# taz.de -- wiedergelesen (vll): Theodor Lessing: „Haarmann – Die Geschicht… | |
> In der Serie „Wiedergelesen“ besprechen unsere Autoren norddeutsche | |
> Bücher, die vor langer Zeit erschienen, ihnen aber bis heute nicht aus | |
> dem Kopf gegangen sind | |
Zuerst war da eine „Epidemie des Aberglaubens“. Sie wucherte seit | |
Kriegsende rund um die Altstadt von Hannover, damals ein Slum aus modrigem | |
Fachwerk, Arbeitslosen-Elend und Gaunerei am südlichen Ufer der Leine. Von | |
monströsen Untaten ging die Rede, von verschwundenen Kindern, von | |
Leichenteilen, die den Fluss hinunter trieben, und vom Handel mit | |
Menschenfleisch. So aufgewühlt war die Stimmung, dass die Dienstmädchen | |
monatelang den Gang zum Metzger verweigerten, während der Klerus | |
Mäßigungsappelle auf seine Schafe regnen ließ. Licht in die dubiose | |
Angelegenheit brachte erst das Jahr 1924. „Da ereignete sich ein | |
Kriminalfall, der auf den eigentlichen Grundkern der Gruselgeschichten | |
hinwies und fast erschreckend klarmachte, dass der Massenseele irgend eine | |
Kraft des Ahnens und Vorfühlens innewohnt.“ Mit diesen Zeilen eröffnete das | |
Prager Tagblatt am 8. Juli eine Artikelserie über den berühmtesten | |
Massenmörder der Weimarer Republik. | |
Autor war der jüdische Publizist Theodor Lessing (1872 - 1933), damals | |
Philosophiedozent an der TU Hannover. Er musste seine Berichte ins Ausland | |
kabeln, weil kein deutsches Blatt seine Recherchen drucken mochte. Ein Jahr | |
später machte er daraus ein Buch, das neben Truman Capotes „Kaltblütig“ zu | |
den Klassikern der Kriminal-Reportage gehört: „Haarmann – Die Geschichte | |
eines Werwolfs.“ | |
Lessing schildert den Fall des Kleinganoven Friedrich Haarmann, der bis | |
heute als „Totmacher“ über die Leinwand und munterer Unhold durch die | |
Folklore geistert. „Warte, warte nur ein Weilchen,/ bald kommt Haarmann | |
auch zu dir,/ mit dem kleinen Hackebeilchen,/ macht er Schabefleisch aus | |
dir,/ aus den Augen macht er Sülze, aus dem Hintern macht er Speck,/ aus | |
den Därmen macht er Würste,/ und den Rest, den wirft er weg.“ Der beliebte | |
Kinderreim trifft die Sachlage ziemlich genau. Haarmann brachte zwischen | |
1918 und 1924 siebenundzwanzig Jungen um, indem er ihnen die Kehle | |
durchbiss. Die Leichen zerlegte Haarmann mit einem Beil, die Weichteile | |
schredderte er zu Hackepeter, den er wie die Kleidung der Opfer in der | |
Nachbarschaft verhökerte. Der Rest wurde in der Leine entsorgt. | |
Das Ausmaß der Untaten war schon zu Beginn des Prozesses unstrittig, das | |
Urteil somit absehbar: „Köppen“, wie Haarmann es auf gut Hannöversch | |
ausdrückte. Was Lessing aber tatsächlich die Nackenhaare sträubte, stand | |
nicht in den Gerichtsakten. | |
Haarmann, „äußerlich betrachtet: ein schlichter Mann aus dem Volke. | |
Freundlich blickend und gefällig, zuvorkommend; auffallend gepflegt, sauber | |
‚tipp-topp‘“, war schuldunfähig, ein pathologischer Fall, der nachweisli… | |
unter Hirnschäden litt und seine Impotenz mit vampiristischen Neigungen | |
kompensierte, allerdings „eine gespenstische Schlauheit und Berechnung im | |
Dienste eines vormenschlichen Triebwahns“ entwickelte. Als man ihn | |
verhaftete, hatte er eine Odyssee durch Anstalten und Zuchthäuser hinter | |
sich. | |
All das kam aber vor Gericht gar nicht zur Sprache. Als Lessing das | |
Versäumnis monierte, wurde er vom Prozess ausgeschlossen. Mit der | |
denkwürdigen Begründung: „Wir können im Gerichtssaal keinen Herren dulden, | |
der Psychologie betreibt.“ Bei Folterknechten war man weniger kleinlich. Um | |
auch Haarmanns Kumpan Grans unter das Fallbeil zu bekommen, prügelte man | |
auf den Werwolf ein, bis er die belastende Aussagen zu Protokoll gab. Das | |
Duo sollte möglichst schnell von der Bildfläche verschwinden. Denn was sie | |
neben den Mordgeschichten alles zu erzählen hatten, war politischer | |
Sprengstoff erster Güte. „Vielleicht das tollste ist, dass Haarmann dabei | |
im Dienste der Polizei stand.“ Ausgestattet mit einer Marke des | |
„Amerikanischen Detektivbüros Lasso“ pirschte der Spitzel jahrelang durch | |
die einschlägigen Kaschemmen und spähte potentielle Opfer aus. | |
Hinweise auf seinen merkwürdige Fleisch- und Konfektionshandel hatte es | |
immer wieder gegeben, den ersten schon 1918; sie wurden allesamt | |
verschlampt. Dafür sorgten nicht zuletzt „die Stützen der Gesellschaft“, | |
die „Herren im Frack“, die Lessing täglich auf den Gerichtsbänken hocken | |
sah: „korrekt und sachlich, gewandt, geschmeidig, einer mit dem anderen | |
vertauschbar“. Sie mussten verhindern, dass Haarmanns Kupplerdienste für | |
die Schwulen ihrer Kreise ruchbar wurden. | |
Was Lessings Buch in den Rang eines Meisterwerkes erhebt, ist sein | |
sozialpathologischer Ansatz, der das Monster als Typus der Kriegsgeneration | |
kenntlich macht, als Kreatur einer durch „Blutrausch“ und „imperiale | |
Raubgier“ aus den Fugen geratenen Gesellschaft, welche nur zehn Jahre | |
später Mordbuben hervorbringen sollte, gegen die sich Fritze Haarmann | |
ausnahm wie ein blutiger Amateur. Eines ihrer ersten Opfer war Lessing, den | |
Auftragskiller der NSDAP 1933 im Prager Exil erschossen. | |
Uns sollten seine Erkenntnisse heute noch eine Lehre sein. „Die | |
Schlechtgeborenheit und Schlechtgeborgenheit, die falsche Zeugung und | |
falsche Erziehung, die verkehrte Auslese, der Mangel an Gesundheitspflege | |
und an Gemeinschaftsseele, die unsinnige Geistesverwirrung großer | |
Menschenmassen durch Zeitungen, Halbbildung, Partei- und Staatspolitik (die | |
selbst nichts anderes ist, als das organisierte Verbrechen und von Staats | |
wegen das züchtet, was sie von Privat wegen – wenn es herauskommt – | |
bestraft), die Armut, der Schmutz, der Klassenkampf, alles das erzeugt | |
hüben: Wolfsmenschen, und drüben: die intelligenten Schmarotzer.“ | |
MICHAEL QUASTHOFF | |
Theodor Lessing: „Haarmann - Die Geschichte eines Werwolfs“, Sammlung | |
Luchterhand, 313 Seiten, im Buchhandel vergriffen, aber erhältlich bei | |
[1][www.eurobuch.com] oder [2][www.zvab.com] und in allen Bibliotheken | |
30 Sep 2008 | |
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## AUTOREN | |
MICHAEL QUASTHOFF | |
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