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# taz.de -- Eine irre gute Idee: Tel Aviv
Vor fast einhundert Jahren kamen einige Juden in Palästina auf die Idee,
eine neue Stadt am Meer zu gründen – und seit 75 Jahren spricht man dort
auch Deutsch: Für die „Jeckes“, vor den Nazis geflüchtete deutsche Juden,
war es ein schwieriger Neubeginn in der weißen Stadt. Doch heute werden sie
für ihre Aufbauarbeit verehrt. Ein Besuch bei den letzten Überlebenden
VON KLAUS HILLENBRAND
Zum langen weißen Strand geht Viola Virshubski in ein paar Minuten. Sie
liebt das Leben dort, den Trubel, die Restaurants. Aber auch die Geschäfte
sind nicht weit von der Wohnung der 76-Jährigen und ihres Mannes Mordechai
entfernt. Einmal um die Ecke, und sie steht auf der Ben Yehuda, dieser ewig
langen Straße, die Tel Aviv von Süden nach Norden durchschneidet. Die Ben
Yehuda: das war früher einmal das Zentrum der deutschen Einwanderer. In den
Läden und Cafés hatte es die hebräische Sprache schwer, denn die Deutschen
– Jeckes genannt – sprachen untereinander lieber Deutsch.
„Tel Aviv war immer lebenslustig“, sagt die gebürtige Berlinerin. „Es war
fantastisch. Es gab Theater, Konzerte, Bars, Kaffeehäuser, die Hotels am
Strand. Früher gab es sogar ein Kasino. Wir haben uns wunderbar amüsiert.“
Sie und ihre Eltern flüchten 1934 aus dem nationalsozialistischen Berlin,
aber kein Land will die Familie aufnehmen. Sie finden vorläufige Aufnahme
in Barcelona, wo die Republikaner die faschistischen Franquisten aus der
Stadt gejagt haben. Erst knapp zwei Jahre später erreichen sie mit einem
Touristenvisum Palästina – die neue Heimat. Die Familie zieht nach Tel
Aviv. In die weiße Stadt, den Melting Pot der Kulturen. Inklusive eines
kleinen Stückchens Deutschland an der Ben-Yehuda-Straße.
Viola Virshubski sagt: „Seitdem wohne ich an der Ben Yehuda. Ich könnte
nirgendwo anders leben als hier. Ich muss hier sein.“ Andere alte Menschen
mögen die Ruhe bevorzugen und das Grün weiter Landschaften. Frau Virshubski
nicht. So wie die meisten Tel Aviver. Sie lieben ihre Stadt.
Von 1933 an sind die deutschen Juden auf der Flucht vor den Nazis. Doch
kaum ein Land will sie aufnehmen. Nur die wenigsten haben sich bisher für
Palästina und das große zionistische Projekt eines jüdischen Lands
interessiert. Jetzt wird Tel Aviv für viele zur Rettung.
Eine flache Küste, braun und sonnenverbrannt: Der Dampfer verringert sein
Tempo. Zuletzt laufen die Schrauben rückwärts, um die Fahrt zu stoppen.
Draußen, weit weg an Land, sieht man Häuser und Menschen. Die Aufregung
unter den Passagieren an Bord nimmt überhand. Gestapeltes Gepäck wird von
drängelnden Menschen umgeworfen. Sie wollen an die Reling, um einen ersten
Blick auf das fremde Land zu erhaschen, sie sind nach der tagelangen
Seereise endlich dort angekommen, wo für sie ein neues Leben beginnen soll:
fern der Heimat Deutschland, deren Machthaber sie anfangs schikaniert und
am Ende mit dem Tode bedroht haben, weg von Freunden und Verwandten, die in
aller Herren Länder verzweifelt ein Exil suchen, getrennt von den Straßen
und Häusern der Kindheit.
Sie haben Palästina erreicht.
„Das Schiff konnte nicht in den Hafen von Tel Aviv einfahren“, erinnert
sich Lotte Norbert an ihre Ankunft im Februar 1939. Die junge Frau ist mit
einer Gruppe Jugendlicher unterwegs, ohne die Eltern „Wir wurden mit
kleinen Booten hereingebracht. Der erste Mensch, mit dem ich sprach, war
ein Polizist in einer blauen Uniform. Es war ein jüdischer Polizist! Er
fragte mich, wer wir seien und woher wir kämen.“ Wir erhielten alle ein
Spritze gegen Typhus. Dann kam ein Lehrer, der uns zu einem Autobus
brachte, der nach Tel Aviv fuhr.
Der Berliner Hans Landau erreicht Palästina im Jahr 1933 als Elfjähriger
mit seinen Eltern. Der Vater besaß in der Reichshauptstadt eine
zahnärztliche Praxis. „Wir kamen im arabischen Jaffa an“, berichtet er.
„Das Schiff stoppte weit draußen vor dem Hafen. Unten warteten kleine
Boote, die uns an Land bringen sollten. Wir mussten das Fallreep herunter
vom Schiff steigen. Durch den starken Wellengang hob und senkte sich der
Abstand zu den Booten um eineinhalb Meter. Wir mussten springen. Die
arabischen Bootsleute fingen uns auf – kein angenehmes Erlebnis. Sie
brachten uns zum Hafen von Jaffa. Da regierten die Briten mit ihren
arabischen und jüdischen Polizisten und Zöllnern. Von dort brachte uns eine
Kutsche ins nahe Tel Aviv.“
Die ersten Eindrücke von der unbekannten Stadt am Meer sind für die
deutsch-jüdischen Neueinwanderer widersprüchlich. Tel Aviv hat damals schon
mehr als 100.000 Einwohner, ausschließlich Juden, und ist noch nicht einmal
dreißig Jahre alt.
Eugenie Afuri Ajad war 1935 in Berlin beim Verteilen antifaschistischer
Flugblätter von der Gestapo verhaftet worden. Sie kommt mit viel Glück
wieder frei, und über Breslau und Triest wird ihre klandestine Ausreise
organisiert. „Tel Aviv war für mich schon damals ein Wunder“, sagt die
heute 93-jährige Dame: „Dass es so etwas überhaupt gab: eine Stadt der
Juden! Obwohl damals viele Straßen noch gar nicht gepflastert waren. Die
ganze Atmosphäre war für mich als Berlinerin sehr eigenartig. Ich habe mich
nicht nicht heimisch gefühlt. Anfangs war ich sehr unglücklich.“
Lotte Norbert steigt im selben Jahr mit ihrer zionistischen Jugendgruppe am
Hafen in den Bus in die Stadt: „Der Bus fuhr die ganze Dizengoffstraße im
Zentrum bis zum Busbahnhof entlang. Der einheimische Lehrer sagte: „Schaut,
das ist die jüdische Stadt! Was sagt ihr dazu?“ Er war unglaublich stolz
auf Tel Aviv. Ich habe mich im Autobus umgeschaut. Der Boden war voll von
Nussschalen, und ich sagte ihm: „So einen schmutzigen Bus habe ich noch nie
gesehen.“ Da war er schwer beleidigt. Ich kam doch aus München, da war der
Unterschied zu Tel Aviv sehr groß. Es war schon städtisch hier – aber doch
unglaublich schmutzig.“
Die Gespräche mit Lotte Norbert, Eugenie Afuri Ajad, Hans Landau und
weiteren älteren Damen und Herren finden wie selbstverständlich auf Deutsch
statt. Das Altersheim Pinach Rosen steht an einer Seitenstraße des Tel
Aviver Vororts Ramat Gan. Das flache Gebäude ist erst kürzlich mit Mitteln
der Jewish Claims Conference renoviert worden. Die Claims Conference
fungiert weltweit als Erbe von jüdischem Vermögen, für das sich infolge des
Holocaust keine natürlichen Erben mehr auffinden lassen. Sechs Millionen
europäischer Juden wurden Opfer der Nazis. Sie, die nicht rechtzeitig
Europa verlassen konnten, wurden erschlagen, erschossen und vergast. Etwa
60.000 deutsche Juden konnten sich damals mit der fünften Alijah
(Einwanderungswelle) ins britisch regierte Palästina retten – ihre neue
Heimat. Die meisten von ihnen waren jung, und viele ließen ihre Familie in
Deutschland zurück, die sie nie wiedersahen. Die Neueinwanderer aber zog es
in die Städte: nach Jerusalem, Haifa und, zuallererst, nach Tel Aviv.
Heute stehen die Neueinwanderer von damals im achten, neunten oder zehnten
Lebensjahrzehnt. An der Rezeption des Altersheims sind die Wochenangebote
für die Bewohner angeschlagen: Turnen, Malstunde, eine Singgruppe,
Musikprogramme, Keramikkurse. Alles auf Deutsch. Die Bewohner von Pinchas
Rosen sind keine Deutschen, sondern Israelis und sprechen natürlich auch
Hebräisch. Sie haben sich schon vor Jahrzehnten in ihrem Land eingelebt,
manche machten große Karriere, andere schlugen sich mit den
unterschiedlichsten Jobs durch, wieder andere kümmerten sich um Kinder und
Familie. Aber Deutsch ist ihre Muttersprache geblieben, die Sprache, die
sie als Kinder und Jugendliche gelernt haben. Sie möchten dabei bleiben.
Auf Kanal 36 läuft RTL: Günther Jauchs „Wer wird Millionär?“ dürfte unt…
den ehemaligen deutschen Israelis Quoten erreichen, von denen der Sender in
der Heimat nur träumen kann. Die Alten in Tel Aviv wundern sich, wie
dürftig die Allgemeinbildung unter den jungen deutschen Kandidaten geworden
ist.
Die „Vereinigung der Israelis mitteleuropäischer Herkunft“, Trägerin des
Heims Pinchas Rosen, hat zum Kaffee gedeckt, mit Kuchen, Säften,
Filterkaffee und einer blütenweißen Decke auf dem großen Tisch. Die
Direktorin Devorah Haberfeld, klein, drahtig, feuerrote kurze Haare, ist
mitgekommen, um zu hören, was die Damen und Herren von der Vergangenheit
erzählen. Sie gehört als Kind ursprünglich Wiener Juden schon der zweiten
Generation der Jeckes an. Jeckes? So nennen sich die früheren deutschen
Juden selbst. So wurden sie bei ihrer Ankunft von den alteingesessenen
Juden meist osteuropäischer Herkunft kollektiv getauft. Anfangs war es ein
Schimpfwort. „Kommen Sie aus Deutschland oder aus Überzeugung?“, lautete
einer der zynischen Witze über sie, denen man vorwarf, es mangele ihnen an
zionistischer Gesinnung. Sie waren ja „nur“ Flüchtlinge. Heute ist der
Begriff „Jecke“ in Israel ein Ehrentitel und steht für Fleiß und
Pünktlichkeit – deutsche Tugenden eben.
Wie war das, als die Jeckes damals ankamen in der neuen, auf Sand gebauten
Stadt? Und wie ist es dazu gekommen, dass Tel Aviv heute diese große, vor
Lebenslust berstende Stadt geworden ist, mit gewaltigen Bürotürmen und
schattigen Boulevards, Discos und Philharmonikern, Shopping-Malls und den
letzten kleinen Kramläden ostjüdischer Prägung in den Seitenstraßen der Ben
Yehuda?
Im nächsten Jahr wird Tel Aviv einhundert Jahre alt. Der Staat Israel
begeht am 8. Mai 2008 seinen sechzigsten Geburtstag. Die „Vereinigung der
Israelis mitteleuropäischer Herkunft“, Verband der deutschsprachigen
Immigranten, wurde 2007 fünfundsiebzig. Diese drei Daten haben mehr
miteinander zu tun, als es auf den ersten Blick scheinen mag.
Im Hafen von Tel Aviv, in dem Lotte Norbert vor neunundsechzig Jahren an
Land ging, kommen schon lange keine Schiffe mehr an. Gerade erst erbaut,
wurde er schon bald zu klein. Die Häfen von Haifa im Norden und Aschdod im
Süden liefen ihm den Rang ab, die Anlage wurde geschlossen und verfiel.
Jetzt ist sie wieder geöffnet. Statt Zöllnern gibt es Kellner, Magazine
sind zu Designergeschäften mutiert, und am ehemaligen Hafenbecken reiht
sich Restaurant an Nachtclub und Café. Die Passagiere von heute sind die
Nachtschwärmer von Tel Aviv, jung oder schon etwas älter. Pärchen, Gruppen
und ganze Familien promenieren. Am Freitagabend, wenn im religiös geprägten
Jerusalem zum Beginn des Sabbats die Bürgersteige hochgeklappt werden,
birst die riesige Diskothek vor sich drängenden Menschen, die neuesten Hits
werden aufgelegt, die Luft ist zum Schneiden, die Menge stampft mitgerissen
im Takt der Musik. Nicht nur hier. Rund um die Sheinkinstraße weiter
südlich reiht sich Bar an Bar. Junge Leute wie Yoav Schrerd, dem das
„Weinstock“ gehört, zählen zu den risikobereiten Gründern der
Etablissements, die auf ein vergnügungssüchtiges Publikum setzen können,
das viel Musik, aber wenig Alkohol konsumieren will. Diese Stadt ist
profan.
Heutzutage ist Tel Aviv weit über das kleine Israel hinaus berühmt für
seine Nachtszene, für die Schwulenkultur, die Strandbars, die Offkunst mit
den Galerien, für Experimente. Die Wahrheit ist: So viel hat sich nicht
verändert.
Viele Restaurants und Kaffeehäuser sind in den Dreißigerjahren von Jeckes
gegründet worden. Sie mochten sich den orientalisch-ostjüdischen Sitten
nicht so einfach anpassen, vermissten den gewohnten Stammplatz im Café, das
Essen im Restaurant. Man verlangt nach Kaffee mit Sahne statt Tee mit
Zitrone, bevorzugt Tischtücher aus Leinen statt solcher aus Papier. „Balsam
Eis Café jetzt nur noch in Erez Israel, Allenby Straße 37“ heißt es in
einer Zeitungsanzeige von 1936. „Wiener Abend im Café City. Dienstag, 27.
November 1934, Neun Uhr, Jazz- und Schrammelmusik, künstlerisches Programm,
Tombola, Überraschungen“, lautet der Text einer anderen. Anni Mainz
schreibt in ihrem 1935 erschienenen Büchlein über Tel Aviv: „Wer hat noch
nicht von jener Straßenkreuzung gehört, die vom deutschen Teil der fünften
Alijah Potsdamer Platz genannt wird. Gegen Abend ist es hier beinah so
turbulent – mit dem Geflitz der gleichen Streifentaxis – wie das Berliner
Vorbild.“ Das war wohl ein wenig übertrieben.
Die Schauspielerin Orna Porat erreicht kurz nach dem Zweiten Weltkrieg Tel
Aviv. Sie berichtet: „Man hat mich mit offenen Armen aufgenommen. Ich habe
natürlich als Erstes Hebräisch gelernt, damit ich wieder auf die Bühne
kommen konnte. Nach einem Jahr bekam ich mein erstes Engagement im
Kammertheater. Es war ein großer Erfolg. Damals gab es schon die Habima,
das Nationaltheater, das Theater der Gewerkschaften und das Kammertheater.“
Anders als viele deutschsprachigen Einwanderer sucht Porat, heute eine der
bekanntesten Persönlichkeiten Israels, keinen Kontakt zu den Jeckes. „Ich
gehörte nicht dazu“, meint sie. Sie hat sich sehr schnell integriert. Doch
ihren kölschen Dialekt hat sie bis heute behalten.
Nicht allen sittenstrengen Besuchern hat die Tel Aviver Lebensart gefallen.
Alfred Wiener, deutscher Jude aus Berlin, schreibt nach einem Besuch schon
1927: „Übrigens fehlen auch die üblichen und üblen Begleiterscheinungen der
größeren Stadt nicht. Tel Aviv hat eine geheime Prostitution und sogar zwei
Animierkneipen.“ Und Wiener mokiert sich: „Die straffe Zucht und Ordnung,
die im Orient ganz besonders notwendig sind, fehlen.“ Eine etwas andere
Ansicht vertritt da David Ben Gurion, einer der Gründungsväter Israels. Auf
die Frage, wann die zionistische Bewegung ihr Ziel erreicht haben wird,
antwortete er vor mehr als siebzig Jahren: „Wenn jüdische Polizisten eine
Nacht damit verbringen, jüdische Prostituierte in einer jüdischen Stadt zu
verhaften.“
Geplant war Tel Aviv freilich einmal ganz anders. Die Geschichte der ersten
jüdischen Stadt der Neuzeit begann gleich nebenan, im arabischen Jaffa,
einer der ältesten Städte der Welt. Jaffa war von alters her der einzige
Hafen Palästinas. Hier erreichten die christlichen Pilger mit ihren
Segelschiffen aus Europa das Gelobte Land, aber auch diejenigen älteren
Juden, die sich im 19. Jahrhundert dazu entschlossen hatten, ihre letzten
Lebensjahre in der Heiligen Stadt Jerusalem zu verbringen. Ab 1880 nahm die
jüdische Einwanderung ins türkisch regierte Palästina zu, und es waren
nicht länger nur Fromme, die ins Land kamen. Kaufleute zog es automatisch
in das Handelszentrum Jaffa, hinzu kamen alteingesessene Juden aus Gaza.
Freilich war Jaffa eng und altertümlich gebaut. Sanitäre Einrichtungen
fehlten ganz, und das Abwasser floss über den Rinnstein ins Meer. Was heute
mit freundlich renovierten Gebäuden und hellen Innenhöfen pittoresk
erscheint, entsprach damals in weiten Teilen einer stinkenden Kloake.
Arthur Ruppin, erster Leiter des zionistischen Palästina-Amts, erinnert
sich an das Jaffa von 1908: „Die Straßen waren ungepflastert oder mit
zahlreichen Löchern im Pflaster und überall mit Kehricht bedeckt. Keine
Kanalisation, daher üble Gerüche von allen Seiten; keine Wasserleitung,
sondern Wasserbeschaffung mit Zieheimern oder Handpumpen aus – häufig stark
verunreinigten – Brunnen, daher in jedem Sommer Typhusepidemien, daneben
starke Verbreitung von Trachom und Malaria. An den Rändern der Straßen
saßen Bettler und Bettlerinnen, meistens mit Kindern im Arm, auf deren
trachomkranken Augen Massen von Fliegen herumkrochen.“
Der Magdeburger Arthur Ruppin sollte mit seinem Palästina-Amt praktische
Schritte zur jüdischen Siedlung in die Wege leiten, Kredite für Landkäufe
vergeben und landwirtschaftliche Kolonien unterstützen. Eines Abends im
Juli 1907 kommt ein jüdischer Uhrmacher zu ihm ins Hotel. Er berichtet
Ruppin von sechzig Familien, Kaufleuten, Akademikern und Lehrern, die
außerhalb von Jaffa den Bau einer Siedlung planen. Es soll ein ganz
modernes Stadtviertel werden, mit großen Vorgärten, kleinen, lichten
Häusern und einem Gymnasium im Zentrum: eine Gartenstadt, von der in Europa
allenthalben die Rede ist, das Gegenteil des schmutzigen, engen
ostjüdischen Schtetls also. Ruppin und der Uhrmacher reiten auf Eseln zu
dem vorgesehen Terrain, besichtigen die menschenleeren und unfruchtbaren
Dünen, wo die neue Siedlung entstehen soll – ein Phantom im Sand. Doch
Arthur Ruppin lässt sich überzeugen. Er bittet den Jüdischen Nationalfonds
um einen großzügigen Kredit für den Bau. So wird Arthur Ruppin zum
Geburtshelfer der neuen Stadt.
Am 11. April 1909 organisiert ein gewisser Meir Dizengoff in den Dünen vor
Jaffa per Losverfahren die Landverteilung. Sechzig weiße Kieselsteine sind
mit den Namen der Familien beschrieben, auf weiteren sechzig grauen sind
die Parzellen notiert. Aber die Siedlung hat noch keinen Namen. Alle
möglichen Vorschläge werden gemacht. Man einigt sich auf Tel Aviv,
übersetzt „Frühlingshügel“. Tel Aviv, so lautet in der hebräischen
Übersetzung der Titel von Theodor Herzls utopischem Roman „Altneuland“, in
dem der Wiener Zionistenführer ein blühendes jüdisch-arabisches Gemeinwesen
beschreibt. Einen Traum also, größenwahnsinnig angesichts der mehr als
dürftigen Verhältnisse im Palästina von 1909. Das Entwicklungsziel für die
Siedlung Tel Aviv ist bescheidener: ein luftiger Vorort Jaffas mit einigen
Dutzend Häusern, ausschließlich zum Wohnen bestimmt, denn gearbeitet wird
weiterhin selbstverständlich in Jaffa. Ende 1909 stehen fünfzig Häuser.
Ruppin legt besonderen Wert auf ein Wasserklosett in jedem Gebäude. Daraus
entwickelte sich der Witz: „Was ist ein Haus in Tel Aviv? Ein WC mit
einigen kleinen Zimmern drum herum.“ Für die Asphaltierung der Straßen
reicht das Geld nicht. Die Bewohner müssen durch den knietiefen Sand
schreiten, wenn sich nach Jaffa wollen.
Im „Palästina-Handbuch“ aus dem Jahre 1912 schreibt Davis Trietsch: „Jet…
leben bereits circa tausend Juden in für dortige Verhältnisse sehr gut
gebauten Häusern und fühlen sich in ihrer Stadt so wohl wie nur möglich.
Das neue Stadtviertel (Tel Aviv) hat breite und gut gehaltene Straßen, die
Häuser sind mit Vorgärten versehen, und das ganze Viertel ist mit einer
Mauer umgeben. Eine Art Zentrum des Stadtteils bildet das Hebräische
Gymnasium.“
Zu Beginn ist Tel Avivs Entwicklung ein Auf und Ab. 1912 gelingt Arthur
Ruppin der Ankauf des Sandstrands. Jetzt kann sich die Siedlung bis zum
Meer ausdehnen. 1917 gibt es die Kleinstadt nicht mehr. Die Türken lassen
Tel Aviv gegen Ende des Ersten Weltkriegs komplett evakuieren. Erst mit der
Eroberung Palästinas durch die Engländer im selben Jahr dürfen die
Einwohner zurückkehren. 1921 gibt es in Jaffa blutige Pogrome gegen die
jüdischen Bewohner. Sie werden nach Tel Aviv evakuiert. Die Stadt wächst
auf über 12.000 Einwohner. Araber, die sich in den Randbereichen der neuen
Stadt angesiedelt haben, werden aus ihren Häusern gezwungen. Meir Dizengoff
wird erster Bürgermeister von Tel Aviv, das sich mehr und mehr von Jaffa
ablöst und die alte Stadt zu überflügeln beginnt.
Heute wohnen in Tel Aviv, eingezwängt zwischen Jaffa im Süden und dem
Yarkonfluss im Norden, mehr als 300.000 Menschen (mit dem eingemeindeten
Jaffa sind es 380.000, im Zentrum allein 150.000). Doch tagsüber drängen
sich in der Stadt viel mehr. Der Großraum um die Stadt beherbergt über 3,2
Millionen Menschen und ist unstrittig das Wirtschaftszentrum Israels. Von
den ersten sechzig Häuschen mit ihren roten Ziegeldächern aber ist kein
einziges erhalten geblieben, und an der Stelle des Hebräischen Gymnasiums
von 1909 steht ein Betonklotz. Kritiker monieren gern, die Stadt habe, ganz
anders als Jerusalem, keine Geschichte. Das ist zweifellos richtig. Selbst
die wenigen Spuren der ursprünglichen Siedlung gingen im beispiellos
raschen Aufstieg Tel Avivs verloren. Wozu diese kleinen unscheinbaren
Gebäude erhalten? Die Stadt musste wachsen, wachsen, wachsen. Keine Zeit
für Sentimentalitäten, schon gar nicht bei der Urbanisierung.
So entsteht zunächst ein seltsames Gebilde, ein Melting Pot der
Architektur. Die Einwohner, sämtlich Immigranten, bringen die Baustile aus
ihrer früheren Heimat mit. Es gibt zunächst keine verbindlichen
Bauvorschriften. Da stehen Jugendstilhäuser neben neobarocken
Wunderlichkeiten, russisch angehauchte Villen neben klassizistischen
Gebäuden mit Kolossalsäulen, dazwischen einfache Betonhäuser ohne jede
Fassadengestaltung. Letztere bilden die große Mehrheit, denn natürlich
fehlt es den Bauherren fast immer an Geld für große Fassadenkünste. Gerhard
Holdheim schreibt 1929 fast entschuldigend: „Es ist klar, dass bei der
Mannigfaltigkeit der aus aller Welt zusammenströmenden Juden jeder nach
seinem eigenen Geschmack baute und die fast amerikanische Entwicklung der
Stadt eine einheitliche Lösung in dieser Beziehung nicht zuließ.“ Von der
Idee einer Gartenstadt bleibt nicht viel übrig. Der belgische
Sozialistenführer Emil Vandervelde notiert im selben Jahr: „Im Zentrum der
Stadt sind die Häuser zu dicht zusammengedrängt. Es gibt hier nicht
genügend Bäume, nicht genug Grün, keine öffentlichen Anlagen, keine
Spielplätze. Statt einer Gartenstadt mit Einfamilienhäusern hat man – in
Erwartung amerikanischer Wolkenkratzer – eine europäische Stadt mit
dreistöckigen Mietshäusern gebaut.“
Aus Deutschland stammende Juden spielen bei dieser Entwicklung zunächst
keine herausragende Rolle. Zwar ist Deutschland ein Zentrum des Zionismus,
doch nur die wenigsten Juden können sich dazu entschließen, ins Land ihrer
Vorväter zurückzukehren. Schließlich sind sie daheim integriert und fühlen
sich als gleichberechtigte deutsche Staatsbürger. Wozu dann einen Neuanfang
im unterentwickelten Orient wagen? Arthur Ruppin ist eine seltene Ausnahme.
Der Architekt Richard Kauffmann, der 1920 einwandert, eine andere: Bis 1933
kommen nur 2.000 deutsche Juden nach Palästina – weniger als ein Prozent
des jüdischen Bevölkerungsanteils.
Die deutschen Juden, die sich mit Beginn der Nazi-Herrschaft nach Tel Aviv
retten können, treffen auf eine Mischung aus ostjüdischer und
orientalischer Kultur. Für viele unter ihnen ist Palästina ein
Kulturschock. Sie sprechen kein Hebräisch, doch Deutsch, die Sprache der
Nazis, ist verpönt. Sie haben die falschen Berufe. Von 250 Rechtsanwälten,
die 1933, aus Deutschland kommend, in Palästina eintreffen, müssen fast
alle umschulen. Die Einwanderer aus Deutschland sind bisweilen schon älter
und entsprechend weniger flexibel. Sie entsprechen so gar nicht dem Vorbild
des muskulösen zionistischen Pioniers. Sie müssen dennoch ganz von vorne
anfangen.
Viola Virshubski erinnert sich in ihrer Wohnung an der Ben-Yehuda-Straße,
dass ihr Vater, ursprünglich ein wohlhabender Arzt, zunächst keine Stellung
finden konnte. Er musste sich jahrelang mit dem Verkauf von Büchern über
Wasser halten. Sie erzählt: „Wenn man auf der Straße Deutsch sprach, wurde
man schief angeguckt. Meine Eltern haben dennoch nie richtig Hebräisch
gelernt. Mein Vater hatte einen Privatlehrer. Wir haben Witze gemacht, denn
er hat die Sprache furchtbar schlecht gelernt. Man hat über die Jeckes
gelacht, weil sie sich anders benahmen. Sie waren Europäer. Sie sind
Europäer geblieben. Für meine Eltern war all das ziemlich schlimm.“
Ihr Mann Mordechai, Jahrgang 1930, ergänzt: „Für uns Kinder war es einfach.
Wir konnten überall auf der Straße spielen, es gab ja kaum Autoverkehr. Die
Sprache erlernten wir dort automatisch. Wir lebten uns rasch ein. Für die
Eltern war es viel schwerer. Mein Vater besaß in Tel Aviv ein Geschäft für
Lampen, Taschenlampen und Glühbirnen – einen sehr kleinen und sehr schlecht
gehenden Laden. In Leipzig war er ein angesehener Kaufmann gewesen. Jedes
Jahr ging es im Sommer nach Italien und zur Kur in die Tschechoslowakei.
Hier waren wir viel ärmer – nicht nur ökonomisch. Auch gesellschaftlich war
das ein Rückschritt.“
Vielen Jeckes gelingt es, einen Teil ihrer Möbel nach Palästina
mitzubringen. Das Palästina-Amt in der Berliner Meinekestraße 10, das die
viel zu wenigen Einwandererzertifikate für die so dringend gesuchte neue
Heimat vergibt, erstellt 1936 Empfehlungen: „Sehr angenehm und billig im
Gebrauch sind elektrische Eisschränke und sonstige elektrische
Haushaltsgeräte wie Plätteisen, Staubsauger, Ventilatoren. Es empfiehlt
sich für jeden Palästinawanderer, seinen Bücherbestand mitzunehmen, nachdem
schlechte und wertlose Bücher ausgesondert sind.“ Mordechai Virshubski
dazu: „Wir haben unsere ganze Bibliothek mitgebracht. Meine Mutter hat nur
deutsche Bücher gelesen. Sie sprach Deutsch, Französisch Russisch und
Polnisch. Aber kein Hebräisch.“ Goethe, Schiller und Heine halten Einzug
ins Heilige Land.
Frühere jüdische Einwanderer aus Osteuropa waren jung und arm, und sie sind
in den Dreißigerjahren etabliert. Von 1933 an trifft der deutsch-jüdische
Mittelstand in Palästina ein. Er hat andere Vorstellungen vom Alltagsleben.
Man sehnt sich nach richtigen Restaurants statt der offenen Garküche an der
Straße. Viele vermissen den gewohnten Filterkaffee und die gebildeten
Gespräche im Kaffeehaus. Manche trauern den gewohnten Knödeln und dem
Sauerbraten nach, wagen es anfangs nicht, exotische Oliven und Humus zu
kosten. Diese banalen Umstellungsprobleme mögen heute, im globalen
Multikultizeitalter, verstaubt wirken.
Damals waren sie eine kleine Tragödie. Winzig klein gar im Vergleich zum
Mord an sechs Millionen Menschen. Aber für die Betroffenen dennoch
tragisch.
Eugenie Afuri Ajad denkt im Altersheim an die alten Zeiten zurück: „Die
Lebensmittelgeschäfte waren eine Katastrophe. Ich erinnere mich, dass das
Brot unverpackt auf der Erde stand und die Hunde daneben liefen.“ Eleonora
Weinstein, 95, ursprünglich aus Köln, fällt die Marmelade ein, die beim
Verkauf aus einem Pott auf Papier geklatscht wurde. Und Hans Landau,
Jahrgang 1922, weiß von den Eiswagen zu berichten, wo man die Blöcke
Gefrorenes abholen musste, um sie anschließend in die Küche zu tragen.
Die Jeckes beginnen, sich von der übrigen Gesellschaft entsprechend
abzusondern. Sie gründen zum Beispiel ihre eigenen Restaurants, wo sie
weiterhin Deutsch miteinander sprechen können. „Da gab es die vielen Cafés
in der Ben-Yehuda-Straße“, erinnert sich Viola Virshubski: „Da saßen nur
Deutsche, Ärzte, Rechtsanwälte, Schauspieler. Man hat ausschließlich
Deutsch gesprochen.“ An der Kaffeetafel im Altersheim Pinchas Rosen meint
der 89-jährige Oded Baumann unter allgemeiner Zustimmung: „Ohne die Jeckes
könnten wir gar keinen Kaffee trinken. Vorher gab es nur türkischen Kaffee.
Anständiger Kaffee kam mit Herrn Loewe, der in Königsberg eine Rösterei
besaß und hier die Firma Atari gegründet hat.“
Mit den Jeckes kommen typisch deutsches Organisationstalent und Fachwissen
nach Palästina. Sie bringen Neues, bisher nie Dagewesenes nach Tel Aviv:
elegante Geschäfte und Kaufhäuser mit großen Schaufenstern, Hotels mit
Bädern in den Zimmern, Industriebetriebe mit modernen Maschinen. Unter den
deutschen Einwanderern sind bekannte Musiker, die das gerade gegründete
Philharmonische Orchester von Tel Aviv verstärken. Die einwandernden Ärzte
sorgen für eine nachhaltige Verbesserung im Gesundheitswesen. Es kommen
Mathematiker und Statistiker, die für Ordnung und Übersicht in den
zionistischen Behörden sorgen. So lösen die Jeckes in ganz Palästina einen
gewaltigen Entwicklungsschub aus, politisch, wirtschaftlich und besonders
kulturell. So wie Nazi-Berlin kulturell verödet, so erblüht Tel Aviv.
Viele Menschen finden freilich zunächst keine Beschäftigung. Sie suchen
nach Nischen, um irgendwie zu Geld zu kommen. Noch heute erinnern sich
viele Tel Aviver an die älteren Männer, die in den Straßen mit Bauchläden
Bücher verkaufen mussten.
Erste Anlaufstelle für viele der Einwanderer wird die Hitachdut Olej
Germania, die Interessenvertretung der deutschsprachigen Juden. Der 1932
gegründete Verband kümmert sich um Jobs, organisiert Hebräischkurse,
verteilt schon auf den Schiffen Informationen über das künftige Leben in
Erez Israel: „Welchem Spediteur übergebe ich die Abfertigung meines
Gepäcks? In welcher Pension werde ich absteigen? Wo kaufe ich Möbel und
Einrichtungsgegenstände?“, sind die drängenden Fragen. Olej Germania
eröffnet schon bald Einwandererwohnheime, Sammelstellen für gebrauchte
Kleidung, Sanatorien, Suppenküchen und eine Hilfskasse für Sozialfälle.
1933, im ersten Jahr der Nazi-Herrschaft, gehen mehr als 20.000 Hilferufe
bei den „ollen Germanen“ ein, so die liebevolle Bezeichnung für die
Organisation. Lotte Norbert erinnert sich: „Ich ging zur Olej Germania. Die
gaben mir eine Adresse, wo ich als Dienst- und Kindermädchen anfangen
konnte.“
Der Anfang im neuen Land fällt vielen Jeckes schwer. Die Alten leiden unter
Umstellungsproblemen, die Jungen durften in Nazi-Deutschland keinen Schul-
oder Universitätsabschluss mehr ablegen. Oded (Horst) Baumann berichtet an
der Kaffeetafel im Altersheim über seine ersten beruflichen Schritte in Tel
Aviv: „Ich wollte eigentlich Grafiker werden, aber das klappte nicht. Mein
ältester Bruder arbeitete in einer Garage, da kam ich auch hin und lernte
Auto fahren. Dann war ich bei einer Tischlerei. Schließlich fand ich einen
Job in einem Reklamebüro. Dort lernte ich Gebrauchsgrafik. Aber ich musste
ja Geld verdienen. Damals machte in Tel Aviv eine deutschsprachige Zeitung
auf, Blumenthals Neueste Nachrichten. Die nannte man nur Blumenkohl. Da war
ich ein paar Jahre. Ich besaß eine Halbtagsstelle, aber ich arbeitete
täglich zwölf Stunden.“
Immer wieder appelliert Olej Germania an die Neueinwanderer, die
Landessprache zu erlernen. Die deutschen Flüchtlinge sollen sich im Land
integrieren. „Lernt hebräisch!“, heißt es regelmäßig im Mitteilungsblat…
das zunächst fast ausschließlich in deutscher Sprache erscheint. Zugleich
wird entschuldigend mitgeteilt: „Die Inserate erscheinen in derjenigen
Sprache, die der Inserent wünscht.“ Es ist fast ausschließlich Deutsch.
Misstrauisch beäugt von ihrer Umgebung, bleiben die Jeckes bei ihrer
eigenen mitteleuropäischen Kultur. Eine Unzahl bösartiger Witze kursiert
über sie, wobei der Verdacht naheliegt, dass die allermeisten von den
Jeckes selbst erfunden worden sind. „Wie macht man in Palästina ein kleines
Vermögen? Indem man ein großes mitbringt.“ „In Tel Aviv wird ein neues Ha…
gebaut. Ältere Männer bilden eine Kette, einer reicht dem anderen Stein um
Stein: ‚Danke schön, Herr Professor‘, ‚bitte schön, Herr Doktor‘,
‚selbstverständlich, Herr Oberstudienrat.‘ “
Tatsächlich ist die fünfte Alijah und die Einwanderung der deutschen Juden
eine große Erfolgsgeschichte. In der israelischen Gesellschaft werden die
Jeckes nach Jahrzehnten der Ignoranz heute verehrt, weil sie
westeuropäische Standards ins Land gebracht haben. Manche ehemalige
Deutsche haben bemerkenswerte Karrieren gemacht: Xiel Federmann begründete
die Dan-Hotelkette, Stef Wertheimer ist Boss großer Industrieunternehmen
(und hat nebenbei ein Jeckes-Museum finanziert), Salman Schocken machte die
Tageszeitung Ha’aretz zum Qualitätsblatt, Pinchas Rosen wurde erster
Justizminister Israels, Alex Bein leitete das Staatsarchiv.
In Tel Aviv aber verändern die Neueinwanderer das Antlitz der ganzen Stadt.
Jüdische Architekten zählen mit zur ersten Gruppe, die in Nazi-Deutschland
ein Berufsverbot erhält und deshalb zur Emigration gezwungen wird. Sie
bringen neuzeitliche Vorstellungen nach Palästina mit: das Bauhaus. Manche
alteingesessene Juden haben in Dessau und Berlin Architektur studiert,
andere erlernen am Technion in Haifa die Grundsätze des neuen Bauens. Sie
und die Neueinwanderer prägen die Veränderung Tel Avivs zur weißen Stadt.
Im Jahre 1925 hatte Tel Aviv durch den Schotten Sir Patrick Geddes endlich
einen ersten Bebauungsplan erhalten. Er sieht ein hierarchisch
strukturiertes Straßennetz mit baumbestandenen Boulevards, breiten
Hauptstraßen, kleinen Nebenstraßen und vielen Plätzen vor. Zahlreiche
Gärten und eine lockere Bebauung sollen Tel Aviv einen grünen Charakter
geben. Letzteres lässt sich freilich nicht durchhalten. Die großen
Einwanderungswellen und das damit verbundene dynamische Wachstum Tel Avivs
zwingen zu Kompromissen. Es wird eng.
Von Beginn der 1930-Jahre an setzt sich in Tel Aviv der unter anderem von
Le Corbusier und Mies van der Rohe entwickelte „International Style“ in der
Architektur mit seinen kühlen Flächen, kubischen Formen, asymmetrischen
Kompositionen und der Verweigerung dekorativen Schnickschnacks durch. Der
Baukörper erhält geometrische Grundformen, ein Flachdach, teilweise
Glaswände. Das Haus hat den Menschen, die darin wohnen, zu dienen, nicht
umgekehrt, lautet das Prinzip.
Links und rechts des Rothschildboulevards im Süden, an der Gordonstraße im
Norden, rund um den Dizengoffplatz im Zentrum: die Gebäude des
„International Style“ prägen die Stadt. Manche Fassaden sind gerundet wie
Meereswellen, manche auffallend kantig, viele Häuser besitzen ein
verglastes Treppenhaus, fast alle sind mit Balkonen ausgestattet und stehen
auf Säulen. Alle aber sind sie weiß – deshalb die weiße Stadt. Das moderne
Bauen musste im heißen Tel Aviv neu interpretiert werden. So entwickelten
sich aus den langen Fensterbändern lange, häufig geschwungene Balkonbänder
mit hohen Brüstungen, um die Wärme aus den Wohnungen zu halten. Nirgendwo
auf der Welt hat der „International Style“ so flächendeckend eine Stadt
geprägt wie in Tel Aviv. 3.700 Gebäude entstanden zwischen 1931 und 1948.
In Nazi-Deutschland werden Bauhaus und „International Style“ verboten,
nordische Spitzdächer und Furcht einflößende Säulengänge erobern Berlin. In
Tel Aviv gewinnt die Leichtigkeit.
Doch für manche der Neueinwanderer aus Deutschland gibt es unangenehme
Überraschungen. Ihre gewaltigen Vertikos und Bücherschränke passen nicht in
die niedrigen Wohnungen der Moderne. Dabei hatte doch das Palästina-Amt in
Berlin eindringlich vor der Mitnahme klobiger Möbelstücke gewarnt. So
scheitert die deutsche Mahagoni-Einrichtungsarchitektur an den
Verhältnissen in der neuen Stadt. Stahlmöbel sind auch praktischer.
Im vom Wachstum besessenen Tel Aviv hat es freilich noch einmal fast
fünfzig Jahre gedauert, bis man im hässlichen Rathausneubau entdeckte,
welch einmaliges architektonisches Erbe man dort beherbergt. Bis dahin
waren schon manche Bauhaus-Gebäude einfallslosen Neubauten gewichen, hatten
die Bewohner der verbliebenen Gebäude in Eigenregie Balkone verbaut, Häuser
aufgestockt, die Wände eingerissen und die glatten Fassaden warzengleich
mit Klimageräten verunziert. Viele Bauhaus-Gebäude, so die
Sammelbezeichnung für die Neubauten der Dreißiger und Vierzigerjahre in Tel
Aviv, sind dennoch erhalten. Dank des Engagements der Architektin Nitza
Szmuk zählen sie seit dem Sommer 2003 zum Unesco-Weltkulturerbe. Eintausend
sind zur Erhaltung vorgesehen. Einige hundert hat man schon restauriert.
Die Tourismusvermarkter haben sie entdeckt, und die Tel Aviver sind stolz
auf sie. Ganz besonders die Jeckes.
Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs kommen fast keine Einwanderer mehr. Sie
sind in Deutschland gefangen. Dafür nähren sich die Truppen der Wehrmacht.
Rommels Afrikakorps steht 1941 tief in Nordafrika. Die Nazis wollen mit
einer Einsatzgruppe analog zum Massenmord in der Sowjetunion die
palästinensischen Juden umbringen, wenn sie das Land erst einmal besetzt
haben. Ein Jahr später werden die Deutschen in der Schlacht bei El Alamein
geschlagen.
Viele junge Jeckes melden sich freiwillig zum Dienst in der britischen
Armee. „Es war selbstverständlich, dass wir am Kampf gegen die
Nationalsozialisten teilnahmen. Ich ging 1940 zur Royal Air Force“,
berichtet Hans Landau im Altersheim Pinchas Rosen. Oded Baumann, geboren
1919 in Berlin, besitzt 1940 nur den alten, deutschen Reisepass, weil er
seinen palästinensischen Ausweis verloren hat: „Ich habe mir überlegt, dass
der deutsche Pass vielleicht nicht das Richtige ist, um in die britische
Armee einzutreten. Da nahm ich den Spielerpass meiner Fußballmannschaft
mit. Sie haben mich genommen, und ich kam zur Luftwaffe. Anfangs konnte ich
kein einziges Wort Englisch.“
Nach dem Krieg erreicht eine neue Einwandererwelle Palästina: Es sind die
europäischen Überlebenden des Holocaust, die nun ins Land drängen. Es sind
nicht mehr viele deutsche Juden unter ihnen, denn fast alle sind von den
Nazis ermordet worden – so wie Lotte Norberts Eltern, die in Auschwitz
umkamen. 1948 gründet sich der Staat Israel. Die Männer, die noch kurz
zuvor in der britischen Armee gegen die Nazis gekämpft haben, werden erneut
eingezogen, als arabische Armeen aus Ägypten, Jordanien, Syrien, dem
Libanon und dem Irak das Land überfallen.
Die Jeckes gliedern sich in die israelische Gesellschaft ein, aber sie
bleiben über die Jahrzehnte etwas Besonderes. Sie fühlen sich nicht als
Deutsche, aber sie können ihre deutsche Herkunft nicht verleugnen. Sie
veranstalten private Kulturabende in ihren Wohnungen. Sie organisieren sich
als die wahren Vertriebenen in Landsmannschaften ehemaliger Breslauer,
Berliner, Kölner. Viele der älteren Einwanderer haben nie wieder deutschen
Boden betreten nach dem, was die Deutschen ihnen angetan haben. Doch in Tel
Aviv bleibt die Ben-Yehuda-Straße ein bisschen deutsch. „Es gab dort so
viele Jeckes“, erzählt Viola Virshubski, die der Gegend bis heute treu
geblieben ist. „Es gab Delikatessengeschäfte und Kaffeehäuser. Alle Metzger
waren Jeckes. Alle haben sich gekannt.“
Die deutsche Schriftstellerin Ulla Berkéwicz, heute Leiterin des Suhrkamp
Verlags, erinnert sich, wie sie vor fünfzehn Jahren mit ihrem späteren Mann
Siegfried Unseld zur Ben Yehuda kam: „Das war unglaublich: Für zweihundert
Meter haben wir sechs Stunden gebraucht. Wir kommen an einem Zeitungsladen
mit Leihbüchern vorbei, da steht ein älterer Mann davor. Die beiden Männer
reden zwei Stunden miteinander, und es geht nur um deutsche Kultur. Dann
gehen wir weiter, und da kommt die Buchhandlung Landsberger. Siegfried
Unseld schaut ins Fenster und sagt: ‚Moment mal, da stehen Suhrkamp-Bücher.
Da muss ich rein.‘ Wir gehen hinein, und da sitzt der Antiquar, Herr Laske,
und sagt: ‚Guten Tag, Herr Unseld.‘ Da ist der natürlich baff. Das dauert
wieder zwei Stunden. Danach gehen wir in ein Café, und Siegfried Unseld
bestellt drei Tee. Ich frage ihn: ‚Wieso drei?‘ Da verabschiedet er sich,
geht über die Straße und bleibt wieder zwei Stunden bei dem
Zeitungshändler.“
Heute sind die meisten Kaffeehäuser an der Ben Yehuda Geschichte. Der
gebürtige Berliner Antiquar Ernst Laske, ein wandelndes Lexikon deutscher
Literatur, ist vor einigen Jahren verstorben, die Buchhandlung Landsberger
hat sich verkleinert und ist umgezogen. Fast alle Jeckes sind tot. Viele
ihrer Kinder und Enkel verstehen kein Deutsch, schon gar nicht können sie
die Frakturschrift in den alten Büchern entziffern. Goethe, Schiller und
Heine landen auf dem Sperrmüll. Auf dem Flohmarkt entdecken wir alte
Briefe, die eine in Berlin zurückgebliebene Mutter 1938 an ihren Sohn in
Palästina geschrieben hat.
Tel Aviv aber entwickelt sich weiter, und weil die Fläche eng begrenzt ist,
geht es nach oben: Wolkenkratzer, die der Sozialist Vanderfelde 1929
vergeblich suchte, umkränzen heute das Zentrum. Gewaltige und fantasielose
Betonungetüme mit Großhotels haben den „International Style“ entlang dem
Strand verdrängt. Doch weil die City so attraktiv wie beliebt geblieben
ist, entwickeln sich auch Immobilien- und Mietpreise immer weiter in die
Höhe. „Die Blase“ wird Tel Aviv von Einheimischen genannt. Eine
Einzimmerwohnung ist kaum unter 400 US-Dollar im Monat zu haben. Mit 5.000
Dollar pro Quadratmeter sind die Immobilienpreise die höchsten des Nahen
Ostens, höher noch als in Dubai. Die wertvollsten Wohnungen aber finden
sich in den restaurierten Bauhaus-Gebäuden am schattigen
Rothschildboulevard mit seinen wunderbaren Kiosken, wo die Fruchtsäfte
frisch gepresst ausgeschenkt werden: Dort kommt der Quadratmeter bei
Luxuswohnungen auf bis zu 15.000 Dollar. „Das größte Problem hier sind die
hohen Miet- und Kaufpreise“, sagt Edina Meyer-Maril, Dozentin an der
Architekturschule. „Reiche kaufen die Stadt auf, auch als Kapitalanlage,
bewohnen aber die Häuser nicht. Aber, wie alles hier: Morgen kann es schon
wieder ganz anders kommen.“
Manche Häuser allerdings sind vom Zahn der Zeit und der aggressiven
salzigen Meeresluft angenagt und verschmutzt. Ihr Weiß ist einem
schmutzigen Grau gewichen. „Viele Gebäude an der Ben-Yehuda-Straße sehen
schrecklich aus. Mir tut das richtig weh“, meint Viola Virshubski: „Die
Hauswirte vermieten an junge Leute und stecken kein Geld in Renovierungen.“
Zur Rushhour erstickt die Stadt im Verkehr, schwarze Giftwolken entweichen
den Dieselmotoren der vielen Omnibusse und machen das Atmen schwer.
Straßen, Busse, Fußgängerwege, ja selbst der feine Sandstrand mit seinen
Restaurants – alles ist zumindest voll von Menschen, an „guten Tagen“ aber
völlig überfüllt. Tel Aviv ist Kapitalismus pur, ohne israelische
Kibbuzromantik, ohne ehrwürdige Altstadtmauern wie in Jerusalem – obwohl
die mächtige Histadruth-Gewerkschaft ihre Zentrale in der Stadt hat und die
Arbeitspartei lange Zeit die Regierung stellte.
Aber es ist ganz wunderbar.
Besoffene russische Neueinwanderer auf Parkbänken, ondulierte Damen beim
Nachmittagscafé, müde Obdachlose am Busbahnhof, eilige Köfferchenträger
ohne Krawatte, gelangweilte Soldatinnen und Soldaten, lässig das Gewehr auf
der Schulter, Familien auf dem Weg zum Strand, gewaltige Kühlboxen
schleppend, genervte Autofahrer im Dauerstau, Minibusfahrer der Linie vier
mit den kürzesten Stoppzeiten der Welt, Humusverkäufer, Kioskverkäufer (24
Stunden geöffnet), der ältere Antiquar mit schütteren Haaren und
verstaubten deutschsprachigen Büchern, genervte Polizisten, begeisterte
amerikanische Touristen, junge Asiatinnen, in der Altenpflege beschäftigt,
Studenten, Lehrer, Arbeiter, Kinder, keine Schuhputzer – Tel Aviv ist keine
ganz normale Stadt am Meer. Hier geht es israelisch und gleichzeitig
international (und ein bisschen orientalisch) zu. Westeuropa verschmilzt
mit Russland und Amerika. Der Gazastreifen aber ist unendlich weit
entfernt.
Die „Olej Germania“ – die „ollen Germanen“ – die heute „Vereinigu…
Israelis mitteleuropäischer Herkunft“ heißt, hat ihren Sitz seit
Jahrzehnten in der zentral gelegenen Rambamstraße. Auch das
Mitteilungsblatt erscheint weiterhin – zur Hälfte auf Deutsch, zur andern
auf Hebräisch. Direktorin Devorah Haberfeld und ihre Mitarbeiter können
sich über Mangel an Arbeit nicht beklagen. Der Verein unterhält ein Netz
von Altersheimen für die Jeckes, unterstützt Holocaust-Überlebende, von
denen viele mit winzigen Renten überleben müssen, organisiert Kulturabende
– im letzten Oktober feierte er seinen 75. Geburtstag. Doch wenn der Verein
hundert Jahre alt wird, wird es keine Jeckes mehr geben. „Das wird
Geschichte sein. Aber bald wird keiner mehr davon wissen, wenn wir alle weg
sind“, sagt Viola Virshubski. Sie zählt mit ihren 76 Jahren zu den
Jüngsten.
Die Jeckes sind keine deutschen Juden. Schon gar nicht stehen sie für die
vor der Nazi-Herrschaft viel beschworene deutsch-jüdische Symbiose. Sie
sind Überlebende und Zeitzeugen des Epochenwandels von der demokratischen
Weimarer Republik zur Nazi-Diktatur in Deutschland und des Aufbaus der
Stadt Tel Aviv und des Staates Israel. Und sie sind die letzten Vertreter
einer deutschsprachigen jüdischen Kultur, die es in Deutschland selbst
nicht mehr gibt.
Im Galil, der bergigen Region ganz im Norden Israels, werden die Jeckes
weiterleben. Die „ollen Germanen“ möchten dort einen Wald pflanzen, als
Zeichen der Verwurzelung in ihrem Land. Die ersten Sprösslinge sind schon
gesetzt.
KLAUS HILLENBRAND, Jahrgang 1957, ist taz-Redakteur. Im September erscheint
sein Buch „Nicht mit uns“ über das Schicksal der jüdischen Familie
Frankenstein in Nazi-Deutschland (Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag)
3 May 2008
## AUTOREN
KLAUS HILLENBRAND
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