele Straßen noch gar nicht gepflastert waren. Die | |
ganze Atmosphäre war für mich als Berlinerin sehr eigenartig. Ich habe mich | |
nicht nicht heimisch gefühlt. Anfangs war ich sehr unglücklich.“ | |
Lotte Norbert steigt im selben Jahr mit ihrer zionistischen Jugendgruppe am | |
Hafen in den Bus in die Stadt: „Der Bus fuhr die ganze Dizengoffstraße im | |
Zentrum bis zum Busbahnhof entlang. Der einheimische Lehrer sagte: „Schaut, | |
das ist die jüdische Stadt! Was sagt ihr dazu?“ Er war unglaublich stolz | |
auf Tel Aviv. Ich habe mich im Autobus umgeschaut. Der Boden war voll von | |
Nussschalen, und ich sagte ihm: „So einen schmutzigen Bus habe ich noch nie | |
gesehen.“ Da war er schwer beleidigt. Ich kam doch aus München, da war der | |
Unterschied zu Tel Aviv sehr groß. Es war schon städtisch hier – aber doch | |
unglaublich schmutzig.“ | |
Die Gespräche mit Lotte Norbert, Eugenie Afuri Ajad, Hans Landau und | |
weiteren älteren Damen und Herren finden wie selbstverständlich auf Deutsch | |
statt. Das Altersheim Pinach Rosen steht an einer Seitenstraße des Tel | |
Aviver Vororts Ramat Gan. Das flache Gebäude ist erst kürzlich mit Mitteln | |
der Jewish Claims Conference renoviert worden. Die Claims Conference | |
fungiert weltweit als Erbe von jüdischem Vermögen, für das sich infolge des | |
Holocaust keine natürlichen Erben mehr auffinden lassen. Sechs Millionen | |
europäischer Juden wurden Opfer der Nazis. Sie, die nicht rechtzeitig | |
Europa verlassen konnten, wurden erschlagen, erschossen und vergast. Etwa | |
60.000 deutsche Juden konnten sich damals mit der fünften Alijah | |
(Einwanderungswelle) ins britisch regierte Palästina retten – ihre neue | |
Heimat. Die meisten von ihnen waren jung, und viele ließen ihre Familie in | |
Deutschland zurück, die sie nie wiedersahen. Die Neueinwanderer aber zog es | |
in die Städte: nach Jerusalem, Haifa und, zuallererst, nach Tel Aviv. | |
Heute stehen die Neueinwanderer von damals im achten, neunten oder zehnten | |
Lebensjahrzehnt. An der Rezeption des Altersheims sind die Wochenangebote | |
für die Bewohner angeschlagen: Turnen, Malstunde, eine Singgruppe, | |
Musikprogramme, Keramikkurse. Alles auf Deutsch. Die Bewohner von Pinchas | |
Rosen sind keine Deutschen, sondern Israelis und sprechen natürlich auch | |
Hebräisch. Sie haben sich schon vor Jahrzehnten in ihrem Land eingelebt, | |
manche machten große Karriere, andere schlugen sich mit den | |
unterschiedlichsten Jobs durch, wieder andere kümmerten sich um Kinder und | |
Familie. Aber Deutsch ist ihre Muttersprache geblieben, die Sprache, die | |
sie als Kinder und Jugendliche gelernt haben. Sie möchten dabei bleiben. | |
Auf Kanal 36 läuft RTL: Günther Jauchs „Wer wird Millionär?“ dürfte unt… | |
den ehemaligen deutschen Israelis Quoten erreichen, von denen der Sender in | |
der Heimat nur träumen kann. Die Alten in Tel Aviv wundern sich, wie | |
dürftig die Allgemeinbildung unter den jungen deutschen Kandidaten geworden | |
ist. | |
Die „Vereinigung der Israelis mitteleuropäischer Herkunft“, Trägerin des | |
Heims Pinchas Rosen, hat zum Kaffee gedeckt, mit Kuchen, Säften, | |
Filterkaffee und einer blütenweißen Decke auf dem großen Tisch. Die | |
Direktorin Devorah Haberfeld, klein, drahtig, feuerrote kurze Haare, ist | |
mitgekommen, um zu hören, was die Damen und Herren von der Vergangenheit | |
erzählen. Sie gehört als Kind ursprünglich Wiener Juden schon der zweiten | |
Generation der Jeckes an. Jeckes? So nennen sich die früheren deutschen | |
Juden selbst. So wurden sie bei ihrer Ankunft von den alteingesessenen | |
Juden meist osteuropäischer Herkunft kollektiv getauft. Anfangs war es ein | |
Schimpfwort. „Kommen Sie aus Deutschland oder aus Überzeugung?“, lautete | |
einer der zynischen Witze über sie, denen man vorwarf, es mangele ihnen an | |
zionistischer Gesinnung. Sie waren ja „nur“ Flüchtlinge. Heute ist der | |
Begriff „Jecke“ in Israel ein Ehrentitel und steht für Fleiß und | |
Pünktlichkeit – deutsche Tugenden eben. | |
Wie war das, als die Jeckes damals ankamen in der neuen, auf Sand gebauten | |
Stadt? Und wie ist es dazu gekommen, dass Tel Aviv heute diese große, vor | |
Lebenslust berstende Stadt geworden ist, mit gewaltigen Bürotürmen und | |
schattigen Boulevards, Discos und Philharmonikern, Shopping-Malls und den | |
letzten kleinen Kramläden ostjüdischer Prägung in den Seitenstraßen der Ben | |
Yehuda? | |
Im nächsten Jahr wird Tel Aviv einhundert Jahre alt. Der Staat Israel | |
begeht am 8. Mai 2008 seinen sechzigsten Geburtstag. Die „Vereinigung der | |
Israelis mitteleuropäischer Herkunft“, Verband der deutschsprachigen | |
Immigranten, wurde 2007 fünfundsiebzig. Diese drei Daten haben mehr | |
miteinander zu tun, als es auf den ersten Blick scheinen mag. | |
Im Hafen von Tel Aviv, in dem Lotte Norbert vor neunundsechzig Jahren an | |
Land ging, kommen schon lange keine Schiffe mehr an. Gerade erst erbaut, | |
wurde er schon bald zu klein. Die Häfen von Haifa im Norden und Aschdod im | |
Süden liefen ihm den Rang ab, die Anlage wurde geschlossen und verfiel. | |
Jetzt ist sie wieder geöffnet. Statt Zöllnern gibt es Kellner, Magazine | |
sind zu Designergeschäften mutiert, und am ehemaligen Hafenbecken reiht | |
sich Restaurant an Nachtclub und Café. Die Passagiere von heute sind die | |
Nachtschwärmer von Tel Aviv, jung oder schon etwas älter. Pärchen, Gruppen | |
und ganze Familien promenieren. Am Freitagabend, wenn im religiös geprägten | |
Jerusalem zum Beginn des Sabbats die Bürgersteige hochgeklappt werden, | |
birst die riesige Diskothek vor sich drängenden Menschen, die neuesten Hits | |
werden aufgelegt, die Luft ist zum Schneiden, die Menge stampft mitgerissen | |
im Takt der Musik. Nicht nur hier. Rund um die Sheinkinstraße weiter | |
südlich reiht sich Bar an Bar. Junge Leute wie Yoav Schrerd, dem das | |
„Weinstock“ gehört, zählen zu den risikobereiten Gründern der | |
Etablissements, die auf ein vergnügungssüchtiges Publikum setzen können, | |
das viel Musik, aber wenig Alkohol konsumieren will. Diese Stadt ist | |
profan. | |
Heutzutage ist Tel Aviv weit über das kleine Israel hinaus berühmt für | |
seine Nachtszene, für die Schwulenkultur, die Strandbars, die Offkunst mit | |
den Galerien, für Experimente. Die Wahrheit ist: So viel hat sich nicht | |
verändert. | |
Viele Restaurants und Kaffeehäuser sind in den Dreißigerjahren von Jeckes | |
gegründet worden. Sie mochten sich den orientalisch-ostjüdischen Sitten | |
nicht so einfach anpassen, vermissten den gewohnten Stammplatz im Café, das | |
Essen im Restaurant. Man verlangt nach Kaffee mit Sahne statt Tee mit | |
Zitrone, bevorzugt Tischtücher aus Leinen statt solcher aus Papier. „Balsam | |
Eis Café jetzt nur noch in Erez Israel, Allenby Straße 37“ heißt es in | |
einer Zeitungsanzeige von 1936. „Wiener Abend im Café City. Dienstag, 27. | |
November 1934, Neun Uhr, Jazz- und Schrammelmusik, künstlerisches Programm, | |
Tombola, Überraschungen“, lautet der Text einer anderen. Anni Mainz | |
schreibt in ihrem 1935 erschienenen Büchlein über Tel Aviv: „Wer hat noch | |
nicht von jener Straßenkreuzung gehört, die vom deutschen Teil der fünften | |
Alijah Potsdamer Platz genannt wird. Gegen Abend ist es hier beinah so | |
turbulent – mit dem Geflitz der gleichen Streifentaxis – wie das Berliner | |
Vorbild.“ Das war wohl ein wenig übertrieben. | |
Die Schauspielerin Orna Porat erreicht kurz nach dem Zweiten Weltkrieg Tel | |
Aviv. Sie berichtet: „Man hat mich mit offenen Armen aufgenommen. Ich habe | |
natürlich als Erstes Hebräisch gelernt, damit ich wieder auf die Bühne | |
kommen konnte. Nach einem Jahr bekam ich mein erstes Engagement im | |
Kammertheater. Es war ein großer Erfolg. Damals gab es schon die Habima, | |
das Nationaltheater, das Theater der Gewerkschaften und das Kammertheater.“ | |
Anders als viele deutschsprachigen Einwanderer sucht Porat, heute eine der | |
bekanntesten Persönlichkeiten Israels, keinen Kontakt zu den Jeckes. „Ich | |
gehörte nicht dazu“, meint sie. Sie hat sich sehr schnell integriert. Doch | |
ihren kölschen Dialekt hat sie bis heute behalten. | |
Nicht allen sittenstrengen Besuchern hat die Tel Aviver Lebensart gefallen. | |
Alfred Wiener, deutscher Jude aus Berlin, schreibt nach einem Besuch schon | |
1927: „Übrigens fehlen auch die üblichen und üblen Begleiterscheinungen der | |
größeren Stadt nicht. Tel Aviv hat eine geheime Prostitution und sogar zwei | |
Animierkneipen.“ Und Wiener mokiert sich: „Die straffe Zucht und Ordnung, | |
die im Orient ganz besonders notwendig sind, fehlen.“ Eine etwas andere | |
Ansicht vertritt da David Ben Gurion, einer der Gründungsväter Israels. Auf | |
die Frage, wann die zionistische Bewegung ihr Ziel erreicht haben wird, | |
antwortete er vor mehr als siebzig Jahren: „Wenn jüdische Polizisten eine | |
Nacht damit verbringen, jüdische Prostituierte in einer jüdischen Stadt zu | |
verhaften.“ | |
Geplant war Tel Aviv freilich einmal ganz anders. Die Geschichte der ersten | |
jüdischen Stadt der Neuzeit begann gleich nebenan, im arabischen Jaffa, | |
einer der ältesten Städte der Welt. Jaffa war von alters her der einzige | |
Hafen Palästinas. Hier erreichten die christlichen Pilger mit ihren | |
Segelschiffen aus Europa das Gelobte Land, aber auch diejenigen älteren | |
Juden, die sich im 19. Jahrhundert dazu entschlossen hatten, ihre letzten | |
Lebensjahre in der Heiligen Stadt Jerusalem zu verbringen. Ab 1880 nahm die | |
jüdische Einwanderung ins türkisch regierte Palästina zu, und es waren | |
nicht länger nur Fromme, die ins Land kamen. Kaufleute zog es automatisch | |
in das Handelszentrum Jaffa, hinzu kamen alteingesessene Juden aus Gaza. | |
Freilich war Jaffa eng und altertümlich gebaut. Sanitäre Einrichtungen | |
fehlten ganz, und das Abwasser floss über den Rinnstein ins Meer. Was heute | |
mit freundlich renovierten Gebäuden und hellen Innenhöfen pittoresk | |
erscheint, entsprach damals in weiten Teilen einer stinkenden Kloake. | |
Arthur Ruppin, erster Leiter des zionistischen Palästina-Amts, erinnert | |
sich an das Jaffa von 1908: „Die Straßen waren ungepflastert oder mit | |
zahlreichen Löchern im Pflaster und überall mit Kehricht bedeckt. Keine | |
Kanalisation, daher üble Gerüche von allen Seiten; keine Wasserleitung, | |
sondern Wasserbeschaffung mit Zieheimern oder Handpumpen aus – häufig stark | |
verunreinigten – Brunnen, daher in jedem Sommer Typhusepidemien, daneben | |
starke Verbreitung von Trachom und Malaria. An den Rändern der Straßen | |
saßen Bettler und Bettlerinnen, meistens mit Kindern im Arm, auf deren | |
trachomkranken Augen Massen von Fliegen herumkrochen.“ | |
Der Magdeburger Arthur Ruppin sollte mit seinem Palästina-Amt praktische | |
Schritte zur jüdischen Siedlung in die Wege leiten, Kredite für Landkäufe | |
vergeben und landwirtschaftliche Kolonien unterstützen. Eines Abends im | |
Juli 1907 kommt ein jüdischer Uhrmacher zu ihm ins Hotel. Er berichtet | |
Ruppin von sechzig Familien, Kaufleuten, Akademikern und Lehrern, die | |
außerhalb von Jaffa den Bau einer Siedlung planen. Es soll ein ganz | |
modernes Stadtviertel werden, mit großen Vorgärten, kleinen, lichten | |
Häusern und einem Gymnasium im Zentrum: eine Gartenstadt, von der in Europa | |
allenthalben die Rede ist, das Gegenteil des schmutzigen, engen | |
ostjüdischen Schtetls also. Ruppin und der Uhrmacher reiten auf Eseln zu | |
dem vorgesehen Terrain, besichtigen die menschenleeren und unfruchtbaren | |
Dünen, wo die neue Siedlung entstehen soll – ein Phantom im Sand. Doch | |
Arthur Ruppin lässt sich überzeugen. Er bittet den Jüdischen Nationalfonds | |
um einen großzügigen Kredit für den Bau. So wird Arthur Ruppin zum | |
Geburtshelfer der neuen Stadt. | |
Am 11. April 1909 organisiert ein gewisser Meir Dizengoff in den Dünen vor | |
Jaffa per Losverfahren die Landverteilung. Sechzig weiße Kieselsteine sind | |
mit den Namen der Familien beschrieben, auf weiteren sechzig grauen sind | |
die Parzellen notiert. Aber die Siedlung hat noch keinen Namen. Alle | |
möglichen Vorschläge werden gemacht. Man einigt sich auf Tel Aviv, | |
übersetzt „Frühlingshügel“. Tel Aviv, so lautet in der hebräischen | |
Übersetzung der Titel von Theodor Herzls utopischem Roman „Altneuland“, in | |
dem der Wiener Zionistenführer ein blühendes jüdisch-arabisches Gemeinwesen | |
beschreibt. Einen Traum also, größenwahnsinnig angesichts der mehr als | |
dürftigen Verhältnisse im Palästina von 1909. Das Entwicklungsziel für die | |
Siedlung Tel Aviv ist bescheidener: ein luftiger Vorort Jaffas mit einigen | |
Dutzend Häusern, ausschließlich zum Wohnen bestimmt, denn gearbeitet wird | |
weiterhin selbstverständlich in Jaffa. Ende 1909 stehen fünfzig Häuser. | |
Ruppin legt besonderen Wert auf ein Wasserklosett in jedem Gebäude. Daraus | |
entwickelte sich der Witz: „Was ist ein Haus in Tel Aviv? Ein WC mit | |
einigen kleinen Zimmern drum herum.“ Für die Asphaltierung der Straßen | |
reicht das Geld nicht. Die Bewohner müssen durch den knietiefen Sand | |
schreiten, wenn sich nach Jaffa wollen. | |
Im „Palästina-Handbuch“ aus dem Jahre 1912 schreibt Davis Trietsch: „Jet… | |
leben bereits circa tausend Juden in für dortige Verhältnisse sehr gut | |
gebauten Häusern und fühlen sich in ihrer Stadt so wohl wie nur möglich. | |
Das neue Stadtviertel (Tel Aviv) hat breite und gut gehaltene Straßen, die | |
Häuser sind mit Vorgärten versehen, und das ganze Viertel ist mit einer | |
Mauer umgeben. Eine Art Zentrum des Stadtteils bildet das Hebräische | |
Gymnasium.“ | |
Zu Beginn ist Tel Avivs Entwicklung ein Auf und Ab. 1912 gelingt Arthur | |
Ruppin der Ankauf des Sandstrands. Jetzt kann sich die Siedlung bis zum | |
Meer ausdehnen. 1917 gibt es die Kleinstadt nicht mehr. Die Türken lassen | |
Tel Aviv gegen Ende des Ersten Weltkriegs komplett evakuieren. Erst mit der | |
Eroberung Palästinas durch die Engländer im selben Jahr dürfen die | |
Einwohner zurückkehren. 1921 gibt es in Jaffa blutige Pogrome gegen die | |
jüdischen Bewohner. Sie werden nach Tel Aviv evakuiert. Die Stadt wächst | |
auf über 12.000 Einwohner. Araber, die sich in den Randbereichen der neuen | |
Stadt angesiedelt haben, werden aus ihren Häusern gezwungen. Meir Dizengoff | |
wird erster Bürgermeister von Tel Aviv, das sich mehr und mehr von Jaffa | |
ablöst und die alte Stadt zu überflügeln beginnt. | |
Heute wohnen in Tel Aviv, eingezwängt zwischen Jaffa im Süden und dem | |
Yarkonfluss im Norden, mehr als 300.000 Menschen (mit dem eingemeindeten | |
Jaffa sind es 380.000, im Zentrum allein 150.000). Doch tagsüber drängen | |
sich in der Stadt viel mehr. Der Großraum um die Stadt beherbergt über 3,2 | |
Millionen Menschen und ist unstrittig das Wirtschaftszentrum Israels. Von | |
den ersten sechzig Häuschen mit ihren roten Ziegeldächern aber ist kein | |
einziges erhalten geblieben, und an der Stelle des Hebräischen Gymnasiums | |
von 1909 steht ein Betonklotz. Kritiker monieren gern, die Stadt habe, ganz | |
anders als Jerusalem, keine Geschichte. Das ist zweifellos richtig. Selbst | |
die wenigen Spuren der ursprünglichen Siedlung gingen im beispiellos | |
raschen Aufstieg Tel Avivs verloren. Wozu diese kleinen unscheinbaren | |
Gebäude erhalten? Die Stadt musste wachsen, wachsen, wachsen. Keine Zeit | |
für Sentimentalitäten, schon gar nicht bei der Urbanisierung. | |
So entsteht zunächst ein seltsames Gebilde, ein Melting Pot der | |
Architektur. Die Einwohner, sämtlich Immigranten, bringen die Baustile aus | |
ihrer früheren Heimat mit. Es gibt zunächst keine verbindlichen | |
Bauvorschriften. Da stehen Jugendstilhäuser neben neobarocken | |
Wunderlichkeiten, russisch angehauchte Villen neben klassizistischen | |
Gebäuden mit Kolossalsäulen, dazwischen einfache Betonhäuser ohne jede | |
Fassadengestaltung. Letztere bilden die große Mehrheit, denn natürlich | |
fehlt es den Bauherren fast immer an Geld für große Fassadenkünste. Gerhard | |
Holdheim schreibt 1929 fast entschuldigend: „Es ist klar, dass bei der | |
Mannigfaltigkeit der aus aller Welt zusammenströmenden Juden jeder nach | |
seinem eigenen Geschmack baute und die fast amerikanische Entwicklung der | |
Stadt eine einheitliche Lösung in dieser Beziehung nicht zuließ.“ Von der | |
Idee einer Gartenstadt bleibt nicht viel übrig. Der belgische | |
Sozialistenführer Emil Vandervelde notiert im selben Jahr: „Im Zentrum der | |
Stadt sind die Häuser zu dicht zusammengedrängt. Es gibt hier nicht | |
genügend Bäume, nicht genug Grün, keine öffentlichen Anlagen, keine | |
Spielplätze. Statt einer Gartenstadt mit Einfamilienhäusern hat man – in | |
Erwartung amerikanischer Wolkenkratzer – eine europäische Stadt mit | |
dreistöckigen Mietshäusern gebaut.“ | |
Aus Deutschland stammende Juden spielen bei dieser Entwicklung zunächst | |
keine herausragende Rolle. Zwar ist Deutschland ein Zentrum des Zionismus, | |
doch nur die wenigsten Juden können sich dazu entschließen, ins Land ihrer | |
Vorväter zurückzukehren. Schließlich sind sie daheim integriert und fühlen | |
sich als gleichberechtigte deutsche Staatsbürger. Wozu dann einen Neuanfang | |
im unterentwickelten Orient wagen? Arthur Ruppin ist eine seltene Ausnahme. | |
Der Architekt Richard Kauffmann, der 1920 einwandert, eine andere: Bis 1933 | |
kommen nur 2.000 deutsche Juden nach Palästina – weniger als ein Prozent | |
des jüdischen Bevölkerungsanteils. | |
Die deutschen Juden, die sich mit Beginn der Nazi-Herrschaft nach Tel Aviv | |
retten können, treffen auf eine Mischung aus ostjüdischer und | |
orientalischer Kultur. Für viele unter ihnen ist Palästina ein | |
Kulturschock. Sie sprechen kein Hebräisch, doch Deutsch, die Sprache der | |
Nazis, ist verpönt. Sie haben die falschen Berufe. Von 250 Rechtsanwälten, | |
die 1933, aus Deutschland kommend, in Palästina eintreffen, müssen fast | |
alle umschulen. Die Einwanderer aus Deutschland sind bisweilen schon älter | |
und entsprechend weniger flexibel. Sie entsprechen so gar nicht dem Vorbild | |
des muskulösen zionistischen Pioniers. Sie müssen dennoch ganz von vorne | |
anfangen. | |
Viola Virshubski erinnert sich in ihrer Wohnung an der Ben-Yehuda-Straße, | |
dass ihr Vater, ursprünglich ein wohlhabender Arzt, zunächst keine Stellung | |
finden konnte. Er musste sich jahrelang mit dem Verkauf von Büchern über | |
Wasser halten. Sie erzählt: „Wenn man auf der Straße Deutsch sprach, wurde | |
man schief angeguckt. Meine Eltern haben dennoch nie richtig Hebräisch | |
gelernt. Mein Vater hatte einen Privatlehrer. Wir haben Witze gemacht, denn | |
er hat die Sprache furchtbar schlecht gelernt. Man hat über die Jeckes | |
gelacht, weil sie sich anders benahmen. Sie waren Europäer. Sie sind | |
Europäer geblieben. Für meine Eltern war all das ziemlich schlimm.“ | |
Ihr Mann Mordechai, Jahrgang 1930, ergänzt: „Für uns Kinder war es einfach. | |
Wir konnten überall auf der Straße spielen, es gab ja kaum Autoverkehr. Die | |
Sprache erlernten wir dort automatisch. Wir lebten uns rasch ein. Für die | |
Eltern war es viel schwerer. Mein Vater besaß in Tel Aviv ein Geschäft für | |
Lampen, Taschenlampen und Glühbirnen – einen sehr kleinen und sehr schlecht | |
gehenden Laden. In Leipzig war er ein angesehener Kaufmann gewesen. Jedes | |
Jahr ging es im Sommer nach Italien und zur Kur in die Tschechoslowakei. | |
Hier waren wir viel ärmer – nicht nur ökonomisch. Auch gesellschaftlich war | |
das ein Rückschritt.“ | |
Vielen Jeckes gelingt es, einen Teil ihrer Möbel nach Palästina | |
mitzubringen. Das Palästina-Amt in der Berliner Meinekestraße 10, das die | |
viel zu wenigen Einwandererzertifikate für die so dringend gesuchte neue | |
Heimat vergibt, erstellt 1936 Empfehlungen: „Sehr angenehm und billig im | |
Gebrauch sind elektrische Eisschränke und sonstige elektrische | |
Haushaltsgeräte wie Plätteisen, Staubsauger, Ventilatoren. Es empfiehlt | |
sich für jeden Palästinawanderer, seinen Bücherbestand mitzunehmen, nachdem | |
schlechte und wertlose Bücher ausgesondert sind.“ Mordechai Virshubski | |
dazu: „Wir haben unsere ganze Bibliothek mitgebracht. Meine Mutter hat nur | |
deutsche Bücher gelesen. Sie sprach Deutsch, Französisch Russisch und | |
Polnisch. Aber kein Hebräisch.“ Goethe, Schiller und Heine halten Einzug | |
ins Heilige Land. | |
Frühere jüdische Einwanderer aus Osteuropa waren jung und arm, und sie sind | |
in den Dreißigerjahren etabliert. Von 1933 an trifft der deutsch-jüdische | |
Mittelstand in Palästina ein. Er hat andere Vorstellungen vom Alltagsleben. | |
Man sehnt sich nach richtigen Restaurants statt der offenen Garküche an der | |
Straße. Viele vermissen den gewohnten Filterkaffee und die gebildeten | |
Gespräche im Kaffeehaus. Manche trauern den gewohnten Knödeln und dem | |
Sauerbraten nach, wagen es anfangs nicht, exotische Oliven und Humus zu | |
kosten. Diese banalen Umstellungsprobleme mögen heute, im globalen | |
Multikultizeitalter, verstaubt wirken. | |
Damals waren sie eine kleine Tragödie. Winzig klein gar im Vergleich zum | |
Mord an sechs Millionen Menschen. Aber für die Betroffenen dennoch | |
tragisch. | |
Eugenie Afuri Ajad denkt im Altersheim an die alten Zeiten zurück: „Die | |
Lebensmittelgeschäfte waren eine Katastrophe. Ich erinnere mich, dass das | |
Brot unverpackt auf der Erde stand und die Hunde daneben liefen.“ Eleonora | |
Weinstein, 95, ursprünglich aus Köln, fällt die Marmelade ein, die beim | |
Verkauf aus einem Pott auf Papier geklatscht wurde. Und Hans Landau, | |
Jahrgang 1922, weiß von den Eiswagen zu berichten, wo man die Blöcke | |
Gefrorenes abholen musste, um sie anschließend in die Küche zu tragen. | |
Die Jeckes beginnen, sich von der übrigen Gesellschaft entsprechend | |
abzusondern. Sie gründen zum Beispiel ihre eigenen Restaurants, wo sie | |
weiterhin Deutsch miteinander sprechen können. „Da gab es die vielen Cafés | |
in der Ben-Yehuda-Straße“, erinnert sich Viola Virshubski: „Da saßen nur | |
Deutsche, Ärzte, Rechtsanwälte, Schauspieler. Man hat ausschließlich | |
Deutsch gesprochen.“ An der Kaffeetafel im Altersheim Pinchas Rosen meint | |
der 89-jährige Oded Baumann unter allgemeiner Zustimmung: „Ohne die Jeckes | |
könnten wir gar keinen Kaffee trinken. Vorher gab es nur türkischen Kaffee. | |
Anständiger Kaffee kam mit Herrn Loewe, der in Königsberg eine Rösterei | |
besaß und hier die Firma Atari gegründet hat.“ | |
Mit den Jeckes kommen typisch deutsches Organisationstalent und Fachwissen | |
nach Palästina. Sie bringen Neues, bisher nie Dagewesenes nach Tel Aviv: | |
elegante Geschäfte und Kaufhäuser mit großen Schaufenstern, Hotels mit | |
Bädern in den Zimmern, Industriebetriebe mit modernen Maschinen. Unter den | |
deutschen Einwanderern sind bekannte Musiker, die das gerade gegründete | |
Philharmonische Orchester von Tel Aviv verstärken. Die einwandernden Ärzte | |
sorgen für eine nachhaltige Verbesserung im Gesundheitswesen. Es kommen | |
Mathematiker und Statistiker, die für Ordnung und Übersicht in den | |
zionistischen Behörden sorgen. So lösen die Jeckes in ganz Palästina einen | |
gewaltigen Entwicklungsschub aus, politisch, wirtschaftlich und besonders | |
kulturell. So wie Nazi-Berlin kulturell verödet, so erblüht Tel Aviv. | |
Viele Menschen finden freilich zunächst keine Beschäftigung. Sie suchen | |
nach Nischen, um irgendwie zu Geld zu kommen. Noch heute erinnern sich | |
viele Tel Aviver an die älteren Männer, die in den Straßen mit Bauchläden | |
Bücher verkaufen mussten. | |
Erste Anlaufstelle für viele der Einwanderer wird die Hitachdut Olej | |
Germania, die Interessenvertretung der deutschsprachigen Juden. Der 1932 | |
gegründete Verband kümmert sich um Jobs, organisiert Hebräischkurse, | |
verteilt schon auf den Schiffen Informationen über das künftige Leben in | |
Erez Israel: „Welchem Spediteur übergebe ich die Abfertigung meines | |
Gepäcks? In welcher Pension werde ich absteigen? Wo kaufe ich Möbel und | |
Einrichtungsgegenstände?“, sind die drängenden Fragen. Olej Germania | |
eröffnet schon bald Einwandererwohnheime, Sammelstellen für gebrauchte | |
Kleidung, Sanatorien, Suppenküchen und eine Hilfskasse für Sozialfälle. | |
1933, im ersten Jahr der Nazi-Herrschaft, gehen mehr als 20.000 Hilferufe | |
bei den „ollen Germanen“ ein, so die liebevolle Bezeichnung für die | |
Organisation. Lotte Norbert erinnert sich: „Ich ging zur Olej Germania. Die | |
gaben mir eine Adresse, wo ich als Dienst- und Kindermädchen anfangen | |
konnte.“ | |
Der Anfang im neuen Land fällt vielen Jeckes schwer. Die Alten leiden unter | |
Umstellungsproblemen, die Jungen durften in Nazi-Deutschland keinen Schul- | |
oder Universitätsabschluss mehr ablegen. Oded (Horst) Baumann berichtet an | |
der Kaffeetafel im Altersheim über seine ersten beruflichen Schritte in Tel | |
Aviv: „Ich wollte eigentlich Grafiker werden, aber das klappte nicht. Mein | |
ältester Bruder arbeitete in einer Garage, da kam ich auch hin und lernte | |
Auto fahren. Dann war ich bei einer Tischlerei. Schließlich fand ich einen | |
Job in einem Reklamebüro. Dort lernte ich Gebrauchsgrafik. Aber ich musste | |
ja Geld verdienen. Damals machte in Tel Aviv eine deutschsprachige Zeitung | |
auf, Blumenthals Neueste Nachrichten. Die nannte man nur Blumenkohl. Da war | |
ich ein paar Jahre. Ich besaß eine Halbtagsstelle, aber ich arbeitete | |
täglich zwölf Stunden.“ | |
Immer wieder appelliert Olej Germania an die Neueinwanderer, die | |
Landessprache zu erlernen. Die deutschen Flüchtlinge sollen sich im Land | |
integrieren. „Lernt hebräisch!“, heißt es regelmäßig im Mitteilungsblat… | |
das zunächst fast ausschließlich in deutscher Sprache erscheint. Zugleich | |
wird entschuldigend mitgeteilt: „Die Inserate erscheinen in derjenigen | |
Sprache, die der Inserent wünscht.“ Es ist fast ausschließlich Deutsch. | |
Misstrauisch beäugt von ihrer Umgebung, bleiben die Jeckes bei ihrer | |
eigenen mitteleuropäischen Kultur. Eine Unzahl bösartiger Witze kursiert | |
über sie, wobei der Verdacht naheliegt, dass die allermeisten von den | |
Jeckes selbst erfunden worden sind. „Wie macht man in Palästina ein kleines | |
Vermögen? Indem man ein großes mitbringt.“ „In Tel Aviv wird ein neues Ha… | |
gebaut. Ältere Männer bilden eine Kette, einer reicht dem anderen Stein um | |
Stein: ‚Danke schön, Herr Professor‘, ‚bitte schön, Herr Doktor‘, | |
‚selbstverständlich, Herr Oberstudienrat.‘ “ | |
Tatsächlich ist die fünfte Alijah und die Einwanderung der deutschen Juden | |
eine große Erfolgsgeschichte. In der israelischen Gesellschaft werden die | |
Jeckes nach Jahrzehnten der Ignoranz heute verehrt, weil sie | |
westeuropäische Standards ins Land gebracht haben. Manche ehemalige | |
Deutsche haben bemerkenswerte Karrieren gemacht: Xiel Federmann begründete | |
die Dan-Hotelkette, Stef Wertheimer ist Boss großer Industrieunternehmen | |
(und hat nebenbei ein Jeckes-Museum finanziert), Salman Schocken machte die | |
Tageszeitung Ha’aretz zum Qualitätsblatt, Pinchas Rosen wurde erster | |
Justizminister Israels, Alex Bein leitete das Staatsarchiv. | |
In Tel Aviv aber verändern die Neueinwanderer das Antlitz der ganzen Stadt. | |
Jüdische Architekten zählen mit zur ersten Gruppe, die in Nazi-Deutschland | |
ein Berufsverbot erhält und deshalb zur Emigration gezwungen wird. Sie | |
bringen neuzeitliche Vorstellungen nach Palästina mit: das Bauhaus. Manche | |
alteingesessene Juden haben in Dessau und Berlin Architektur studiert, | |
andere erlernen am Technion in Haifa die Grundsätze des neuen Bauens. Sie | |
und die Neueinwanderer prägen die Veränderung Tel Avivs zur weißen Stadt. | |
Im Jahre 1925 hatte Tel Aviv durch den Schotten Sir Patrick Geddes endlich | |
einen ersten Bebauungsplan erhalten. Er sieht ein hierarchisch | |
strukturiertes Straßennetz mit baumbestandenen Boulevards, breiten | |
Hauptstraßen, kleinen Nebenstraßen und vielen Plätzen vor. Zahlreiche | |
Gärten und eine lockere Bebauung sollen Tel Aviv einen grünen Charakter | |
geben. Letzteres lässt sich freilich nicht durchhalten. Die großen | |
Einwanderungswellen und das damit verbundene dynamische Wachstum Tel Avivs | |
zwingen zu Kompromissen. Es wird eng. | |
Von Beginn der 1930-Jahre an setzt sich in Tel Aviv der unter anderem von | |
Le Corbusier und Mies van der Rohe entwickelte „International Style“ in der | |
Architektur mit seinen kühlen Flächen, kubischen Formen, asymmetrischen | |
Kompositionen und der Verweigerung dekorativen Schnickschnacks durch. Der | |
Baukörper erhält geometrische Grundformen, ein Flachdach, teilweise | |
Glaswände. Das Haus hat den Menschen, die darin wohnen, zu dienen, nicht | |
umgekehrt, lautet das Prinzip. | |
Links und rechts des Rothschildboulevards im Süden, an der Gordonstraße im | |
Norden, rund um den Dizengoffplatz im Zentrum: die Gebäude des | |
„International Style“ prägen die Stadt. Manche Fassaden sind gerundet wie | |
Meereswellen, manche auffallend kantig, viele Häuser besitzen ein | |
verglastes Treppenhaus, fast alle sind mit Balkonen ausgestattet und stehen | |
auf Säulen. Alle aber sind sie weiß – deshalb die weiße Stadt. Das moderne | |
Bauen musste im heißen Tel Aviv neu interpretiert werden. So entwickelten | |
sich aus den langen Fensterbändern lange, häufig geschwungene Balkonbänder | |
mit hohen Brüstungen, um die Wärme aus den Wohnungen zu halten. Nirgendwo | |
auf der Welt hat der „International Style“ so flächendeckend eine Stadt | |
geprägt wie in Tel Aviv. 3.700 Gebäude entstanden zwischen 1931 und 1948. | |
In Nazi-Deutschland werden Bauhaus und „International Style“ verboten, | |
nordische Spitzdächer und Furcht einflößende Säulengänge erobern Berlin. In | |
Tel Aviv gewinnt die Leichtigkeit. | |
Doch für manche der Neueinwanderer aus Deutschland gibt es unangenehme | |
Überraschungen. Ihre gewaltigen Vertikos und Bücherschränke passen nicht in | |
die niedrigen Wohnungen der Moderne. Dabei hatte doch das Palästina-Amt in | |
Berlin eindringlich vor der Mitnahme klobiger Möbelstücke gewarnt. So | |
scheitert die deutsche Mahagoni-Einrichtungsarchitektur an den | |
Verhältnissen in der neuen Stadt. Stahlmöbel sind auch praktischer. | |
Im vom Wachstum besessenen Tel Aviv hat es freilich noch einmal fast | |
fünfzig Jahre gedauert, bis man im hässlichen Rathausneubau entdeckte, | |
welch einmaliges architektonisches Erbe man dort beherbergt. Bis dahin | |
waren schon manche Bauhaus-Gebäude einfallslosen Neubauten gewichen, hatten | |
die Bewohner der verbliebenen Gebäude in Eigenregie Balkone verbaut, Häuser | |
aufgestockt, die Wände eingerissen und die glatten Fassaden warzengleich | |
mit Klimageräten verunziert. Viele Bauhaus-Gebäude, so die | |
Sammelbezeichnung für die Neubauten der Dreißiger und Vierzigerjahre in Tel | |
Aviv, sind dennoch erhalten. Dank des Engagements der Architektin Nitza | |
Szmuk zählen sie seit dem Sommer 2003 zum Unesco-Weltkulturerbe. Eintausend | |
sind zur Erhaltung vorgesehen. Einige hundert hat man schon restauriert. | |
Die Tourismusvermarkter haben sie entdeckt, und die Tel Aviver sind stolz | |
auf sie. Ganz besonders die Jeckes. | |
Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs kommen fast keine Einwanderer mehr. Sie | |
sind in Deutschland gefangen. Dafür nähren sich die Truppen der Wehrmacht. | |
Rommels Afrikakorps steht 1941 tief in Nordafrika. Die Nazis wollen mit | |
einer Einsatzgruppe analog zum Massenmord in der Sowjetunion die | |
palästinensischen Juden umbringen, wenn sie das Land erst einmal besetzt | |
haben. Ein Jahr später werden die Deutschen in der Schlacht bei El Alamein | |
geschlagen. | |
Viele junge Jeckes melden sich freiwillig zum Dienst in der britischen | |
Armee. „Es war selbstverständlich, dass wir am Kampf gegen die | |
Nationalsozialisten teilnahmen. Ich ging 1940 zur Royal Air Force“, | |
berichtet Hans Landau im Altersheim Pinchas Rosen. Oded Baumann, geboren | |
1919 in Berlin, besitzt 1940 nur den alten, deutschen Reisepass, weil er | |
seinen palästinensischen Ausweis verloren hat: „Ich habe mir überlegt, dass | |
der deutsche Pass vielleicht nicht das Richtige ist, um in die britische | |
Armee einzutreten. Da nahm ich den Spielerpass meiner Fußballmannschaft | |
mit. Sie haben mich genommen, und ich kam zur Luftwaffe. Anfangs konnte ich | |
kein einziges Wort Englisch.“ | |
Nach dem Krieg erreicht eine neue Einwandererwelle Palästina: Es sind die | |
europäischen Überlebenden des Holocaust, die nun ins Land drängen. Es sind | |
nicht mehr viele deutsche Juden unter ihnen, denn fast alle sind von den | |
Nazis ermordet worden – so wie Lotte Norberts Eltern, die in Auschwitz | |
umkamen. 1948 gründet sich der Staat Israel. Die Männer, die noch kurz | |
zuvor in der britischen Armee gegen die Nazis gekämpft haben, werden erneut | |
eingezogen, als arabische Armeen aus Ägypten, Jordanien, Syrien, dem | |
Libanon und dem Irak das Land überfallen. | |
Die Jeckes gliedern sich in die israelische Gesellschaft ein, aber sie | |
bleiben über die Jahrzehnte etwas Besonderes. Sie fühlen sich nicht als | |
Deutsche, aber sie können ihre deutsche Herkunft nicht verleugnen. Sie | |
veranstalten private Kulturabende in ihren Wohnungen. Sie organisieren sich | |
als die wahren Vertriebenen in Landsmannschaften ehemaliger Breslauer, | |
Berliner, Kölner. Viele der älteren Einwanderer haben nie wieder deutschen | |
Boden betreten nach dem, was die Deutschen ihnen angetan haben. Doch in Tel | |
Aviv bleibt die Ben-Yehuda-Straße ein bisschen deutsch. „Es gab dort so | |
viele Jeckes“, erzählt Viola Virshubski, die der Gegend bis heute treu | |
geblieben ist. „Es gab Delikatessengeschäfte und Kaffeehäuser. Alle Metzger | |
waren Jeckes. Alle haben sich gekannt.“ | |
Die deutsche Schriftstellerin Ulla Berkéwicz, heute Leiterin des Suhrkamp | |
Verlags, erinnert sich, wie sie vor fünfzehn Jahren mit ihrem späteren Mann | |
Siegfried Unseld zur Ben Yehuda kam: „Das war unglaublich: Für zweihundert | |
Meter haben wir sechs Stunden gebraucht. Wir kommen an einem Zeitungsladen | |
mit Leihbüchern vorbei, da steht ein älterer Mann davor. Die beiden Männer | |
reden zwei Stunden miteinander, und es geht nur um deutsche Kultur. Dann | |
gehen wir weiter, und da kommt die Buchhandlung Landsberger. Siegfried | |
Unseld schaut ins Fenster und sagt: ‚Moment mal, da stehen Suhrkamp-Bücher. | |
Da muss ich rein.‘ Wir gehen hinein, und da sitzt der Antiquar, Herr Laske, | |
und sagt: ‚Guten Tag, Herr Unseld.‘ Da ist der natürlich baff. Das dauert | |
wieder zwei Stunden. Danach gehen wir in ein Café, und Siegfried Unseld | |
bestellt drei Tee. Ich frage ihn: ‚Wieso drei?‘ Da verabschiedet er sich, | |
geht über die Straße und bleibt wieder zwei Stunden bei dem | |
Zeitungshändler.“ | |
Heute sind die meisten Kaffeehäuser an der Ben Yehuda Geschichte. Der | |
gebürtige Berliner Antiquar Ernst Laske, ein wandelndes Lexikon deutscher | |
Literatur, ist vor einigen Jahren verstorben, die Buchhandlung Landsberger | |
hat sich verkleinert und ist umgezogen. Fast alle Jeckes sind tot. Viele | |
ihrer Kinder und Enkel verstehen kein Deutsch, schon gar nicht können sie | |
die Frakturschrift in den alten Büchern entziffern. Goethe, Schiller und | |
Heine landen auf dem Sperrmüll. Auf dem Flohmarkt entdecken wir alte | |
Briefe, die eine in Berlin zurückgebliebene Mutter 1938 an ihren Sohn in | |
Palästina geschrieben hat. | |
Tel Aviv aber entwickelt sich weiter, und weil die Fläche eng begrenzt ist, | |
geht es nach oben: Wolkenkratzer, die der Sozialist Vanderfelde 1929 | |
vergeblich suchte, umkränzen heute das Zentrum. Gewaltige und fantasielose | |
Betonungetüme mit Großhotels haben den „International Style“ entlang dem | |
Strand verdrängt. Doch weil die City so attraktiv wie beliebt geblieben | |
ist, entwickeln sich auch Immobilien- und Mietpreise immer weiter in die | |
Höhe. „Die Blase“ wird Tel Aviv von Einheimischen genannt. Eine | |
Einzimmerwohnung ist kaum unter 400 US-Dollar im Monat zu haben. Mit 5.000 | |
Dollar pro Quadratmeter sind die Immobilienpreise die höchsten des Nahen | |
Ostens, höher noch als in Dubai. Die wertvollsten Wohnungen aber finden | |
sich in den restaurierten Bauhaus-Gebäuden am schattigen | |
Rothschildboulevard mit seinen wunderbaren Kiosken, wo die Fruchtsäfte | |
frisch gepresst ausgeschenkt werden: Dort kommt der Quadratmeter bei | |
Luxuswohnungen auf bis zu 15.000 Dollar. „Das größte Problem hier sind die | |
hohen Miet- und Kaufpreise“, sagt Edina Meyer-Maril, Dozentin an der | |
Architekturschule. „Reiche kaufen die Stadt auf, auch als Kapitalanlage, | |
bewohnen aber die Häuser nicht. Aber, wie alles hier: Morgen kann es schon | |
wieder ganz anders kommen.“ | |
Manche Häuser allerdings sind vom Zahn der Zeit und der aggressiven | |
salzigen Meeresluft angenagt und verschmutzt. Ihr Weiß ist einem | |
schmutzigen Grau gewichen. „Viele Gebäude an der Ben-Yehuda-Straße sehen | |
schrecklich aus. Mir tut das richtig weh“, meint Viola Virshubski: „Die | |
Hauswirte vermieten an junge Leute und stecken kein Geld in Renovierungen.“ | |
Zur Rushhour erstickt die Stadt im Verkehr, schwarze Giftwolken entweichen | |
den Dieselmotoren der vielen Omnibusse und machen das Atmen schwer. | |
Straßen, Busse, Fußgängerwege, ja selbst der feine Sandstrand mit seinen | |
Restaurants – alles ist zumindest voll von Menschen, an „guten Tagen“ aber | |
völlig überfüllt. Tel Aviv ist Kapitalismus pur, ohne israelische | |
Kibbuzromantik, ohne ehrwürdige Altstadtmauern wie in Jerusalem – obwohl | |
die mächtige Histadruth-Gewerkschaft ihre Zentrale in der Stadt hat und die | |
Arbeitspartei lange Zeit die Regierung stellte. | |
Aber es ist ganz wunderbar. | |
Besoffene russische Neueinwanderer auf Parkbänken, ondulierte Damen beim | |
Nachmittagscafé, müde Obdachlose am Busbahnhof, eilige Köfferchenträger | |
ohne Krawatte, gelangweilte Soldatinnen und Soldaten, lässig das Gewehr auf | |
der Schulter, Familien auf dem Weg zum Strand, gewaltige Kühlboxen | |
schleppend, genervte Autofahrer im Dauerstau, Minibusfahrer der Linie vier | |
mit den kürzesten Stoppzeiten der Welt, Humusverkäufer, Kioskverkäufer (24 | |
Stunden geöffnet), der ältere Antiquar mit schütteren Haaren und | |
verstaubten deutschsprachigen Büchern, genervte Polizisten, begeisterte | |
amerikanische Touristen, junge Asiatinnen, in der Altenpflege beschäftigt, | |
Studenten, Lehrer, Arbeiter, Kinder, keine Schuhputzer – Tel Aviv ist keine | |
ganz normale Stadt am Meer. Hier geht es israelisch und gleichzeitig | |
international (und ein bisschen orientalisch) zu. Westeuropa verschmilzt | |
mit Russland und Amerika. Der Gazastreifen aber ist unendlich weit | |
entfernt. | |
Die „Olej Germania“ – die „ollen Germanen“ – die heute „Vereinigu… | |
Israelis mitteleuropäischer Herkunft“ heißt, hat ihren Sitz seit | |
Jahrzehnten in der zentral gelegenen Rambamstraße. Auch das | |
Mitteilungsblatt erscheint weiterhin – zur Hälfte auf Deutsch, zur andern | |
auf Hebräisch. Direktorin Devorah Haberfeld und ihre Mitarbeiter können | |
sich über Mangel an Arbeit nicht beklagen. Der Verein unterhält ein Netz | |
von Altersheimen für die Jeckes, unterstützt Holocaust-Überlebende, von | |
denen viele mit winzigen Renten überleben müssen, organisiert Kulturabende | |
– im letzten Oktober feierte er seinen 75. Geburtstag. Doch wenn der Verein | |
hundert Jahre alt wird, wird es keine Jeckes mehr geben. „Das wird | |
Geschichte sein. Aber bald wird keiner mehr davon wissen, wenn wir alle weg | |
sind“, sagt Viola Virshubski. Sie zählt mit ihren 76 Jahren zu den | |
Jüngsten. | |
Die Jeckes sind keine deutschen Juden. Schon gar nicht stehen sie für die | |
vor der Nazi-Herrschaft viel beschworene deutsch-jüdische Symbiose. Sie | |
sind Überlebende und Zeitzeugen des Epochenwandels von der demokratischen | |
Weimarer Republik zur Nazi-Diktatur in Deutschland und des Aufbaus der | |
Stadt Tel Aviv und des Staates Israel. Und sie sind die letzten Vertreter | |
einer deutschsprachigen jüdischen Kultur, die es in Deutschland selbst | |
nicht mehr gibt. | |
Im Galil, der bergigen Region ganz im Norden Israels, werden die Jeckes | |
weiterleben. Die „ollen Germanen“ möchten dort einen Wald pflanzen, als | |
Zeichen der Verwurzelung in ihrem Land. Die ersten Sprösslinge sind schon | |
gesetzt. | |
KLAUS HILLENBRAND, Jahrgang 1957, ist taz-Redakteur. Im September erscheint | |
sein Buch „Nicht mit uns“ über das Schicksal der jüdischen Familie | |
Frankenstein in Nazi-Deutschland (Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag) | |
3 May 2008 | |
## AUTOREN | |
KLAUS HILLENBRAND | |
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