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# taz.de -- Ein Nachmittag im Schatten der dicken Marie
> In Tegel steht der älteste Baum Berlins, wird gesagt. Es ist eine Eiche.
> 800 bis 900 Jahre alt soll sie sein. Ihr Umfang ist sechseinhalb Meter.
> Fünf Erwachsene werden mindestens gebraucht, um sie zu umfassen. Wer sie
> lange genug betrachtet, entdeckt vielhundertjährige Geschichte darin
von WALTRAUD SCHWAB
Die Haut der „dicken Marie“ ist schuppig. Alte Frau, die sie ist. Die
Schrunden, die die Zeit ihr nicht vorenthalten konnte, sind vernarbt und
schraffieren durch die Krater, die sie zurückgelassen haben, die Rinde.
Feine, längliche Striche ziehen sich über den Stamm. An feuchten Stellen
hat sich Moos darauf gelegt als Grind. Ein Dickhäuter ist der Baum.
Elefant, Nashorn, Nilpferd. Vielleicht auch Krokodil. Zu bejahrt, um sich
zu schaben.
Der Baum ist alt. Er ist das älteste Denkmal Berlins, älter als die Stadt
selbst. Eine Eiche ist es. 800 Jahre soll sie sein, manche sagen 900. Ihr
Durchmesser ist mehr als zwei Meter. Um sie zu umfassen, werden fünf große
Menschen gebraucht.
Nicht weit vom Hafen in Tegel steht der Baum. Die Humboldt-Brüder, die in
seinem Schatten gespielt haben sollen, haben ihn „dicke Marie“ getauft, in
Erinnerung an die Köchin, die in ihrem Haushalt lebte. Da war die Eiche
schon 600 Jahre alt. Oder 700.
Heute spielt niemand mehr unter ihr, wohl aber wird sie besucht. Von zwei
Damen etwa, die den kurzen Weg durch den Wald bis zur Eiche schlendern. Sie
unterhalten sich über Suppen und Wiener und Krak… Mitten im Wort hält die
Sprechende inne. „Hier ist sie, die ‚dicke Marie‘, die wollt ich dir
zeigen.“ „Ach, ein Baum“, meint ihre Freundin, „100 Jahre soll die sein…
Dann liest sie auf dem Schild, dass es 900 Jahre sein sollen. Ihrer
persönlichen Kalkulation nach sind das neun Generationen. Sie spürt, dass
die Rechnung nicht stimmt. „Früher konnte man bis zum Stamm, aber dann war
ein Sturm und hat Äste abgebrochen“, erklärt die Ortskundige und zeigt auf
die Wunden am Baum.
Am Fuß des dicken Stammes quellen Geschwulste und Wucherungen aus der
Rinde. Kreisförmig umschließen sie ein Zentrum, das sein Geheimnis nicht
preisgibt. Ist es ein früh abgebrochener Ast? Sind es die Querschläger
napoleonischer Kanonen? Die Kugel stecken geblieben und harzig umschlossen.
Gesichter sind in die runden Wülste des Baumes eingeschrieben. Sie haben
die Geschichten von vielhundert Jahreszeiten erlebt. Da sind sichelförmige
Ranken, wie sie ionische Kapitelle zieren, die sich – oh einfaches Wunder –
in die Physiognomie eines chinesischen Löwen verwandeln. Die Rinde ist das
Gedächtnis, auf dem sich Natur verwandelt in Kultur. Oder was davon übrig
bleibt. Sicher, es ist nur ein Baum. Er lebt – trotzt den Jahren. Deshalb
ist er voll von Erinnerung: Mittelalterliche Fron, Kreuzzüge,
Dreißigjähriger Krieg und alles, was darauf folgt, er war dabei. Bis heute.
„Mein Vater wollte meinen Bruder nie mehr sehen“, sagt ein junger Mann zu
seiner Begleiterin, als sie zur Eiche schlendern. Danach betrachten sie
schweigend den Baum. „Und jetzt ist er tot“, sagt die Frau, als sie
weiterziehen.
Schräg wächst die „dicke Marie“ aus dem Boden. Steht da wie ein linkshän…
geschriebenes „T“, das sich nach vorne neigt. Als Gegengewicht wachsen die
stärkeren Äste auf der Seite des stumpfen Winkels. Der unterste von ihnen
ist abgestorben. Wie versteinert wird er in die Luft gestreckt: Rüssel
eines mundlosen Elefanten. Der linke Stoßzahn abgebrochen, der rechte aber
bohrt sich aus dem Rüssel heraus und schwebt als gewagte Form leicht in der
Luft. Auf der anderen Seite des Baumes sind die unteren Äste ebenso tot.
Braun und verwittert vollführen sie als abstrakte Schriftzeichen einen Tanz
gebrochener Kurven.
„Ich sagte dir doch, dass es nicht geht“, sagt ein älterer Mann, der sich
der „dicken Marie“ nähert, in sein Handy. „Nein, es geht nicht. Auf gar
keinen Fall.“ Dabei schaut er den Stamm des Baumes hoch, bis hinauf zu
seinem filigranen Blätterdach unter den Wolken. „Okay“, sagt er plötzlich,
„so gehts“. Dann kehrt er um und zieht weiter.
Blitz, Hagel, Sturm, wer weiß – vielleicht auch Kriege, sind in die Eiche
gefahren. Haben ihn gespalten, seine Krone aufgerissen mit aller Gewalt.
Der tote Teil des herausgeschälten Stammes sticht wie ein Wrack aus dem
Holzmeer. Bleich, schalenlos, blankgescheuert von Regen und Wind. Die
lebende Rinde umschließt zartlippig den empfindlichen Stumpf.
Rechts und links der gespaltenen Krone halten sich trotzig die Wundäste als
geöffnete Schenkel, die nun das zerstörte Haupt des Baumes ersetzen. Wie
Hochzeitsgold die grünäugige Braut, so umschließen schwulstige Narben und
Wucherungen die Stelle, an der sie sich aus dem zerrissenen Baumstamm
schälen. Eine Zukunft ohne Not soll das Geschmeide versprechen.
Ausladend, mäandernd und ständig die Richtung ändernd, schwingen sich die
oberen Äste, die aus den Schenkeln des gespaltenen Stammes gewachsen sind,
vieleckig ans Licht. Jedes Jahr neu entsteht ein Baldachin des
Unvorhersehbaren, obwohl jeder Ast bereits die Last eigener Jahrhunderte
trägt.
Nicht angepasst, nicht gradlinig fortgeschrieben, sind die Stammbäume der
Zeit. Wohl aber treiben sie – ganz am Ende ihrer Möglichkeiten – Blätter
aus den noch jüngeren spillerigen Trieben, die wie Tentakeln ausstreben, um
die Gegenwart zu besetzen. Und die Zukunft. Denn jenseits der Äste, gibt es
neue Äste und am Ende der Blätter die Spur eines neuen Blatts. Der Baum
lässt die Sonne durchscheinen. Und den Himmel. Und die Wolken.
5 Aug 2004
## AUTOREN
WALTRAUD SCHWAB
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