# taz.de -- Gestrandet in der Großstadt | |
> In vielen Metropolen werden im Sommer künstliche Strände geschaffen, | |
> meist an Flüssen. Das Publikum freut sich – über kleine Fluchten aus dem | |
> Alltag | |
VON SUSANNE LANG | |
There’s an urban myth, well more of a rural myth, going around here at the | |
moment. It’s about a beach. | |
(„The Beach“) | |
Sie liegen am Strand. Sie graben ihre Füße, die unter Anzugbeinen | |
hervorspitzen, in den heißen Sand. Yeah. This beach is perfect. Sie stellen | |
ihre Aktentaschen neben ihre Liegestühle. Sie klappen ihre Notebooks zu. | |
Sie atmen den Duft von Sonnencreme. This beach is perfect. Sie schauen aufs | |
glitzernde Wasser, die Sonne auf der arbeitsmüden Haut, Wassertropfen | |
perlen von Cocktailgläsern und Bierflaschen, das Wasser plätschert, ein | |
Touristenschiff fährt durch die Kulisse, sie schauen. Verschwommen. | |
Benommen. Die Stadt ist im Fluss. | |
Sie liegen am Strand: Anzugträger, Kostümfrauen, Bikinidamen, | |
Hawaihemdenmänner. Sie sind weit entfernt von ihrem Alltag und doch so nahe | |
an ihren Büros, die im Hintergrund, an Rheinpromenaden, den | |
Parlamentsgebäuden oder MTV- Studios ihr verlassenes Dasein haben. Ein | |
Handy klingelt. | |
Der Strom der elektronischen beats aus den Lautsprechern fließt ungestört | |
weiter. Lost in translation, mitten im Alltag. Verloren in einem Zeitloch, | |
an einem der zahlreichen Stadtstrände, die diesen kurzen Sommer europaweit | |
etwas glücklicher gemacht haben. Berlin, Düsseldorf, Hamburg. Chemnitz, | |
Frankfurt, Zürich. Paris. Und bald die restliche Großstadtwelt. | |
Gastro-Eventmanager schwimmen nach bewährter Trendmanier selbstverständlich | |
bereits auf der aktuellen Strandwelle, um die entdeckte Marktlücke | |
möglichst schnell und akkumulativ auf jedem Örtchen zu schließen, das | |
wenigstens ein Plätzchen für Sandaufschüttungen bietet und Cocktail-willige | |
Bewohner hat – und jazzen also die ersten Strände mit Beachclubs und | |
Eintrittsgeld und Kulturfestivals und Beachvolleyballturnieren hoch. | |
Gleichzeitig verteufeln Bohemiens und Stadtanarchisten das Phänomen ebenso | |
heftig wie die Eventleute daran basteln. Schließlich sei der urbane Strand | |
ursprünglich, wie an der Berliner East Side Gallery, eine | |
Lebenskunstbewegung der depressiven 2000er-Jahre gewesen, eine ureigene | |
Spontiidee, die konsequente Ausführung der fast vergessenen | |
Siebzigerjahredevise der Frankfurter Szene: Unter dem Pflaster liegt der | |
Strand. | |
Jetzt, im Agenda-Deutschland, welches politische Utopien der spontihaften | |
Sorte doch endgültig verloren haben müsste, liegt der Strand plötzlich oben | |
auf den Stadtpflastern. Als symbolisches Gegenstück und gleichwohl als | |
Komplement zum kapitalistischen, konsumierbaren Stadtleben, zu all den | |
Erlebnis-Shopping-Malls, Multiplexen, Eventclubs und Fit-for-Fun-Tempeln. | |
## Zivilisierte Natur in der Stadt | |
Eine Utopie im wörtlichen Sinne, ein „Nichtort“, ein „guter Ort“, eine | |
lokalisierte Sehnsucht, ein Stück zivilisierte Natur im Stadtkern, das zur | |
mediterranen Kontemplation verführt – frei vom Ruch toskanafraktionierten | |
Lifestyles. | |
Stadtstrände erfüllen ein Bedürfnis, das weit über das hinausgeht, was | |
gewöhnlich unter Kommerzialisierung und Erlebnismarketing des Stadtalltags | |
subsumiert wird. Weit hinaus über den billigen Wunsch nach einem profanen | |
Ersatz für den Mittelmeerurlaub, den sich Hartz-IV-geplagte, | |
arbeitszeitverlängerte und lohngekürzte Großstädter plötzlich nicht mehr | |
leisten sollen dürfen. Stadtstrände sind die kleinen Nischen, urbane | |
Zwischenräume, die in der sonst so utopiearmen Zeit ein kleines Paradies | |
versprechen, in dem die ökonomischen Gesetze der Arbeitswelt, die | |
Zeitökonomie aufgehoben sind – Zeit ist Geld, und verbrachte Zeit wird | |
gemessen an ihrem utilitaristischen Wert. Was hat es dem Zeitverschwender | |
gebracht? | |
Die Stunden am Stadtstrand, die ungetaktete Zeit, die die Minuten zu zählen | |
vergisst, verschwenden das knappe Gut Zeit regelrecht, haben aber dennoch | |
keinen eskapistischen Impuls. Aussteigen, dem Alltag entfliehen, das andere | |
ureigene Spontiprojekt, hat sich allenthalben zu einem | |
eigenverantwortlichen Reagieren auf deutsche Verhältnisse gewandelt. Heute | |
heißt Aussteigen Arbeitsmigration. Deutsche Bauarbeiter, Handwerker und | |
Ingenieure wandern aus, um in anderen Ländern den Job zu bekommen, den es | |
hierzulande nicht mehr gibt. Individueller Aktivismus, den Politiker in | |
Form von Flexibilität so gern loben. | |
Die Zeit am Stadtstrand ist das Pendant aus Freizeitperspektive. Aktivismus | |
in einer auf möglichst light verdaubar getrimmten Konsumwelt, die alles | |
bietet und noch viel mehr, nur keinen Raum mehr für das Nichts lässt. | |
Stadtstrände haben genau dies im Angebot: ein kleines Nichts. Eines, das | |
einer Entschleunigung nahe kommt. | |
Sie liegen im Sand und haben plötzlich sehr viel Zeit. Sie verlieren sich. | |
Stets ein bisschen getrieben, hier ein bisschen weniger. Ohne aufwändige | |
Flugzeit in die exotische Ferne, ohne Zeit, die im sprichwörtlichen Fluge | |
vergeht, und trotzdem nur dazu dient, auf Ankunft zu warten. Yeah, this | |
beach is perfect. | |
An Stadtstränden wartet niemand. Noch nicht mal eine Ankunft. Urbane | |
Strände mit ihren Zeitvakuen garantieren den in der Zeitsoziologie als | |
„Work-Life-Balance“ bezeichneten Ausgleich und die Gleichberechtigung von | |
Freizeit und Arbeitszeit, indem sie beides in gleichzeitige Nähe rücken. | |
Subjektiv empfinden sich, so fand ein Beitrag des letztjährigen | |
Studienpreises der Körber-Stiftung zum Thema Beschleunigung heraus, gut 80 | |
Prozent der Deutschen heute als „stets getrieben“, empfinden ihr Leben | |
subjektiv als stetig beschleunigt. | |
In einer „Versäumnisgesellschaft“, die in steter Furcht lebt, Ereignisse, | |
Trends und Entwicklungen zu verpassen, und daher von Event zu Event hastet, | |
muss ein Ort, der die Zeit schluckt und dabei dennoch an das schnelle | |
Arbeitsleben allein durch die räumliche Nähe angeschlossen ist, wie ein | |
Paradies gleich nebenan wirken. Das deutsche Grundrecht auf Freizeit, hier | |
wird es tatsächlich geachtet. Und der Lärm der Stadt rauscht sacht | |
beruhigend im Hintergrund, er signalisiert beruhigend: Man ist nicht aus | |
der Welt. | |
Es ist nur konsequent, dass die ersten und größten Stadtstrände an Orten | |
entstanden (und immer noch entstehen), die über Landstriche hinweg als | |
Niemandsland, als Industriebrache in die Stadttopografie eingeschrieben | |
sind. Urbane Leerstellen wie in Berlin zwischen Mauerresten und der Spree, | |
entlang des ehemaligen Grenzverlaufs, zwischen Kreuzberg und | |
Friedrichshain, wohin sich nun die Musikindustrie prominent vorgewagt hat. | |
Lücken wie im Ruhrgebiet, landschaftliche Relikte aus der Steinkohle- und | |
Bergbauzeit, die es nicht nur in der Stadtplanung zu schließen gilt, | |
sondern auch gesellschaftlich: Was und wer wird die Arbeiteridentität neu | |
formen? | |
Diese Vakanzen gleichen, bevor sie in 10 oder 20 Jahren bebaut und | |
geschlossen sind, gegenwärtig noch Transitlandschaften: Orten zwischen | |
gestern und heute, die sich jedoch nicht – wie sie der französische | |
Geschwindigkeitstheoretiker Paul Virilio prototypisch in Flughäfen | |
verkörpert sieht – als Orte definieren, deren Nutzen nur darin besteht, | |
Menschen möglichst schnell von einer Stadt zur nächsten zu schleusen. | |
Sondern als Orte, die das globale Großstadtleben zum Verweilen bringen. | |
Zumindest im individuell gefühlten Zeithorizont. | |
## Irreal gefühlte Zeithorizonte | |
Bisher garantierte das Wochenende oder eben der klassische Urlaub in die | |
Ferne, dass das ökonomische Arbeitsgesetz wenigstens hin und wieder | |
aufgehoben wurde. Auffällig an den entstehenden Stadtstränden ist gerade | |
deshalb, dass sie sich in einer Phase etablieren, in der die inszenierten | |
Erlebniswelten aus Tourismuskatalogen diese Urlaubsflucht an tatsächlich | |
fern gelegene Strände derart artifiziell anmuten lassen, dass sie als | |
irreal wahrgenommen werden. Im Gegenzug steigt das Bedürfnis nach einer | |
Inszenierung des Alltags, nach einer Flucht in die exotische Freizeit | |
mitten in der Arbeitswelt. Siesta im Arbeitsalltag, mediterrane | |
Gelassenheit für einen flüchtigen Augenblick, bevor Tariflohner und Ich-AGs | |
wieder zum Kampf bereit stehen. | |
Sie liegen am Strand. Sie schauen aufs Wasser. Sie schauen in die Sonne, | |
die langsam im Fluss versinkt. Sie tragen keine Anzüge. Sie atmen den Duft | |
des fetten Joints. Sie lachen. Sie bauen eine Minisandburg. Obwohl das | |
Licht mit der Sonne im Fluss verschwunden ist. Imagine: pure white sand and | |
enough dope to smoke all day every day for the rest of your life. Only a | |
few know exactly where it is and they won’t tell anyone. Sie haben eine | |
Stelle gefunden, einen Sprung entfernt von Spreeufer, unter einem | |
Sandhügel, weit weg von den flackernden Videoleinwänden und Techno-DJs. Sie | |
schauen auf den Fluss. Das brühgrüne Wasser befreit den Kopf für die | |
Projektionen. Gedankenflaneure am Wasser. | |
In den Visionen sind alle gleich. Für einen Augenblick, so scheint es, | |
demokratisiert der Strand tatsächlich. Klassenlose Gesellschaft, Arbeiter | |
neben Student, Ich-AG neben Unternehmensberater, Arbeitsloser neben | |
Frühpensionär. Wenigstens für den kurzen Sommer hat die sorgengeplagte | |
Mitte einen Platz zum Träumen gefunden. In einer, okay, grünen Utopie: | |
metropoles Naherholungsgebiet für die wundreformierte Seele. Perfect. | |
16 Aug 2004 | |
## AUTOREN | |
SUSANNE LANG | |
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