Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Bevor der Osten Pop wurde
> Wie die DDR es geschafft hat, ihre loyalen Bürger zu vergraulen: Klaus
> Kordons Jugendroman „Krokodil im Nacken“ ist ein provozierendes Buch für
> alle Zonenkinder, die die Gnade der späten Geburt in ihrer ostdeutschen
> Version genießen. Es gab eine Zeit, da man für einen Witz wirklich ins
> Gefängnis kam
von JOCHEN SCHMIDT
Einmal in der Woche bekommt Manfred Lenz im Stasi-Knast ein Buch. „Bitte
was dickes“, sagt er dann zum Wärter. Selbst wenn es nur ein Werk zur
Pflanzenwelt Sibiriens ist. Als er einmal Sätze mit dem Daumennagel
unterstreicht, bekommt er zur Strafe keine Bücher mehr.
„Krokodil im Nacken“ müsste ein gutes Knastbuch sein. Jemanden, der mir
prophezeit hätte, ich würde noch einmal ein 800-Seiten-Buch lesen, dessen
Autor nicht Thomas Mann heißt, hätte ich für verrückt erklärt. Jetzt ist es
doch passiert, und es hat sich gelohnt. Klaus Kordon hat sich viel Zeit
gelassen für diese Lebensbeschreibung. Sie erscheint in einer Zeit, in der
Berichte aus der End-DDR von naiv-kecker oder kalkuliert-nostalgischer Art
marktfähig werden, was so viel heißt, wie: im Westen absetzbar, denn die
Umsätze im Osten schlagen auf dem Buchmarkt nach wie vor kaum ins Gewicht.
Überträgt man Moritz Baßlers Thesen über den (west)deutschen Poproman der
90er auf die Literatur von DDR-sozialisierten Autoren, dann könnte man
sagen: hat sich dort ein Schreiben durchsetzen müssen, bei dem man nicht
mehr hinter jedem Text die deutsche Kollektivschuld mitdenken muss, dann
gibt es hier neuerdings eine Literatur, die sich nicht mehr über die
Mauertoten legitimiert. Diese verschiedenen Temperamente beruhen auf
verschiedenen Erfahrungen, deshalb wäre es sinnlos, sie gegeneinander
auszuspielen.
Jedes Leben könnte Stoff für einen Roman abgeben, und die Entwicklung eines
Menschen von der Geburt bis zum Tod ist immer noch ein unschlagbarer Plot.
In „Krokodil im Nacken“ verfolgt man gleichzeitig zwei spannende
Geschichten: In der Rahmenhandlung befindet sich Manfred Lenz, des Autors
Alter Ego, nach einem gescheiterten Fluchtversuch getrennt von seinen
Kindern und seiner Frau in Stasieinzelhaft. In Rückblicken erfahren wir die
Lebensgeschichte des Helden, man weiß also schon, dass er sich irgendwann
gegen die DDR entscheiden wird, und wie diese Entscheidung in ihm reift,
ist schmerzhaft mitzuerleben. Denn es ist ein Bericht darüber, wie die DDR
es geschafft hat, ihre eigentlich loyalen Bürger zu vergraulen, bis sie die
Flucht ergriffen oder einknickten.
Lenz ist kein Arbeiterkind, aber er wächst im Schankraum des „Ersten
Ehestandsschoppen“, der von seiner Mutter geführten Prenzlauer Berger
Stampe auf. Mitten in einem kleinkriminellen, proletarischen Milieu, wie es
zumindest aus dem Prenzlauer Berg schon fast verschwunden ist. Hier
erhalten diese gescheiterten Gestalten, denen der Krieg noch in den Knochen
steckt, ein ihnen gebührendes Denkmal. Die Abenteuer in den Ruinen, die
Angst vor den Russen, der Hunger, Laternenanzünder, der Pferdestall in der
Stargarder, der Exer, Brikett-Anna, Kippen-Marie, Hemden-Rudi, was für ein
Milieu!
Als Lenz’ Mutter stirbt, kommt er auf Umwegen in ein Kinderheim auf der
Berliner Insel der Jugend. Eigentlich sollen die Kinder dort auf den
Sozialismus getrimmt werden, aber sie unternehmen Spreetouren in geklauten
Booten und Ausflüge in den Westen („ein ewiger, bunter Weihnachtsmarkt“).
Lehre, Knochenarbeit in „Oberschweineöde“ im Kabelwerk Oberspree,
Parterrewohnung in der Dunckerstraße, mit Eisblumen an der Scheibe. Die
große Liebe beim Tanz im Plänterwald, Hochzeit, das erste Kind, NVA. Lenz
bildet sich weiter und bringt es bis zum Außenhandelskaufmann. Dienstreisen
in den Westen, bis nach Indonesien. Alles ohne Parteibuch. Aber je weiter
es nach oben geht, umso schwerer wird es, integer zu bleiben.
Das Buch zeichnet diesen Entfremdungsprozess nach. Die Frage: hierbleiben
oder in den Westen gehen, stand schon von Anfang an, und der Held hat sich
immer für die DDR entschieden: „Er sah das ganze Ost-West-Problem mehr
unter dem sportlichen Aspekt. Der Zufall hatte ihn, Manfred Lenz, in die
OstBerliner Mannschaft geweht – wie konnte er dafür sein, dass die
WestBerliner Truppe gewann?“ Lieber wäre ihm als Berliner natürlich eine
gemeinsame Mannschaft gewesen, denn Gesundbrunnen und Ku’damm gehörten seit
seiner Kindheit genauso zu seinen Erkundungsgebieten wie Prenzlauer Berg
und Alexanderplatz.
Aber der Druck nimmt zu. Es begann damit, dass er in der Schule von einer
Lehrerin als kleinbürgerliches Individuum bezeichnet wurde, und es endete
mit Prag ’68 und dem erzwungenen Verlesen einer Erklärung vor den
Mitarbeitern. Lenz kündigt, aber die ideologische Beeinflussung der eigenen
Kinder in der Schule macht ihm zu schaffen. Bis seine Frau und er den
Entschluss fassen, mit gefälschten Pässen über Bulgarien zu fliehen.
Sie werden verraten und in Burgas gefangen genommen. Über den
mittelalterlichen bulgarischen Knast gelangen sie nach Hohenschönhausen zur
Stasi. Ohne Nachricht voneinander, die Kinder getrennt im Heim, kein
Rechtsbeistand. Verhöre und die Öde langer Tage, in denen eine Wespe in der
Zelle schon zur willkommenen Abwechslung wird. Ein Jahr wird die Haftzeit
dauern, bis die Eltern in den Westen freigekauft werden.
Die Verhöre mit dem höflichen Leutnant, der um diese verlorene Seele zu
kämpfen scheint („Wir geben niemanden auf“), sind brillant wiedergegeben.
Die ganze Absurdität dieser Dispute zum „Fall DDR“, in denen Aussage gegen
Aussage steht: „Wir reichen Ihnen die Hand, um Ihnen wieder auf die Füße zu
helfen.“
Es ist bedrückend, wie einen diese Kasuistik nach wie vor auf die Palme
bringt, wenn man sie einmal erlebt hat, und sei es nur im Kampf gegen das
leidige FDJ-Hemd. Die Logik: bist du nicht für uns, bist du gegen uns und
damit schon ein Feind des Friedens, mit der die DDR jede Kritik unmöglich
machte. Der Verfolgungswahn des Systems: „Sie haben zu viele amerikanische
Filme gesehen.“ Dieses Verhörvokabular: „Mit Ihrem Gerede von der
bürgerlichen Freiheit verbrämen Sie doch nur Ihre pessimistischen
Positionen.“
Dabei wurde aufgewogen: Studium, Karriere, Wohnung, Dienstreisen ins
Ausland, für einen Sohn des Kleinbürgertums, konnte man dafür nicht ein
bisschen Dankbarkeit erwarten? Also den Eintritt in die Partei? Warum
Menschen wie Manfred Lenz diesen leichten Weg nicht gegangen sind, sondern
sich hier eine klare Grenze gesetzt haben, bleibt die Frage. Eine
Charakterfrage? Oder eine der Erziehung?
Es ist ein provozierendes Buch für alle, die die Gnade der späten Geburt in
ihrer ostdeutschen Version genießen. Es macht deutlich, warum die
Verständigung so schwerfällt zwischen den Kindern der 50er und 60er Jahre
und denjenigen, deren Jugend in die 80er fiel, wo niemand mehr ohne
weiteres für einen Witz oder ein verbotenes Buch ins Gefängnis kam.
Die Verletzungen der Älteren kann man nicht wieder rückgängig machen, aber
sollen die Jüngeren darunter leiden? Unterschätzt man seine Kinder nicht,
wenn man ihnen nicht zutraut, den Mummenschanz irgendwann zu durchschauen?
Selbst wenn man eine Zeit lang alles nachplappert und sich wundert, warum
die Oma in Hamburg bei den Bösen wohnt, fängt man doch irgendwann zu denken
an. Die Ideologie kam in der DDR zuletzt so hölzern daher, und das ganze
vorgegaukelte Jugendleben war so spaßfrei, dass es sehr leicht fiel, sich
mit der anderen Seite zu identifizieren. Wirklich gefährlich kann ein
System doch nur sein, wenn es seine Jugend fasziniert.
Aber die DDR wäre nicht an so vielen Stellen gleichzeitig zerbröckelt, ohne
den Druck, den Unzufriedene wie Lenz ausgeübt haben. Wenn man heute liest,
wie es in diesem Land einmal zugegangen ist, dann wundert man sich, dass
der Respekt vor der Staatsmacht so weit verloren gehen konnte, dass man die
Wasserwerfer und Stasi-Schläger im Oktober ’89 als Schock empfand. Damit
hatte man nicht gerechnet. Man hätte es besser wissen können.
Das Erstaunlichste an „Krokodil im Nacken“ bleibt, dass der Autor keine
alten Rechnungen begleicht. Es ist kein bitteres Pamphlet gegen das
Vergessen geworden. Und es ist mehr als eine Abrechnung mit der DDR. Es
zeichnet vor allem die beispielhafte Biografie eines Kindes ärmlicher
Herkunft aus dem Prenzlauer Berg nach. Genese des Autors in einem Bezirk,
durch den nach dem Krieg kleine Dampfeisenbahnen fuhren, um den Schutt zum
Mont Klamott zu fahren. Trümmerfrauen in den zu großen Jacken ihrer
gefallenen Männer. Klassenkameraden, die im Winter nicht zur Schule kommen,
weil ihre Schuhe beim Schuster sind.
Für gestandene Bewohner dieses Bezirks könnte es fast schon die Qualitäten
von Heimatliteratur haben, denn man freut sich über die vertrauten
Straßennamen und das inzwischen ja schon fast in Vergessenheit geratene
Berlinerische. „Nuckelpinne“ hat man doch als Kind auch immer gesagt. Und
am Helmholtz-Platz gab es ein Kino?
Für andere, die die Straßennamen noch lernen müssen, könnte es eine
Pflichtlektüre sein. Wer weiß noch, was der Exer war? Wer kann sich
vorstellen, dass hier nach dem Krieg „Pendlerinnen“ umgingen, die die
Eheringe der Frauen über den Bildern der vermissten Männer pendeln ließen,
um herauszubekommen, ob sie noch lebten? Arbeiterkultur gibt es ja kaum
noch, am Personal des „Ersten Ehestandsschoppen“ und an den Arbeitern des
KWO sieht man, warum die Arbeiterklasse einmal verherrlicht werden konnte.
Denn mit Witz und Vorbehalten begegnen diese Menschen jeder Staatsmacht.
Was für eine Schule des Lebens für den Sohn der Wirtin.
Klaus Kordon: „Krokodil im Nacken“. Beltz, Weinheim 2002. 795 S., 19,80 €
11 Jan 2003
## AUTOREN
JOCHEN SCHMIDT
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.