# taz.de -- Der Feind im Inneren | |
> Die Folgen der institutionalisierten Paranoia: Das Regime ist gestürzt. | |
> Doch was wird aus dem ideologischen Erbe der Baath-Partei, die über drei | |
> Dekaden den Irak dominierte? | |
von DANIEL BAX | |
Im Zentrum von Bagdad, in der Nähe des Präsidentenpalasts, steht ein | |
auffälliges Gebäude, dessen Zukunft ungewiss ist: die Zentrale der | |
irakischen Baath-Partei. Die Fassade des modernen Hochhauses zitiert | |
Elemente alter arabisch-islamischer Architektur. Früher wurde sie nachts | |
angestrahlt, um die Bedeutung des Hauses zu unterstreichen. | |
In den Siebzigerjahren residierte hier der Gründungsvater und Chef-Ideologe | |
der panarabischen Baath-Partei, der gebürtige Syrer Michel Aflaq. In den | |
geräumigen Büros empfing er oft Mitglieder der irakischen Führung oder | |
Staatsgäste, die ihm Respektsbesuche abstatteten. Denn obwohl er lediglich | |
eine rein repräsentative Funktion innehatte, war Michel Aflaq doch eine | |
zentrale Figur des Regimes. Schon in den Vierzigerjahren formulierte er in | |
Syrien die Gründzuge jener Ideologie, die über drei Dekaden lang im Irak | |
vorherrschen sollte. Als die Baath-Partei 1968 im Irak die Macht ergriff, | |
siedelte Michel Aflaq nach Bagdad über. Er förderte den Aufstieg Saddam | |
Husseins. Nachdem er 1989 in Bagdad gestorben war, erhielt er dort ein | |
Staatsbegräbnis. Wenn es im Irak heute nun darum geht, Saddam Husseins | |
Hinterlassenschaft zu sichten, dann geht es nicht zuletzt auch um die | |
Frage, was aus dem ideologischen Erbe seines geistigen Mentors wird. | |
Michel Aflaq, ein syrisch-orthodoxer Christ aus Damaskus, gehörte noch zu | |
jener Generation, die von der Kolonialzeit geprägt war. Ende der | |
Zwanzigerjahre, als Syrien französisches Mandatsgebiet wurde, ging er zum | |
Studium an die Sorbonne. Dort aber begeisterte Aflaq sich weniger für die | |
Ideale der Französischen Revolution als für die Gewährsmänner des deutschen | |
Nationalismus wie Gottfried Herder und Johann Gottlieb Fichte. Die Vorliebe | |
kam nicht von ungefähr: Sie hing mit der Rolle Frankreichs im nach | |
Unabhängigkeit strebenden Syrien zusammen. | |
Zurück in Damaskus, engagierte sich Aflaq in nationalistischen Kreisen, aus | |
denen 1947 die syrische Baath-Partei hervor ging. Baath bedeutet so viel | |
wie „Renaissance“ oder „Wiedergeburt“. Gemeint war damit die Wiedergebu… | |
der arabischen „Nation“, deren Vereinigung über alle künstlich von den | |
Kolonialmächten gezogenen Grenzen hinweg propagiert wurde. Die | |
Anhängerschaft der Partei rekrutierte sich anfänglich aus der unteren | |
Mittelschicht und dem Kleinbürgertum. Zulauf fand sie zunächst vor allem in | |
Syrien, in bescheidenerem Ausmaß aber auch im Irak, Jordanien und dem | |
Libanon. | |
Der panarabische Nationalismus jener Zeit entstand in Reaktion auf den | |
Niedergang des Osmanischen Reichs, das nach dem Ersten Weltkrieg zerfiel, | |
und auf die darauf folgende Kolonisierung der arabischen Welt durch | |
Frankreich und England. Die nationalistischen Offiziere, welche sich in | |
Syrien oder dem Irak zum Widerstand gruppierten, hegten Sympathien für die | |
deutsche Orientpolitik, die sich gegen die französischen und englischen | |
Kolonialmächte richtete. Nietzsches „Also sprach Zarathustra“, Fichtes | |
„Reden an die deutsche Nation“ – und später auch Hitlers „Mein Kampf�… | |
wurden in diesen Kreisen viel gelesen. Arabische Theoretiker wie Sati Husri | |
(1882–1968) oder eben Michel Aflaq übertrugen manche dieser Ideen auf | |
arabische Verhältnisse. | |
Wie der deutsche Nationalismus, der sich während der Napoleonischen Kriege | |
herausbildete, war auch der arabische Nationalismus in seinem Kern | |
romantisch und antiliberal gefärbt. Herder und Fichte sahen in Sprache und | |
Kultur den Ausdruck eines Volksgeists, der im eigenen Staat zu sich selbst | |
kommt. In ähnlicher Weise betrachteten auch Sati Husri und sein Adept Aflaq | |
die arabische Nation als organisches Ganzes, das durch unglückliche Fügung | |
in verschiedene Staaten zersplittert wurde. Sie hegten die Sehnsucht nach | |
einem „arabischen 1871“, beschworen die geistige Einheit der Araber und | |
träumten von der Rückerlangung einstiger kultureller Größe. Obwohl diese | |
Größe mit dem Aufstieg zum islamischen Weltreich zusammenhing, war ihr | |
arabischer Nationalismus eine grundsätzlich säkulare Ideologe. Ihre | |
Betonung lag auf der gemeinsamen Ethnizität, Sprache und Kultur, nicht auf | |
der Religion. Gleichwohl berief sich Michel Aflaq in seinen Schriften auf | |
die besondere Spiritualität der Region, der Wiege dreier Weltreligionen, um | |
die Überlegenheit der arabischen Kultur gegenüber dem „Westen“ zu | |
behaupten, und sah im Propheten Mohammed auch den eigentlichen Begründer | |
der „arabischen Nation“. | |
In den Fünfzigerjahren war der panarabische Nationalismus die verbindende | |
Ideologie, die von Ägypten und Syrien bis Saudi-Arabien vorherrschte. Doch | |
nachdem die viel beschworene Einheit an den Rivalitäten der jeweiligen | |
Potentaten gescheitert war und der Sechstagekrieg von 1967 zu einer | |
peinlichen Niederlage geführt hatte, reduzierten sich die panarabischen | |
Parolen im Laufe der Zeit zum Lippenbekenntnis. | |
In Syrien war die Baath-Partei 1963 durch einen Offiziersputsch an die | |
Macht gekommen. Durch interne Machtkämpfe hatte sie sich von dem irakischen | |
Flügel so weit entfremdet, dass der Bruch zwischen den beiden | |
„Bruderparteien“ längst besiegelt war, als irakische Baath-Mitglieder 1968 | |
auch in Bagdad durch einen Coup die Macht an sich rissen. Das Schisma | |
beinflusste auch das Schicksal Michel Aflaqs. Der asketische Intellektuelle | |
hatte in Syrien als Parteisekretär gedient, war aber nach innerparteilichen | |
Querelen in Ungnade gefallen und nach Brasilien geflüchtet. Als die | |
irakische Baath-Partei an die Macht kam, lud sie den Vater des | |
Baath-Gedankens demonstrativ nach Bagdad ein, um ihre ideologische | |
Verbundenheit zu betonen. Doch die beiden Baath-Parteien entwickelten sich | |
so weit auseinander, dass sie zuletzt wenig mehr als ihren Namen gemein | |
hatten. | |
Zu den Grundpfeilern der irakischen Baath-Partei gehörte neben dem Ruf nach | |
arabischer Einheit auch die Forderung eines „arabischen Sozialismus“. | |
Dieser spezifisch arabische Sozialismus sollte, so umschrieb ihn Aflaq | |
vage, mit dem atheistischen Marxismus nichts gemein haben: Er sollte vor | |
allem der Steigerung der gesellschaftlichen Produktion dienen. In der | |
Realität bedeutete das in den meisten arabischen Staaten kaum mehr als die | |
Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, halbherzige Landreformen sowie die | |
Subventionierung von Grundnahrungsmitteln. Das galt auch im Irak. | |
Dennoch sah Aflaq in seinem Konzept des arabischen Nationalismus eine | |
revolutionäre Ideologie, die auf die Umgestaltung des gesamten politischen | |
und sozialen Systems zielte. Die Baath-Partei sollte dafür die Avantgarde | |
darstellen, die perfekte Verkörperung des arabischen Geists. Im Irak hatte | |
sie in den Sechzigerjahren als kleine Kaderpartei begonnen. Ihre Herrschaft | |
stützte sich in erster Linie auf einen erfolgreichen Militärputsch. Doch | |
mit der Zeit erfolgte der Ausbau einer Massenbasis. Mit der Gleichschaltung | |
der Medien, Gewerkschaften, der Jugend- und Studentenverbände, die bis | |
dahin von Kommunisten dominiert waren, begann die Verdrängung der stärksten | |
Konkurrenz im Lande, und der Umbau des Staates zum totalitären System | |
setzte ein. Der Ölboom und die Verstaatlichung der Ölindustrie bildeten die | |
Grundlage für den wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung des Irak in den | |
Siebzigerjahren. Parallel dazu konnte die Baath-Partei ihre Macht | |
konsolidieren. Über und neben den staatlichen Institutionen etablierte sie | |
eigene Strukturen, darunter eigene Geheimdienste und eine eigene Armee, und | |
fusionierte so allmählich Partei und Staat. Wer gesellschaftlich aufsteigen | |
wollte, musste Parteimitglied werden. Wer austreten wollte, dem drohte die | |
Todesstrafe. | |
Die Gewalt, die sich anfangs in Schauprozessen gegen „Volksfeinde“, durch | |
Säuberungswellen in der Partei und später durch ständigen Terror äußerte, | |
war dabei mehr als bloß ein Mittel zur Machtsicherung. Sie ist in der | |
Baath-Ideologie selbst angelegt. In seinen Schriften propagierte Michel | |
Aflaq jenen ständigen Kriegszustand, den Saddam Hussein dann Wirklichkeit | |
werden ließ. Im gemeinsamen Kampf gegen Imperialismus und Zionismus sollten | |
sich die arabischen Nation beweisen. | |
So war auch der strikte Ablehnungskurs des Iraks gegenüber Israel nicht nur | |
taktisch motiviert, um Ägypten den Führungsanspruch in der arabischen Welt | |
streitig zu machen, sondern entsprang tieferen Wurzeln. Er geht auf einem | |
ausgeprägten Chauvinismus zurück, den Saddam Hussein mit antisemitischer | |
Rhetorik zu paaren wusste. Der völkische Glaube an die Auserwähltheit der | |
Araber wurde schon bei Michel Aflaq durch eine generelle Xenophobie | |
verstärkt. Dieser Rassismus wurde nicht nur im Krieg gegen den Iran | |
mobilisiert, der zur Episode eines jahrhundertealten Kampfs gegen die | |
Perser stilisiert wurde. Er konnte sich im real existierenden Baath-System | |
auch gegen mutmaßliche Feinde im Inneren, gegen Juden oder Kurden, richten | |
– oder gegen jeden anderen, der der institutionalisierten Paranoia des | |
Regimes zum Opfer fiel, das überall Verschwörungen witterte. | |
In diesem Sinne wurde auch die religiöse Orthodoxie gegängelt, und jedes | |
Anzeichen fundamentalistischen Aufbegehrens wurde im Keim erstickt. Bei | |
allem äußerlichen Säkularismus, der ihr als Ausweis von Modernität galt, | |
trug die Ideologie der Baath-Partei jedoch selbst deutliche Züge einer Art | |
Metareligion. Denn sie versuchte,die Muster traditioneller Überzeugungen in | |
den Glauben an die höhere Vernunft der Partei zu transformieren. In den | |
Neunzigerjahren, als dieser Glauben offenbar nachließ, war Saddam Hussein | |
bestrebt, sich verstärkt durch den Rückgriff auf die Religion zu | |
legitimieren. Indem er an religiöse Gefühle appellierte und Moscheen bauen | |
ließ, versuchte er, sich als muslimischer Führer zu inszenieren. Indem er | |
drakonische Körperstrafen einführte, wollte er der von fundamentalistischen | |
Kritikern geforderten Scharia zuvorzukommen. | |
Zu diesem Zeitpunkt hatte der Personenkult um Saddam Hussein längst jede | |
kohärente ideologische Linie abgelöst. Das Konzept einer heraus gehobenen | |
Führerfigur, die aufsteigt, um die Massen zu einigen, war zwar schon in den | |
Ideen Michel Aflaqs angelegt, und Saddam hat zahlreiche Versuche | |
unternommen, sich als panarabischer Führer zu behaupten. Doch sein Erfolg | |
im Ausland war eher bescheiden, und auch im Irak selbst konnte er sich am | |
Ende womöglich nur deshalb so lange an der Macht halten, weil sein Volk von | |
zwei Kriegen und einem lähmenden Embargo so geschwächt war, dass es zu | |
keinem Aufstand mehr fähig war. | |
Nun ist das Baath-Regime gestürzt. Es scheint schon recht morsch gewesen zu | |
sein. Führt man sich die unerwartet schwache Gegenwehr vor Augen, die dem | |
Einmarsch der USA und Großbritannien entgegengebracht wurde, dann war die | |
Identifikation mit dem Staat, mit der Partei oder mit Saddam Hussein | |
zuletzt wohl nur noch bei wenigen stark ausgeprägt. Dennoch hinterlässt der | |
Fall des Regimes ein ideologisches Vakuum. Gut möglich, dass zunächst | |
einmal die Religion diese Lücke füllen wird. | |
Die Entbaathifizierung, welche irakische Oppositionskreise jetzt fordern, | |
erledigt sich jedenfalls nicht, wenn die alte Führungsriege suspendiert und | |
die Verantwortlichen strafrechtlich verfolgt werden. Sie bedeutet weit mehr | |
als ein Personalproblem. Seit Mitte der Siebzigerjahre ist eine ganze | |
Generation aufgewachsen, die von der Wiege an von der Baath-Partei | |
indoktriniert wurde. Der Glaube an die von der Partei propagierten Werte | |
mag erodiert sein. Doch das Erbe einer Kultur der Gewalt, des Chauvinismus, | |
des gegenseitigen Misstrauens und der Paranoia vor äußeren Mächten wird | |
wohl noch lange auf dem Irak lasten. | |
17 Apr 2003 | |
## AUTOREN | |
DANIEL BAX | |
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