Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- EIN NACHRUF AUF SALVADOR ALLENDE: Genosse Präsident
Lange Zeit hielt sich in der chilenischen Linken die Behauptung, Salvador
Allende sei im Kampf gefallen. Der Chilene Moulián würdigt den Selbstmord
des Präsidenten vor dreißig Jahren nun als letzte, politisch wohlüberlegte
Amtshandlung. Von TOMÁS MOULIÁN *
ANALYSIERT man Salvador Allendes politische Entwicklung und speziell seine
Haltung in der Zeit der Unidad Popular, lässt sich eine angemessene
Erklärung für sein Ende geben: Weder war sein Selbstmord am 11. September
1973 im Präsidentenpalast La Moneda ein Akt der Verzweiflung noch der
romantische Versuch, mit aller Macht als Held in die Geschichte einzugehen.
Vielmehr fand in dieser Tat das Leben eines großen Politikers und Realisten
seine Fortsetzung.
Salvador Allende war innerhalb einer Linken, die sich als marxistisch
bezeichnete, und einer Sozialistischen Partei, die in den Sechzigerjahren
in den „Maximalismus“ abglitt, ein politischer Revolutionär besonderer Art.
Einer, der seine Hoffnung auf die Wahlen, mithin auf die Macht des Volkes
setzte und glaubte, den Sozialismus innerhalb des bestehenden politischen
Systems einführen zu können.
Allende war kein Volkstribun oder Maulheld der Revolution. Sein Profil als
Politiker gewann er im täglichen Kampf um volksnahe Politik im Rahmen einer
repräsentativen Demokratie, in der durchaus Spielraum für eine
Bündnispolitik zugunsten der Linken bestand. Doch nie nahm er Abstand von
seiner Kapitalismuskritik und vom Ziel des Sozialismus. Das ist der
fundamentale Unterschied zwischen ihm und der Sozialistischen Partei Chiles
von heute, die seit dem Ende der Diktatur an der Regierungskoalition
„Concertación Democrática“ beteiligt ist. Realist sein, das bedeutete für
Allende noch lange nicht, sich mit einer pragmatischen Politik zufrieden zu
geben.
Seine politische Vision entstand in der Zeit der Mitte-links-Koalitionen
zwischen 1938 und 1947, insbesondere unter der Volksfrontregierung von
Pedro Aguirre Cerda, der er als Gesundheitsminister angehörte. Damals
entdeckte er, was von 1952 an im Mittelpunkt seiner Strategie stand: das
Bemühen um eine Einheit der beiden großen Volksparteien, der
Sozialistischen und der Kommunistischen Partei. Deren wechselseitige
Rivalitäten hatten in der Vergangenheit die Regierungskoalition geschwächt
und Reformen verhindert, da sie dem Koalitionspartner, der Zentrumspartei
Partido Radical, die Rolle des Züngleins an der Waage zuschoben. Diese
Regierungen vertraten ein bürgerlich-demokratisches Programm, oder anders
gesagt: Sie standen für eine kapitalistische Modernisierung mit
Sozialgesetzgebung und Schiedsrichterrolle des Staates, was Allende im
Gegensatz zu anderen Sozialistenführern nie in Frage stellte.
Um seine Politik der Einheit von Sozialisten und Kommunisten umzusetzen,
sah sich Allende 1952 zu einem paradoxen Schritt gezwungen: seine eigene
Partei zu entzweien. Deren ganzes Trachten galt damals einem
lateinamerikanischen Weg zur Revolution, inspiriert durch die Idee eines
„dritten Weges“ von Haya de la Torre und den Apristen(1), der damals jedoch
durch Juan Perón in Argentinien und dessen justicialismo verkörpert wurde.
Allende widersetzte sich diesem Abstieg in den Populimus und zog sich
innerhalb der Sozialistischen Partei zurück, um mit den Kommunisten, deren
Partei noch verboten war, die „Frente de la patria“ zu organisieren. So kam
es zu Allendes erster Präsidentschaftskandidatur 1952. Dieser Schritt
machte ihn zur Leitfigur der Einheit mit den Kommunisten und zum Wortführer
des – theoretisch noch ungenau formulierten – Konzepts, durch Wahlsieg an
die Macht zu gelangen und eine revolutionäre Koalitionsregierung zu bilden.
Diese Politik stellte eine Fortführung der Positionen der
Befreiungsbewegungen dar, die damals von fast allen kommunistischen
Parteien Lateinamerikas vertreten wurde.
Bei den Wahlergebnissen von 1958 verfehlte Allende den Sieg nur knapp.
Damals herrschte ein Richtungsstreit zwischen den Befürwortern eines
institutionellen Übergangs – auch friedlicher oder nichtmilitärischer Weg
genannt – und den Anhängern der gewaltsamen Entmachtung der herrschenden
Klasse und der Zerschlagung des bürgerlichen Staates, die auf den Erfolg in
Kuba verwiesen.
Allende blieb in den Sechzigerjahren der Bannerträger der chilenischen
Linken, stand aber den Kommunisten geschichtsphilosophisch näher als den
Positionen der eigenen Partei. Von dem Linksruck, der unter den
chilenischen Sozialisten nach der Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen
von 1964 einsetzte, ließ er sich nicht mitreißen. Damals preschten
zahlreiche Politiker der Sozialistischen Partei mit der Behauptung vor, man
könne nicht länger auf den Sieg durch Wahlen setzen; keiner von ihnen
untersuchte allerdings eingehender die Besonderheiten der chilenischen
Situation mit dem komplexen Klassengefüge des Landes, seinem Parteiensystem
und seiner langen und kontinuierlichen demokratischen Tradition.
Allende blieb auf Distanz zu diesem Wirbel. Er war, ohne von seiner
Wertschätzung und Unterstützung für Kuba abzurücken, fast der Einzige in
der Sozialistischen Partei, der an der Überzeugung festhielt, dass man die
Präsidentschaftswahlen gewinnen und auf diese Weise durch einen
institutionellen Übergang zum Sozialismus gelangen könne. Diese Haltung
trug ihm viel Kritik ein.
Die triumphale Stimmung der Sechzigerjahre – einer optimistischen Zeit, was
die Aktualität der Revolution und deren historische Notwendigkeit betraf –
verhinderte, dass sich die marxistischen Parteien und Intellektuellen die
entscheidenden Fragen zu einem institutionellen Übergang zum Sozialismus in
Chile stellten. War denn angesichts des breiten Grabens, der sie von den
fortschrittlichen Teilen der Christdemokratischen Partei trennte, an eine
Verwirklichung des Sozialismus überhaupt zu denken? Wie sollte man denn in
den Institutionen und in der Bevölkerung eine Mehrheit erreichen, wenn es
nicht gelang, ein Bündnis für den Fortschritt zu schmieden?
Es war die Hochphase der Unidad Popular, eine zukunftsverheißende und im
Keim tragische Zeit. 1971 definierte Allende den chilenischen Sozialismus
als freiheitlich, demokratisch und mit einem Mehrparteiensystem vereinbar.
Damit wurde er zum Vordenker des Eurokommunismus. Er ging wesentlich weiter
als die chilenischen Kommunisten, die von der orthodoxen Auffassung des zu
errichtenden Sozialismus nicht abrücken wollten und sich an die Logik des
„historischen Moments“ klammerten, in dem die „totale Macht“ übernommen
werden müsse. Zwar schoben die Kommunisten diesen Zeitpunkt hinaus, hielten
ihn aber für unverzichtbar. Parteichef Corvalán kleidete diese Perspektive
in die bekannt gewordene und vielsagende Parabel: Der Zug des Sozialismus
werde bis Puerto Montt im tiefen Süden Chiles kommen, doch einige
Verbündete würden unterwegs aussteigen.
Allende gelang es jedoch nicht rechtzeitig, seinen Weg vom institutionellen
Übergang durch ein breites strategisches Bündnis aller progressiven
gesellschaftlichen Kräfte zu verankern und eine solide Mehrheit in der
Bevölkerung zu finden. Sein Weitblick war vergebens.
Zu keinem Zeitpunkt seiner Regierungszeit war er bereit, seine
humanistische Gesinnung zugunsten der Anwendung autoritärer Machtmittel
preiszugeben, wie dies fast alle Präsidenten seit 1932 getan hatten, indem
sie zu allen erdenklichen – legalen wie illegalen – Zwangsmaßnahmen
griffen. Meines Erachtens war dies richtig, auch wenn es dazu führte, dass
seine Gegner die „Revolution“ nicht fürchteten. Angesichts der sich Anfang
1973 zuspitzenden Krise hätte er nicht nur mit aller Härte des Gesetzes
gegen oppositionelle Kreise, sondern auch gegen jene Teile der Linken
vorgehen müssen, die sich seiner Politik widersetzten; was ihn in eine
politische Sackgasse geführt hätte. Er war durch und durch Demokrat, selbst
in der Zeit permanenter Bedrohung durch unverhohlene ausländische
Interventionen und durch terroristische Attacken der Ultrarechten.
Zweifellos hätte Allende in die Rolle des starken Präsidenten schlüpfen
müssen, ohne in Autoritarismus zu verfallen: sich über die Parteien stellen
und in den entscheidenden Momenten seine Positionen durchsetzen. Die Unidad
Popular war durch das katastrophale Patt zwischen dem Lager derer, die die
Notwendigkeit von Verhandlungen einsahen, und jener, die auf dem Standpunkt
„Vorwärts immer, rückwärts nimmer“ standen, lahm gelegt.
Das Hauptproblem war, dass es Allende (und seinem auf diesem Gebiet sehr
aktiven politischen Berater Joan Garcés) nicht gelang, den „neuen Weg“ zum
Sozialismus theoretisch zu untermauern und ihn kulturpolitisch
durchzusetzen. Sie wollten nicht nur eine neue Reformphase einläuten oder
einen sozialdemokratischen Weg beschreiten. Es ging ihnen darum, die
radikale Demokratisierung aller Bereiche des sozialen Lebens zum Dreh- und
Angelpunkt der gesellschaftlichen Veränderung zu machen. Darin bestand der
revolutionäre Charakter des „neuen Wegs“, nicht in der Anwendung von Gewalt
zur Lösung der Machtfrage.
Allende geht nicht durch seinen Tod, sondern durch sein Leben in die
Geschichte ein, wenn auch der Tod seinen Mythos begründete. Dank seines
politischen Instinkts und seines geschichtsphilosophischen Realismus konnte
er zur Symbolfigur eines „anderen“ Weges zum Sozialismus werden, und dies
zu einer Zeit, da die Krise des real existierenden Sozialismus sich bereits
bemerkbar machte.
Allende beging Selbstmord. Heute verstehe ich nicht mehr, warum dieses
Faktum so viele Jahre geheim gehalten wurde. Er entschied sich für einen
selbstbestimmten Tod, gegen den zufälligen Tod im Kampf. An jenem
furchtbaren Morgen des 11. September fand der Präsident von der
Verzweiflung zur Klarheit. Zunächst schmerzte ihn der Verrat. Viele
Zeitzeugen sprechen von seinem Kummer über „Augusto“. In einer der Reden an
diesem Morgen forderte er sogar die loyalen Militärs auf, zur Verteidigung
der Regierung auszurücken. An welchen General könnte er dabei gedacht
haben, wenn nicht an Pinochet, dem er immerhin persönlich den
„Marschallstab“ des Oberkommandierenden der Armee anvertraut hatte?
Tatsächlich glaubte Allende in keinem Moment, dass er die Moneda lebend
verlassen würde. Ich glaube aber, er rechnete mit einem Tod im Kampf.
Allende dachte an Widerstand, an Militärs, die ihren Schwur halten würden,
an Parteien, die fähig wären, den eigenen Worten auch Taten folgen zu
lassen. Er hatte nicht erwartet, allein zu sein, verlassen, nur von seinen
treuesten Anhängern umgeben, während die Unidad Popular Waffenruhe
verkündete.
Angesichts der unerwarteten Situation – er hatte die Bombenangriffe auf den
Präsidentenpalast überlebt, die Niederlage blieb ohne Gegenwehr – sann
Allende auf größtmögliche politische Wirkung. Das Exil kam für ihn nicht in
Frage; er suchte nach einer Reaktion, die seine Ideale am adäquatesten
ausdrücken und denjenigen am empfindlichsten treffen würde, der Chiles
Tragödie betrieb.
deutsch von Christian Hansen
12 Sep 2003
## AUTOREN
TOMÁS MOULIÁN
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.