| # taz.de -- Die schüchterne Guerillera | |
| > Am 22. August 1978 stürmen 26 sandinistische Guerilleros den | |
| > Nationalpalast von Managua. Die Revolution in Nicaragua beginnt. Dora | |
| > María Téllez führt sie an | |
| Sie galt für viele Frauen als ein Sinnbild der Revolution: jung, | |
| unerschrocken und von einer herben Schönheit. Literaturnobelpreisträger | |
| Gabriel García Márquez schilderte sie in einer Nacherzählung der Ereignisse | |
| als „ein schüchternes, in sich vertieftes, schönes Mädchen“ und | |
| bescheinigte ihr „eine Intelligenz und eine klare Urteilskraft, mit denen | |
| sie es im Leben weit gebracht hätte“. Dora María Téllez war die einzige | |
| Frau im Führungstrio eines wagemutigen Kommandos, das mit einer Geiselnahme | |
| die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf eine brutale Diktatur lenkte | |
| und den Namen der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) weit über die | |
| Grenzen Zentralamerikas bekannt machte. Sie verkörperte das, was die die | |
| Faszination der nicaraguanischen Revolution in Europa ausmachte: | |
| Jugendlichkeit und Humanität. | |
| Es war die erste Revolution, die sich auf die von der Lateinamerikanischen | |
| Bischofskonferenz von Medellín (1968) ausgerufene „Option für die Armen“ | |
| berufen konnte, also das soziale Engagement der Kirche. Ihr Aushängeschild | |
| war der Dichter und Befreiungstheologe Ernesto Cardenal. Kirchliche Kreise | |
| konnten sich also genauso wie traditionelle linke Gruppen für das | |
| Experiment begeistern, das versuchte, von Kuba und Europa das Beste | |
| abzukupfern, und so gar nichts mit drögem Realsozialismus gemein hatte. | |
| Dazu kam, dass die Sandinisten sich gegen die USA und ihren Präsidenten | |
| Ronald Reagan behaupten mussten, der eine Konterrevolution in Stellung | |
| brachte, die allen Definitionen terroristischer Banden entsprach. Die | |
| „Contras“ richteten ihre blutigen Anschläge gegen Alphabetisierer, | |
| Erntehelfer, Kindergärten oder Genossenschaften – kurz, alles, was die | |
| Revolution ausmachte. | |
| Dreißig Jahre später kämpft Dora María Téllez noch immer für die | |
| Demokratie, allerdings gegen einen Mann, mit dem sie damals die Ideale | |
| geteilt hatte, nämlich Präsident Daniel Ortega. Im vergangenen Juni | |
| protestierte sie in einem dreiwöchigen Hungerstreik gegen die Auflösung | |
| ihrer Partei, der Sandinistischen Erneuerungsbewegung (MRS) – eine | |
| offensichtlich willkürliche Entscheidung. | |
| Das schüchterne Mädchen von damals ist längst nicht mehr schüchtern. In den | |
| schwarzen Lockenkopf sind graue Strähnen gedrungen. Die rauchige, von | |
| hunderttausenden Zigaretten gegerbte Stimme klingt auch bei emotionalen | |
| Themen immer sachlich. In ihrem Haus im Stadtteil Pancasán von Managua wird | |
| Dora María Téllez von zwei bulligen Hunden bewacht, die laut anschlagen und | |
| erst gebändigt werden müssen, wenn Besuch kommt. | |
| Am 22. August 1978 nahm eine Gruppe sandinistischer Guerillakämpfer den | |
| Nationalpalast im Herzen der Hauptstadt Managua im Handstreich. Mehrere | |
| Dutzend Abgeordnete des Scheinparlaments wurden als Geiseln genommen. | |
| „Operation Schweinestall“ lautete der Codename für das Unternehmen, denn | |
| als politischer Schweinestall galt der Palast, wo der Diktator willfährige | |
| Politiker mit hohen Gehältern seine Wünsche in Gesetze gießen ließ. Die | |
| meisten Guerilleros kannten das Gebäude nicht einmal aus den Medien. Einzig | |
| Edén Pastora, als „Comandante Cero“ der oberste Anführer, war als Kind | |
| einmal im Inneren des Palasts gewesen. Dora María hieß als dritte | |
| Verantwortliche „Comandante Dos“. | |
| Anastasio Somoza Debayle, der letzte Herrscher einer über vierzigjährigen | |
| dynastischen Diktatur, gab nach zwei Tagen Nervenkrieg nach und erfüllte | |
| die Forderungen: Freilassung der politischen Gefangenen und Zahlung von | |
| einer Million Dollar als Lösegeld. Die siegreichen sandinistischen | |
| Guerilleros wurden, vermummt mit schwarzen Tüchern, zum Flughafen gebracht | |
| und nach Panama ausgeflogen. | |
| Das vorrangige Ziel der spektakulären Geiselnahme war ein ziemlich | |
| profanes, zu dem man sich damals aus verständlichen Gründen nicht bekennen | |
| wollte: „Wir mussten die Gefangenen freipressen, um unsere Kriegsfronten zu | |
| stärken“, erklärte Dora María Téllez vor einigen Jahren in einem langen | |
| Gespräch mit der taz, „wir hatten ständig Zulauf von neuen Kämpfern, aber | |
| es fehlten die Anführer“. Selbstverständlich wurde auch Geld für Waffen | |
| gebraucht. Für den Überfall auf den Nationalpalast hatte das 26-köpfige | |
| Kommando fast das komplette Arsenal der schlecht ausgerüsteten | |
| Guerillagruppe bekommen. Allein aus logistischen Gründen konnte die FSLN | |
| die folgenden Monate nicht in die Offensive gehen. Die Waffen waren in | |
| Panama und mussten erst über Costa Rica wieder ins Land geschleust werden. | |
| Dora María kehrte erst im Januar 1979 wieder nach Nicaragua zurück. Sie war | |
| damals gerade 23 Jahre alt und bereits drei Jahre im Untergrund. Spontane | |
| Aufstände in Masaya und anderen Städten lösten eine Dynamik aus, die den | |
| Sandinisten die Initiative aus der Hand nahm. Gleichzeitig versuchten die | |
| USA, die katholische Kirche und die bürgerliche Opposition den Diktator zum | |
| Abtreten zu bewegen, um einen „Somocismo ohne Somoza“ zu ermöglichen, also | |
| einen Fortbestand des Systems. Das wollte die FSLN auf keinen Fall. Dora | |
| María wurde in ihre Heimatstadt León geschickt, wo sie den Aufstand | |
| dirigieren sollte. | |
| Als Somoza am 17. Juli 1979 nach Miami floh, platzte der Plan, das System | |
| zu retten. Die Nationalgarde, wichtigste Stütze der Diktatur und wegen | |
| ihrer Brutalität auch Ziel ungezählter Attacken aus der Bevölkerung, löste | |
| sich in wenigen Tagen selbst auf. Die sandinistische Führung, die sich bis | |
| dahin noch kaum den Kopf zerbrochen hatte, wie sie den revolutionären Staat | |
| organisieren sollte, wurde zur entscheidenden politischen Kraft. Dora María | |
| zog in den Staatsrat, eine Art ständestaatlich organisiertes | |
| Ersatzparlament, ein. | |
| Nach den Wahlen 1984, die den De-facto-Zustand der Staatsorgane beendeten | |
| und eine Formalisierung der Institutionen einleiteten, übernahm Dora María | |
| Téllez, noch nicht 30 Jahre alt, das Gesundheitsressort. Dafür hatte sie | |
| sich durch ein abgebrochenes Medizinstudium an der Universität León | |
| qualifiziert. „Es war ein Organisationsproblem, eine Frage der richtigen | |
| Mittelverwendung“, meinte sie 20 Jahre später. Die Ärzteschaft maulte, denn | |
| die an eiserne Disziplin und Selbstausbeutung gewöhnte ehemalige Guerillera | |
| verlangte, dass auch Ärzte ihre Stechkarten markierten. Viele erledigten | |
| ihren Krankenhausjob nur nebenbei und holten die zahlungskräftigeren | |
| Patienten in ihre Privatpraxen. Das Argument, ein karges Gehalt | |
| rechtfertige auch keinen vollen Einsatz, ließ sie nicht gelten: „Meine | |
| Position war, wer für acht Stunden bezahlt wird, muss auch acht Stunden | |
| arbeiten.“ | |
| Diese Ethik legte die Ministerin zuallererst den eigenen Handlungen | |
| zugrunde. Als die Sandinisten im Februar 1990 überraschend die Wahlen | |
| verloren und die Regierungsgeschäfte an ein konservatives Team unter | |
| Violeta Barrios de Chamorro übergeben mussten, plünderten viele Funktionäre | |
| die Ministerien und Büros. Ausnahme war das Gesundheitsministerium, das | |
| vorbildlich und transparent übergeben wurde, wie der neue Minister Ernesto | |
| Salmerón zugeben musste. | |
| Dora María Téllez unternahm mehrere fruchtlose Versuche, die vertikal | |
| aufgebaute Partei, in der Ortega sich als Dauervorsitzender immer wieder | |
| bestätigen ließ, von innen her zu erneuern. 1994 gab sie auf und gründete | |
| mit dem Romancier und ehemaligen Vizepräsidenten Sergio Ramírez die | |
| Sandinistische Erneuerungsbewegung (MRS), eine Partei, die sich als linke | |
| Kraft definiert und fast alle Künstler und Intellektuellen aus den Reihen | |
| der FSLN gewinnen konnte. Die Massenwirksamkeit blieb der neuen politischen | |
| Kraft versagt. Bei den Wahlen 2006 konnte sie gerade 5 von insgesamt 90 | |
| Sitzen in der Nationalversammlung erobern. | |
| Auch diese wenigen Abgeordneten können der Regierung aber lästig fallen. | |
| Und bei der urbanen Bevölkerung von Managua bildet die MRS eine Bedrohung | |
| für die Vorherrschaft der Sandinisten. Das dürfte auch der Grund sein, | |
| warum der Oberste Wahlrat, der von Daniel Ortega gesteuert wird, im Juni | |
| die Aufhebung der Partei wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten in der | |
| Dokumentation verkündete. Auf die Berufung, bei der alle erforderlichen | |
| Dokumente beigebracht wurden, hat der Wahlrat in der vorgeschriebenen Frist | |
| nicht reagiert. Die MRS bleibt daher von den Kommunalwahlen im November | |
| ausgeschlossen. | |
| Dora María Téllez ist Kummer gewöhnt. Als sie vor vier Jahren als | |
| Gastprofessorin für Lateinamerikanische Studien nach Harvard berufen wurde, | |
| musste sie absagen. In den USA wird sie noch immer auf einer Liste | |
| gefährlicher Terroristen geführt und erhielt daher kein Visum. Vielleicht | |
| wirft man ihr aber auch vor, dass sie nach allen Niederlagen und | |
| Enttäuschungen heute noch überzeugt ist, dass sich die Revolution gelohnt | |
| hat. | |
| RALF LEONHARD, geboren in Wien, gelernter Jurist. War von 1982 bis 1996 als | |
| Reporter in Nicaragua, seit 1985 für die taz. Seit zwölf Jahren ist er | |
| unser Österreich-Korrespondent. | |
| 27 Sep 2008 | |
| ## AUTOREN | |
| RALF LEONHARD | |
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