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# taz.de -- Streitgespräch: Veganer vs. Flexitarier: "Man muss einen Cut mache…
> Nur halb so viel Fleisch essen - oder gar keins mehr? Katharina Rimpler
> plädiert für Halbzeitvegetarismus. Christian Vagedes bleibt
> Vollzeitveganer. Ein Streitgespräch.
Bild: "Der allmähliche Prozess kann nachhaltiger sein als die radikale Veränd…
sonntaz: Frau Rimpler, können wir Sie als Halbzeitvegetarierin mit einer
halben Wurst in der Hand fotografieren?
Katharina Rimpler: Lieber nicht.
Sie finden es eklig, eine Wurst anzufassen?
Rimpler: Ehrlich gesagt ja. Ich esse kein Fleisch. Ich habe aber nicht die
Entscheidung getroffen, es nie, nie, nie mehr zu tun.
Sie wollen aber, dass die Leute Fleisch und Wurst essen - nur etwas
weniger?
Rimpler: Nein, ich will nicht, dass sie weiter Fleisch essen. Bei der
Halbzeitvegetarier-Kampagne sagen wir den Leuten, dass es okay ist, wenn
sie nicht von heute auf morgen ganz mit Fleischverzehr aufhören, und
begleiten sie auf dem Weg, nur noch die Hälfte zu essen.
Gute Idee oder dreht es Ihnen als Veganer da den Magen um, Herr Vagedes?
Christian Vagedes: Wenn jeder nur noch die Hälfte äße, wäre das auch für
mich eine gute Botschaft, aber ich traue den Menschen mehr zu.
Was stimmt Sie optimistisch?
Vagedes: Im Moment gibt es immer mehr Menschen, die von heute auf morgen
vegan werden und das erkennen, was Ghandi den Geist der Wahrheit genannt
hat, dass alles zusammengehört, dass Tiere Schmerzen empfinden und Menschen
hungern, weil wir die falsche Ernährung haben.
Warum um die Hälfte reduzieren, wenn man sofort fleischfrei sein kann, Frau
Rimpler?
Rimpler: Es gibt Erlebnisse, nach denen manche von heute auf morgen
Vegetarier oder sogar Veganer werden. Aber in der Regel ist eine
einschneidende Veränderung von Alltagsgewohnheiten ein Prozess - besonders
beim Essen. Entweder ganz oder gar nicht: Das ist nicht die produktivste
Herangehensweise. Vor allem kann der allmähliche Prozess nachhaltiger sein
als die radikale Veränderung.
Inwiefern?
Rimpler: Nehmen Sie Teenager, die in der Schule einen Film gesehen haben,
der ihnen erstmals klargemacht hat, was Massentierhaltung ist: Die sind
geschockt und hören in der Sekunde auf, Fleisch zu essen. Das kann aber
plötzlich wieder vorbei sein. Anders ist es, wenn jemand sich so eine
Position im Laufe seines Lebens erarbeitet hat.
Wie kamen Sie an den Punkt, an dem Sie sagten: Ich esse kein Fleisch, aber
ich verlange das nicht von allen anderen?
Rimpler: Ich habe erkannt, dass es erstrebenswert ist, dass wir alle
weniger Fleisch essen. Ich kenne aber auch die Vorbehalte gegen das, was
oft dogmatisch genannt wird und als moralischer Zeigefinger empfunden wird.
Ich möchte alle erreichen, und für manche es ist schon eine
Herausforderung, einmal die Woche weniger Fleisch zu essen. Also beginnen
wir mit einer niedrigen Einstiegsschwelle.
Wenn Millionen Deutsche deutlich weniger Fleisch äßen, wäre das keine
radikale Veränderung, Herr Vagedes?
Vagedes: Von der Halbzeitvegetarier-Kampagne geht das falsche Signal aus.
Ich weiß nicht, ob sich Frau Rimpler darüber bewusst ist, dass die
Flexitarier-Bewegung in den USA von den Lobbyisten der Fleischindustrie
unterstützt wird.
Flexitarier sind Menschen, die wenig Fleisch essen.
Vagedes: Nein, der Flexitarier oder Halbzeitvegetarier ist im Extremfall
jemand, der einfach guten Gewissens weiter Fleisch isst. Wir können aber
sieben Milliarden Menschen auch dann nicht ernähren, wenn wir nur noch die
Hälfte Fleisch essen. Wir müssen das grundlegend ändern.
Wie bringt man uns dazu, unsere Essgewohnheiten tatsächlich so
individuell-radikal zu ändern, wie Sie das gern hätten?
Vagedes: Wir haben die Alternativen schon da, leckere Würstchen aus Weizen,
aus Tofu, sogar aus Lupinen …
… eine protein- und eiweißreiche Hülsenfrucht …
… da kann man sich dran gewöhnen. Wir Veganer leiden ja nicht, wir
begeistern uns daran. Uns geht es besser damit. Wenn man Menschen sagt, sie
sollen Halbzeitvegetarier oder Flexitarier werden, dann dient das letztlich
dazu, die Leute einzulullen und ihre Veränderungsbereitschaft zu schwächen,
damit alles so bleibt, wie es ist.
Rimpler: Im Gegenteil. Viele Leute werden dadurch dazu gebracht, weniger
Fleisch zu essen und sich generell Gedanken über ihre Ernährung zu machen.
Die Alternativen muss man entdecken und genau so, dass man sich damit sogar
besser fühlen kann. Das braucht Zeit, bis man zum Lupinenwürstchen kommt.
Für jemanden, der sich damit nicht ausführlich auseinandergesetzt hat, ist
die Forderung, er solle vegan leben, eine totale Überforderung und
abschreckend.
Vagedes: Aber ist das nicht das falsche Signal, zu sagen, "Iss nur die
Hälfte", statt "Hör auf"? Angesichts der Tatsache, dass alle fünf Sekunden
ein Kind an Hunger stirbt - ist es nicht wichtig, den Menschen genau das zu
sagen? Und ist es nicht so, dass Menschen, die sich entschließen, nur noch
die Hälfte zu rauchen, irgendwann wieder auf dem alten Stand sind oder
sogar doppelt so viel rauchen?
Rimpler: Also, den Zigarettenvergleich mal beiseitegelassen: Dieser Satz
des Schweizer Soziologen Jean Ziegler, dass alle fünf Sekunden ein Kind an
Hunger stirbt, berührt viele Menschen. Aber wir treffen unsere täglichen
Entscheidungen nicht entlang dieser Sätze. Gerade Essen hat viel mit
Geschmack und Gewohnheit zu tun - die gute Nachricht ist, dass sich beides
ändern kann.
Vagedes: Aber auch beim Abnehmen kommt der Jojo-Effekt. Man muss einen Cut
machen. Und dieser Cut bleibt.
Rimpler: Nein, der Jojo-Effekt kommt, weil sie sich mit dem Abnehmen
geißeln. Und dann, wenn sie sich nicht mehr geißeln müssen, bricht es los.
Weil es von außen auferlegt ist. Innerer Wandel geht Schritt für Schritt.
Der funktioniert nicht durch Verzicht, sondern durch die Entdeckung einer
Sache, die mir langfristig guttut. Der Weg dahin ist ein Wandlungsprozess.
Vagedes: Die Mehrheit der Leute in Deutschland isst doch eh an manchen
Tagen kein Fleisch. Das auch noch zu propagieren, ist eine weitere
Verwässerung des ohnehin verwässerten Begriffes Vegetarier. Der als erster
großer Vegetarier bekannte Pythagoras lebte im Grunde vegan. Man kann Milch
und Eier nicht einfach ausklammern und nur über Fleisch reden. Für Eier
werden Milliarden Küken getötet, einfach so. Und für Milch müssen noch mehr
Ausnutztiere getötet werden, nämlich auch noch Kälber. Weshalb der
Milchumstieg für mich noch zwingender ist als der Fleischausstieg. Jeder,
der tierische Produkte isst, hat eine Mitverantwortung für das Leiden
dieser Lebewesen.
Rimpler: Es geht um den Weg zum Ziel, und ich glaube nicht, dass man weit
kommt, wenn man vegetarisch bereits als Verwässerung bezeichnet. Der
Einstieg soll leicht sein, dabei hilft die Fokussierung auf Fleisch. Wir
wollen die Leute nicht verlieren, die allergisch auf ein "du musst"
reagieren.
Vagedes: Wer sagt das denn?
Rimpler: Einige der ambitionierten Veganer. Sie irren, wenn Sie sagen, die
Leute seien in der Regel schon Halbzeitvegetarier. Das ist man nicht, wenn
man nicht jeden Tag Fleisch isst, sondern wenn man nur noch die Hälfte von
der Fleischmenge isst, die man bisher gewohnt war.
Vagedes: "Müssen" heißt nicht, jemanden in der Sekunde zu verpflichten,
etwas nicht mehr zu tun. Wenn ethische Veganer "müssen" sagen, dann wissen
sie, dass die Entscheidung in Freiheit geboren ist. Aber sie möchten, dass
Menschen nicht darüber hinweggehen. Nicht in ihrem Interesse, sondern im
Interesse der hungerleidenden Menschen, der Regenwälder, die abgeholzt
werden, des gesamten Planeten und der milliardenfach leidenden Tiere, die
ihre Freiheit nur bekommen, wenn wir unsere Freiheit nutzen, um das
abzustellen.
Wir sind aufgewachsen mit Großmutters Braten und verbinden häufig schöne
und starke Gefühle damit, Herr Vagedes. Vor allem schmeckt es gut.
Vagedes: Dafür habe ich großes Verständnis.
Ich hätte auch gern Lösungen von Ihnen.
Vagedes: Die habe ich. Es gibt die Gerichte der Großmutter alle in vegan.
In den USA gibt es sogar Turkey in vegan für Thanksgiving. Wir müssen die
kulturellen Codes nicht aufgeben, wir müsen sie nur veganisieren. Wir
müssen uns einig sein, dass wir eine vegane Gesellschaft wollen. Dann wird
das morgen so selbstverständlich, wie es heute Windräder geworden sind.
Wir sind uns als Gesellschaft nicht mehrheitlich einig, dass wir Windräder
wollen oder auch nur akzeptieren. Und dass wir kurz vor einer veganen
Gesellschaft stehen, werden Sie nicht behaupten wollen.
Vagedes: Große Veränderungen beginnen immer in kleinen Kreisen, die sich
gegen die Mehrheit der Bevölkerung entschlossen positionieren: die
Befreiung der Sklaven, die Unterdrückung der Frauen, und jetzt ist die
Befreiung der Tiere an der Reihe.
Und was wird der Auslöser?
Vagedes: Irgendwann merken die Menschen, dass es ein krasser Widerspruch
ist, seinen Hund oder seine Katze zu streicheln und danach ein
Schweinesteak zu essen. Die vegane Dynamik wird beachtlich, das sage ich
Ihnen. Wir könnten uns womöglich andere Klimaschutzmaßnahmen sogar sparen
durch eine Veganisierung der Welt. Und nun frage ich Sie, Frau Rimpler:
Warum kämpfen Sie nicht eine für vegane Gesellschaft?
Rimpler: Ich lebe noch nicht vegan. Ich weiß auch noch gar nicht, ob ich
das wirklich will: gar keine Nutztiere mehr. Ich verstehe schon, dass man
angesichts der Lage panisch werden kann. Aber ich halte es nicht für
produktiv.
Was hat für Sie Priorität?
Rimpler: Es geht darum, dass alle ihr Verhalten ändern. Darum, das
Essverhalten eben nicht mehr an Identität zu koppeln. Es ist befreiend,
wenn man das auflöst und sich nicht mehr darüber identifiziert, ob man
Fleischesser ist oder ein Vegetarier, der nie, nie, nie mehr Fleisch isst.
Vagedes: Aber warum nicht gleich konsequent?
Rimpler: Weil das nicht realistisch ist, dass alle ihr Verhalten gleich
konsequent verändern.
Vagedes: Wieso wollen Sie nur aus kulturellen Gründen Ausnutztiere halten,
wenn nichts dafür und alles dagegen spricht? Nur weil es angeblich noch
nicht an der Zeit ist. Warum ist es noch nicht an der Zeit?
Rimpler: Das ist die Realität. Viele Menschen sehen keinen Grund, ganz mit
Fleischessen aufzuhören.
Der Schriftsteller Jonathan Safran Foer ernährt seine Kinder seit der
Geburt vegetarisch. Da setzt es bei einigen Eltern schon aus. Manche
Ernährungswissenschaftler warnen gar davor, Kinder vegan zu ernähren.
Vagedes: Dieser Diskurs kippt komplett. Das Gegenteil ist richtig.
Tierisches Protein ist nicht gesund, sondern ein Gesundheitsrisiko. Mit
veganer Ernährung beugt man Krankheiten vor. Natürlich muss das geplant
sein.
Wie halten Sie es denn mit Ihren Kindern, Herr Vagedes?
Vagedes: Meine zwei Kinder essen vegan. Die sehen klasse aus und sind auch
kerngesund.
25 Sep 2011
## AUTOREN
Peter Unfried
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