Introduction
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# taz.de -- Mach dich dreckig und rein
Das Leben – ein Teufelskampf. Um stark zu sein, fahren jedes Jahr viele
Menschen in Nevadas Wüste. Spielen dort mit Feuer, Sex, Drogen. Um Glück zu
finden. Unser Reporter suchte mit
von HENNING KOBER
Das blonde Haar schimmert wie ein schwacher Regenbogen um ihr ebenmäßig
geformtes Gesicht. Vorsichtig streichen meine Finger durch die Strähnen.
Schönheit zaubert Ehrfurcht. Ihr Körper ist schutzlos entblößt. Das
Einzige, was sie trägt, sind türkisfarbene Ohrstecker und ein sanftes Rot
auf ihren Lippen.
Wir kennen uns erst seit ein paar Stunden, und sie spricht nicht. Deshalb
habe ich ihr den Namen Cindy gegeben. Wir liegen im Gras eines Gartens in
Portland, im US-Bundesstaat Oregon, kurz hinter der Pazifikküste.
Zwischen uns liegt ihre ebenfalls wunderschöne Freundin. Ich werde sie
Candy nennen. Mit der Nagelschere schneide ich Candys Pony und spiele mit
ihrem Körper. Biege und strecke ihre Arme und Beine, bis es weh tut.
Die beiden Barbies sollen mit zum Burning-Man-Festival in die Wüste von
Nevada. Dorthin werde wir in ein paar Stunden reisen. Jetzt geht es um die
letzten Reisevorbereitungen. Vor mir liegen blonde Dolls, giftige Aliens,
Glitter, Glowsticks, glitzernde Kinderarmbänder, ein batteriebetriebener
Star Spangled Banner, hohe silberne Turnschuhe mit einklappbaren Rollen und
eine babyblaue Kinderschminktasche, ebenfalls aus dem Hause Mattel.
Es sieht aus wie in einem fröhlich unaufgeräumten Kinderzimmer und bereitet
vor auf das, was vor uns liegt: Spielen, sandeln, raufen – und zwar in
einem riesigen Paralleluniversum, in der Black-Rock-Salzwüste im Norden
Nevadas. Für eine Woche riesiger Spielplatz der Erwachsenen. Ich fülle
Wodka in den Flachmann und zünde mir eine der dunklen Gitanes an, die ich
beim Zwischenstopp in Paris gekauft habe.
Willkommen zu einem großen Abenteuer. Willkommen zu einer kleinen
Himalajabesteigung für den Körper und einer großen für die Seele. Auf zur
Glückssuche.
Ein langer Treck aus schwer bepackten Autos, Wohnmobilen, die mit
europäischen Reisebussen vergleichbar sind, und großen Trucks von
Autovermietern fährt durch Washoe-County. Es geht vorbei an der letzten
Siedlung Gerlach, hinaus zur Wüste. In der Gegend leben Mormonen. Sonntags
wird kein Alkohol verkauft, Pornografie ist verboten und Homosexualität
eine schlimme Sünde. Seit 1990 findet nebenan in der Black-Rock-Wüste das
Burning-Man-Festival statt, wobei Festival eigentlich auf die falsche Spur
führt, weil man zuerst an Musik denkt.
Gebaut wird aber eine neue, temporäre Stadt für dreißigtausend Menschen mit
Flughafen, Krankenhaus, Zeitungen, Radiostationen. Eine neue, schönere,
bessere Heimat und Welt für sensible tolle Seelen, die die Realität in
ihrem täglichen Zuhause nicht ertragen können oder wollen. Es ist eine
Welt, in der (fast) alles erlaubt ist. „Radical Self-Expression“ promotet
die Website als wichtigstes Thema. Wörtlich ist das mit „radikale
Selbstdarstellung“ nur halb richtig zu übersetzen. Vielmehr meint es:
Entdecke die Barbie, den Conan, Jesus oder die Liebe in dir und spiel
damit. Spiel den Tanz in deinem Kopf und fühl dich frei. Renn nackt durch
die Wüste und wälz dich im Schlamm. Mach dich dreckig und rein. Suche
Freunde und bau dein schräges Haus.
Black Rock City ist halbkreisförmig in die Wüste gebaut. In der ersten
Reihe so genannte Themencamps, weiter hinten ruhigere Campingzonen. Die
Mitte gehört der Ikone und dem Namensgeber des Festivals. The Man, der am
Ende ein brennender sein wird, ragt hoch in den Himmel. Es gibt festgelegte
Straßen, die Namen wie Paradox, Real oder Absurd tragen. Mein Zelt steht
beim Rainforest Refugee Camp an der Kreuzung Dogma/Dubious.
Im Camp internationales Publikum. Mark aus Portland, der sich die
Zeltkonstruktion ausgedacht hat. Zwei junge Engländerinnen, zwei Frauen aus
Seattle, ein Schauspieler aus Vancouver und ein Verrückter, der sich Raus
nennt und ebenfalls aus Berlin kommt.
Die unterschiedlichsten Menschen kommen zu diesem Festival. Sie sind
jünger, älter, verheiratet, geschieden, schwul oder Kinder und mit ihren
Eltern hier. Sie sind Künstler, Techniker, Krankenschwestern,
Feuerwehrmänner, Anwälte, Investmentbanker, Pornodarsteller oder
arbeitslos. Und sie sind andere, auch zu Hause, aber hier und jetzt können
sie es zeigen.
Auf einmal sind überall wilde Freudenschreie zu hören. Die Sonne
verschwindet hinter den Bergen, Schatten zieht über den Boden. Die Nacht
beginnt. Mit Raus mache ich mich auf die Suche nach den ersten Partys.
Draußen, auf der Playa, so wird die Wüste genannt, leuchtet The Man
inzwischen blau und ist der Lotse der Nacht.
Die Augen sehen fantastische Lichter. Am Himmel das stille Meer der
Planeten, rund um den Horizont menschliche Positionslichter. Kleine
Planeten der Hoffnung, auf die wir jetzt zurasen. Yippie und wowy. Wir sind
Space Cowboys, Ritter der Nacht. Mein Bauch tanzt einen eigenartigen
Schleudertanz, das Gehirn drückt gegen den Schädel.
Im ganzen Körper zieht und zerrt es. Es fühlt sich an, als beschleunige
sich jede einzelne Zelle. Das liegt natürlich an der kleinen, mit weißem
Pulver gefüllten Pille, die Raus vor einer Viertelstunde aus seinem
Aktenkoffer, den er ständig bei sich trägt, gezaubert hat.
MDMA ist die Substanz, aus der Ecstasy gemacht ist, ohne die übliche
Beimischung von Speed, Kokain oder Heroin. „Bullshit“ steht auf dem Koffer.
Wir rasen und rasen und stehen vor riesigen Boxen, aus denen wuchtige Bässe
wummern. Die Orientierung ist völlig weg, wir taumeln, drehen, stolpern und
sind glücklich, professionell glücklich.
Dann knallt Raus mit dem Fahrrad gegen eine Metallstange. Sein Gesicht ist
voller Blut. Erstaunt betrachtet er das dunkle Rot in seinen Händen. Ein
Paar, das in einem bunten Minivan vorbeikommt, bringt ihn zur
Medizinstation. Ich fahre hinterher, schaffe es aber nicht. Falle einfach
hin und bleibe liegen. Es ist der Moment, in dem ich mich in die Schönheit
des Himmels verliebe. Der ist so schön, so unglaublich schön, dass es
wehtut.
Ich liege da und mein Mund ist offen, aber ich weiß nicht, ob es mir etwas
bedeutet. Ein gelbes Licht steuert auf mich zu. Hält Kurs, als ich schon im
Lichtkegel bin. Angst vertreibt den Hauch des Glücks. Ich renne weg.
Eine Stunde später ist Raus Platzwunde an der Oberlippe mit sechs Stichen
genäht. Wir torkeln tanzend vor einer hohen DJ-Kanzel am anderen Ende der
Wüste. Am Horizont taut das Licht auf und taucht die zusammengeschobenen
Wolken in ein wunderschönes blauweißes Licht. Der Sonnenaufgang verzaubert
die tanzenden Gestalten in Insekten. Sie sehen nicht mehr aus wie von
dieser Welt. Wind zieht Fahnen von Staub über die Fläche.
Wir vervespern den Wochenvorrat von Gefühlen in einer Nacht. „Warum?“,
frage ich Raus, und er sagt: „Weil wir es tun.“ Eine gute Antwort. Der
junge Mann, der die letzten Jahre die Länder dieser Erde bereist hat,
inhaliert Lachgas aus einem goldenen Luftballon, ganz tief, zittert und
fällt zur Seite. Sein Atem geht schnell.
Darum also. In seinem Kopf zuckt gerade ein 99-Sekunden-Orgasmus. Die
Seelenarznei schenkt dir Liebe, ohne dass du dazu ein anderes Wesen
benötigst. Ich fühle, wie Körper und Geist friedlich werden, warm zieht
sich alles zurück in den Kokon des Körpers.
Aber hey, haben wir nicht eine Mission, die Suche nach dem Glück?
Chemischer Nebel für den Kopf ist doch nur eine einfache Sicherheit für
zuverlässige Gefühle. Er führt zu nichts Neuem. Typische Gedanken, wenn das
Runterkommen anfängt. Aber obwohl es in den nächsten Tagen überall lockt,
sind es die letzten Kunstkopfverdreher in dieser Woche. Mal abgesehen von
Alkohol, Gras und den Gitanes. Aber das zählt vielleicht nicht. „Leave No
Trance“ ist ein Motto dieser Tage: Lass kein Gefühl aus!
Ein paar Tage später, an einem frühen Abend, sieht die Playa verändert aus.
Hunderte, tausend Menschen treiben umher. Alles ist verdammt shiny, blinky.
Überreiz für die Augen. Ich bin allein, wach und klar und möchte nur noch
sehen, sehen, begreifen, finden.
Das Xarazelt ist riesig und unscheinbar grau von außen, drinnen aber stehe
ich auf einmal in einem psychedelischen Dschungel. Tagsüber eine Oase des
Chillens, trägt die Nacht das Gesicht eines glamourösen Clubs. Hier ist
nicht mehr die immer staubige Wüste, sondern London, West End, die Shadow
Lounge zum Beispiel. Elfenmädchen streifen umher, sanfte Jungen schweben
mit weißen Engelsflügeln durch den Raum, Götter mit goldener Haut tanzen
auf den Podesten.
Draußen torkeln sie high auf Lucy in the Sky mit 3D-Brillen durch eine
Leuchtröhre. Krabbeln und bleiben irgendwann liegen, bei einem Körper, der
ihnen zu gefallen scheint.
Ich sehe Zelte, in denen dicke Frauen mit Gurken masturbieren, während ihre
Männer ihnen die Hand halten. Und ich sehe Zelte, in denen brave Töchter
ihre letzte Unschuld verlieren. Nichts gibt es nicht. Luke Skywalker und
Stevie Wonder sind Freunde. Elvis fummelt mit Michael Jackson und Dennis
Rodman hat was mit dem Papst.
Das Reich der Träume ist zur Erde gekommen. Prinzessin Diana fragt: „Do you
like some weed?“ und schenkt mir dann noch einen Fächer, auf dem steht:
„Jesus loves you“. Das Schenken und Beschenktwerden ist ein wichtiger
Grundsatz des Festivals. Geschenke sind schöne Gegenstände oder Erfahrungen
und Erlebnisse.
Wilde Autos rasen vorbei, draußen im Starlight Drive-in spielen sie „Rocky
Horror Picture Show“. Überall kreuzen Dampfer der Fantasie durch den Staub
der Wüste. Autos, die zu lieben Monstern umgebaut sind, mit gelben, grünen
Tennisbällen gepolstert, der Kühler ein dick geschminkter Mund mit scharfen
Zähnen. Auf dem Dach tanzen Glücksritter.
Ich springe auf einen bösen Drachen aus rohem Stahl mit weit in die Nacht
ragenden Flügeln, Feuerbälle jagen aus den Nüstern in den Sternenhimmel.
Hier treffe ich Eric, der in New York aufs College geht und mir mein bisher
schönstes Geschenk macht: seine Begeisterung für Pink Floyd.
Zum ersten Mal tanzt scheu etwas Glück über die Bühne. Ich selbst. Oder
eine Ahnung davon.
Die Nacht ist schnell. Draußen, wo die Wüste weit und endlos scheint,
dröhnen die Boxen sanfte Druckwellen in den Wind. Unter den Augen des
ersten Lichts tanzen fantastische Clubkids, elegante Dragqueens und Nackte
mit eingewachsenem Kopf zu schnellen Beats in den Sonnenaufgang. Plötzlich
wird die Natur böse. Windböen jagen den feinen Wüstenstaub schnell über den
Grund. Der Himmel wird dunkel, alles staubt.
Die Augen lassen sich ganz gut mit der Skibrille schützen, die Haare am Arm
werden weiß. Es ist der schlimmste Sturm bisher. Die Menschen kauern sich
auf den Boden. Der Beat tanzt gegen den Wind, die Sicht geht weg, vier,
drei, zwei Meter nur noch. Aber ich fühle mich gerade wunderbar frei.
Renne, tanze in die verdammte Wüste hinaus. Atme die Wüste und kann immer
noch rennen, hüpfen. Ein grandioses Gefühl der Stärke pocht in mir.
Vielleicht sieht so das Glück aus? Ein schönes Geschenk ist die Kraft auf
jeden Fall. Danke.
Je näher die Samstagnacht rückt, in der The Man brennen soll, desto mehr
glückliche Gesichter zeigen ihr Lächeln. Die Hitze knallt mächtig. Silberne
Schuhe, in denen ich stehe, laufen mich in ein Camp, das Sibirien heißt.
Zwei Schleusen führen in einen schweren Truckanhänger. Die Augen brauchen
Sekunden, das Ohr hört schon Justin „da Boy“ Timberlake.
Wir stehen in einem auf fünfzehn Grad heruntergekühlten Anhänger, voll mit
Gestalten der Nacht. Von der Decke hängen goldleuchtende Eiszapfen, alles
wackelt ein bisschen von der freudigen Trunkenheit, die hier tanzt.
Am Eingang steht ein aufblasbares Plastiksofa, darauf sitzt das Glück. Zwei
schöne Jungen haben alles vergessen und alles gefunden. Ihre Lippen spielen
zartes Fang-mich. Dazwischen ein süßer, bunter Lolly. Die bösen Mächte, die
in Kansas, Houston oder Denver gegen die Liebe kämpfen, sind besiegt. Hier
bauen sich zwei Glückliche gerade eine neue Zivilisation, und alle
Anwesenden freuen sich. Vielleicht ist das Glück die Liebe und das
Glück-Glück die Freude am Glück nebenan.
Am „Temple of God“ heiraten Ann und Marcus. Sie haben sich hier kennen
gelernt und wollen das Glück jetzt mit nach Hause nehmen. Wir, die
zufällige Hochzeitsgesellschaft, pusten Seifenblasen in die Luft. Ich
treffe Jake, einen strahlenden Zwanzigjährigen aus Reno. Dort arbeitet er
in einem Casino. Er ist zwischen zwei Schichten gekommen, der Zauber des
vorigen Jahres war zu stark. „Hast du Lust, mit zum Thunderdome zu
kommen?“, fragt er und, klar, los geht’s. Der Thunderdome ist ein Nachbau
der Donnerkuppel aus dem Film „Mad Max“. Aufgestellt haben ihn ein paar
Jungs aus Los Angeles, die in Hollywood arbeiten und Zugang zum
entsprechenden Spielmaterial haben.
Tausend bunte Laser stechen in die inzwischen aufgezogene Dunkelheit, als
wir an der Arena ankommen. „Los“, sagt Jake und zieht mich in die Höhe. Das
Klettern geht schnell, eins, zwei, höher hinauf. Unten lassen sich zwei
wilde Mädchen in Lederfetzen an einer Schaukel festbinden. Rechts eine
blonde Pam, links eine dunkle Amazone. Sie werden zurückgezogen, die
Zuschauer schreien, johlen, heizen an. Dann springen die Helfer zur Seite,
die beiden Kämpferinnen schwingen in die Mitte. Mit langen Gummiprügeln
schlagen die Frauen wild aufeinander ein. Jake formt seinen Mund zu einem
schrillen Pfiff. Die Hölle brodelt. Aggressionen wollen hier raus.
Pam the Babe ist unsere Favoritin. Hart knallt das Gummi auf die
Lederkleidung. Die Amazone gewinnt, aber das ist egal. Beide umarmen sich.
Glück trägt nicht nur die Farbe Rosa. Hinter uns explodiert die erste
Feuerwerksrakete im Himmel. Gleich wird The Man, treuer Leuchtturm dieser
Woche, verbrannt.
Als wir ankommen, hat sich bereits ein dichter Menschengürtel um die auf
einem riesigen Sockel stehende Figur gebildet. Ihre Gesichter tragen eine
seltsam starke Erwartung in sich. Starr sind sie. Ich bin absolut
ahnungslos, dass hier gleich etwas passiert, was man ohne Übertreibung den
ultimativen M-I-N-D-F-U-C-K nennen muss.
„Hörst du die Trommeln?“, fragt Jake und erklärt, dass sie den Herzschlag
des Mannes symbolisieren. Ein rotes Herz leuchtet in seinem Brustkorb auf.
Jetzt lebt er. Für uns und mit uns. Die Trommelschläge werden lauter,
wilder, mehr. Feuerschlucker, Feuertänzer wirbeln tanzend das Auge
verrückt. Dann explodieren helle Feuerwerksraketen in den Himmel. Der Mann
steht im Feuer, sein rechter Arm fällt herunter. Es wird warm, heiß,
verdammt heiß, die Feuerwehrmänner in atomkriegsartigen weißen
Schutzanzügen weichen zurück. Direkt vor uns wächst ein Feuertornado in den
Himmel und tänzelt auf uns zu. Panik macht sich breit. „Nimm deine Tasche“,
schreit Jake ernst und zieht fest an meiner Hand. Hier tanzt die Gefahr auf
der Bühne, und sie spielt mit unserem Herz.
Doch Gott ist gnädig, der Tornado dreht ab und The Man fällt zusammen. Ich
beneide das kleine Mädchen, das auf den Schultern seines Vaters sitzt und
trocken bemerkt: „Dieses Jahr hat der Mann aber lange durchgehalten“, für
ihre Abgeklärtheit. Macht Gefahr Glück größer?
Wir treiben mit in einem Strudel aufgeputschter Menschen, die jetzt
kreisförmig um das Feuer ziehen, näher herangehen. Und Persönliches ins
Feuer werfen. Fotos zum Beispiel. Symbole für Vergangenes, Ängste und
Trauer, über die sie hinwegkommen wollen. Mit blutroter Farbe beschmierte
Nackte, Maskierte, tanzen fremde Kreise. Ein Mann ruft: „Preiset die
großartige menschliche Rasse.“
Nur eine blonde Journalistin bleibt gelassen. Sie arbeitet. Steht ganz nah
am Feuer. Trägt einen Ganzkörperlatexanzug mit Stars-and-Stripes-Aufdruck.
Sucht die wildesten Interviews und denkt an ihren Redakteur.
Bemalte ältere Männer legen sich mit entblößtem Glied nah an die Glut. Es
ist Aztekentanz, Untergang der „Titanic“, Ankunft der Arche Noah, die
Vereinigten Staaten auf Magic Mushrooms. Heidnisch, religiös, ein wenig
beängstigend, aber der Körper spürt das gewaltige Feld der Euphorie, in dem
wir stehen.
Die ganze Woche war der Kopf beschäftigt mit Gedanken. Was macht uns zu den
Menschen, die sie sind? Was macht mich zu dem, der ich bin? Wie reagiere
ich auf andere? Wie wirke ich auf andere? Jetzt ist der Verstand angenehm
runtergefahren. Das Gefühl regiert. Und es fühlt sich gut an. Jake und ich
laufen weg vom Feuer, schauen zurück und in den Himmel. Oben leuchten die
Sterne, und unten da leuchten wir. Glücklich.
Ja? Ja.
Am nächsten Tag ist alles vorbei, die Stadt auf Zeit zerstört sich selbst.
Überall lodern Feuer hell in den Himmel. Die liebevoll für das Festival
gebauten Camps werden verbrannt. Zum Schluss treffen wir noch den Mann, der
Erfinder, inoffizieller Chef und mächtigster Mann von Black Rock City ist –
Larry Harvey. Seine Assistentin platziert uns auf einer über seinen Trailer
gebauten überdachten Plattform, von der man einen imposanten Blick über die
Stadt hat, und lässt uns warten.
Harvey schläft noch. Nach einer kleinen Ewigkeit kämpft sich ein müder Mann
in den Fünfzigern die Treppe hoch. Er nimmt den Cowboyhut, sein
Markenzeichen, ab und raucht eine starke Camel. Dann dreht er auf und
braucht keine Fragen mehr. Die Thesen hämmern nur so heraus aus ihm. Er
spricht: „Unsere Demokratie ist krank. Die Gesellschaft krepiert am Konsum.
Massenkultur verdient den Namen Kultur überhaupt nicht. Das ist
Massenwirtschaft. Was bitte ist an GAP Kultur?“
Er zieht tief an einer weiteren Camel. Ich frage: „Was verstehen Sie denn
unter Radical Self-Expression?“ – „Es bedeutet, tief in sich zu schauen.
Was für Seelen wohnen da in meiner Brust?“ – „Und was, wenn man dabei au…
Seiten entdeckt, die einem nicht gefallen?“ Harvey nimmt jetzt zum ersten
Mal die Sonnenbrille ab, sein Gesicht kommt näher. „Es tut weh. Aber
Schmerz heilt. Die Menschen beschenken sich hier mit Erfahrungen, nicht mit
Materie. Das ist Glück. Glück, das man mit nach Hause nehmen kann.“
Mal sehen, wie lange der Stoff reicht. Glück macht nämlich verdammt
süchtig, mental und körperlich. Cindy und Candy wohnen jetzt bei mir.
HENNING KOBER, 22, Autor in Berlin, fühlt sich, zwei Wochen nach seiner
Wiederkehr aus Black Rock City, „ good and healthy“. MARCUS MEYER, 31,
Fotograf in Bremen, hat für seine Serie vom Burn-Festival den
Kodak-Nachwuchsförderpreis sowie den Fuji-Euro-Press-Award erhalten
20 Sep 2003
## AUTOREN
HENNING KOBER
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