| # taz.de -- „Ich bin ein Patriot“ | |
| Norman Birnbaum, selbst US-Amerikaner, zählt auf der Linken zu den | |
| gewichtigsten Kritikern seines Landes. Er befürwortet ohne Illusionen die | |
| Wahl des Demokraten John Kerry | |
| INTERVIEW BERND PICKERT & STEFAN REINECKE | |
| taz.mag: Herr Birnbaum, wie begann Ihre Zeit als Linker? | |
| Norman Birnbaum: Zunächst: Ich hatte eine typische New Yorker Jugend. Mit | |
| zwölf habe ich gelernt, zwischen Stalin und Trotzki zu unterscheiden. | |
| Jüdische Jungens waren ja oft ziemlich frühreif. In der Highschool war ich | |
| Mitglied der American Student Union, die von der US-amerikanischen KP | |
| gesteuert wurde. Aber da bin ich schnell wieder ausgetreten. | |
| Im New York der Dreißigerjahre war es wohl üblich, Kommunist oder so etwas | |
| Ähnliches zu sein. | |
| In unseren Kreisen – ja. Wir haben zu Hause The Nation und The New Republic | |
| gelesen, der damals noch links war. Mit vierzehn oder fünfzehn habe ich | |
| dann Partisan Review entdeckt, die gleichzeitig marxistisch und | |
| modernistisch war. Einer Anekdote zufolge gab es damals in New York junge | |
| Leute, die erst auf der Universität erfuhren, dass man in den USA mit | |
| Zweiparteiensystem die Demokraten und die Republikaner meinte – und nicht, | |
| wie sie dachten, Stalinisten und Trotzkisten. | |
| Wie war das New York jener Jahre? | |
| Es war ein New-Deal-Staat. Roosevelt war ja Gouverneur von New York | |
| gewesen, ehe er Präsident wurde. Und New York war kulturell sehr mit Europa | |
| verbunden. Ich kann mich erinnern, dass ich 1938 im Madison Square Garden | |
| bei dem letzten großen Treffen für die Spanische Republik war. Geredet | |
| haben dort Thomas Mann und André Malraux. Auch die Professoren im kulturell | |
| entfernten Massachusetts, bei denen ich zuerst studiert habe, waren linke | |
| New Dealer. Das änderte sich aber. | |
| Wann? | |
| Mitte der Vierzigerjahre. In Harvard, Anfang der Fünfzigerjahre, wo ich in | |
| Soziologie promoviert wurde, herrschte ein ganz anderer Wind. Mit Marx | |
| durfte man sich, wenn überhaupt, nur befassen, um zu wissen, wie der Feind | |
| denkt. Und die US-Gesellschaft untersuchte man unter sorgsamer Vermeidung | |
| der Kategorien Klasse, Rasse und Geschlecht. Harvard 1947 war wirklich | |
| furchtbar. Man verstand sich als think tank des entstehenden US-Imperiums | |
| und schaute mit unglaublicher Arroganz auf andere Länder. | |
| Und Sie nicht? | |
| Nein, ich habe in den letzten fünfzig Jahren sehr viel in Europa | |
| gearbeitet, in London bei der School of Economics und in Oxford, in | |
| Frankreich und Italien, und dort vielfältigste Kontakte zu den Linken, von | |
| der PCI bis zur SPD, aufgebaut. Ich war 1959 auch einer von den | |
| Mitbegründern der New Left Review. | |
| Viele mit ähnlichem biografischem Hintergrund sind zu Erfindern des | |
| Neokonservativismus geworden. Warum sind Sie noch ein Linker? | |
| Diese Frage hat mir schon mal jemand vor 25 Jahren gestellt. 1979 bin ich | |
| Professor an der Georgetown University in Washington geworden. Damals sagte | |
| mir ein Jesuit: „Norman, die Jesuitengemeinde in Georgetown ist sehr froh, | |
| dass du, der letzte linke jüdische Intellektuelle, bei uns Professor wirst. | |
| Alle andere sind inzwischen Neokonservative. Warum du nicht?“ Ich habe | |
| geantwortet: Ich kann das einfach nicht. | |
| Verstehen Sie denn die Motive, warum so viele so konservativ geworden sind? | |
| Nun, ein Motiv ist ein unkritischer amerikanischer Patriotismus, verbunden | |
| mit einem Versuch, jüdische Identität aufrechtzuerhalten, aber im Gelobten | |
| Land USA zu bleiben. Ein Glaube an den amerikanischen Mythos, dass wir hier | |
| eine offene, plurale Gesellschaft haben, in der jeder alle Chancen hat. Und | |
| zweitens: der unbedingte Wille, Israel zu unterstützen. Das hatte keine | |
| religiösen Gründe, weil die allermeisten sakuläre Juden waren. Ihr promised | |
| land ist die USA. | |
| Sind Sie ein Patriot? | |
| Ja. Eher als diese Leute. Denn ich glaube, wie Thomas Jefferson, dass die | |
| USA ein unvollendetes Projekt sind, ja dass dieses Unvollendete das Wesen | |
| der USA ist. Für diese Leute sind die USA die vollendete Revolution. Zum | |
| Teil sind das ja Ex-Marxisten und -Trotzkisten, die ihren Glauben an die | |
| Weltrevolution, aus der nichts wurde, durch die amerikanische Revolution | |
| ersetzt haben. In diesem Blick verwandeln sich die Rassentrennung, soziale | |
| Ungerechtigkeit und die Sklaverei zu Betriebsunfällen. | |
| Die Schwächen der Neocons sind offenkundig. Aber hat die linke Theorie | |
| nicht auch ihre beste Zeit hinter sich? | |
| Sicher sind wir jetzt in einer Wüste für die neue globale Klassenstruktur. | |
| Für das Aufkommen von fundamentalistischem Nationalismus und Religiosität | |
| haben wir keine Antworten. Ich habe viel von der Frankfurter Schule und dem | |
| französischen Neomarxismus mitgenommen. Ich finde jetzt, dass der | |
| amerikanische Pragmatismus und Progressivismus immer noch gültig ist. Ihren | |
| geistigen Höhepunkt hatte diese Schule wohl mit dem Philosophen John Dewey, | |
| auch Richard Rorty ist wichtig. Die Idee ist, Gesellschaft als | |
| Experimentierfeld zu begreifen, um menschliche Möglichkeiten zu erweitern. | |
| Was ist daran falsch? | |
| Aber die Neocons haben es geschafft, den Mainstream zu beeinflussen – viel | |
| mehr als Dewey und Rorty zusammen. Warum? | |
| Der Mainstream in den USA genau wie in Deutschland ist die organisierte | |
| Dummheit. Man sieht den Einfluss der Linken in den USA nicht so deutlich. | |
| Sehen Sie die Sozialideen der protestantischen Kirchen an. Oder den | |
| Solidaritätsgedanken im Katholizismus, der immer noch sehr stark ist … | |
| … aber das erreicht nicht die Ebene der Regierungspolitik. | |
| Nein, viele linke Demokraten sind Katholiken oder engagierte | |
| Sozialprotestanten. Das wirkt in der Gesellschaft, in manchen | |
| Universitäten, Verlagshäusern. Oder nehmen Sie die jesuitische | |
| Wochenzeitung America. Die liest in Deutschland niemand, aber da finden Sie | |
| viel Kritik an den USA. Richtig ist, dass es den Neocons gelungen ist, eine | |
| maßgeschneiderte Ideologie für Parvenüs – also sie selbst – zu schaffen. | |
| Woraus besteht diese Ideologie? | |
| Aus zwei Teilen. Erstens: Mit Fleiß und Arbeit kann jeder es in den USA zu | |
| etwas bringen, der Markt ist eine gottgegebene Institution. Das beinhaltet, | |
| dass man auf die, die es, offenbar wegen eigener Charakterschwäche, nicht | |
| geschafft haben, herunterblicken kann. Zweitens: Die Aufgabe der USA ist | |
| es, die Welt zu verbessern. Das ist eine doppelte Rechtfertigung: für den | |
| US-Kapitalismus und für das US-Imperium. Nun – es ist nicht so erstaunlich, | |
| dass die Neocons damit Erfolg haben. | |
| Aber warum hat die Linke kein vergleichbares Erfolgsmodell hervorgebracht? | |
| Ist der Erfolg der Neocons nicht einfach die Kehrseite einer Schwäche der | |
| Linken? | |
| Ja, doch. Die Linke in den USA ist zu einem korporativistischen Verband | |
| degradiert, der unterschiedlichste Interessen bedienen soll. Die Linke hat | |
| sich in den letzten Jahrzehnten stark auf Frauenrechte, Rechte für | |
| Homosexuelle, für Latinos konzentriert. | |
| Zu stark? | |
| Ja, denn das hat bei kulturell traditionell ausgerichteten weißen | |
| Arbeitern, nicht nur im Süden, Angst ausgelöst. Diese Leute wählen deshalb | |
| heute, plakativ gesagt, gegen ihre Klasseninteressen. Dabei gibt es in den | |
| USA soziale Ungerechtigkeiten. Wir geben ein Prozent des | |
| Bruttosozialproduktes für Bildung aus. Das ist viel zu wenig. Aber das hat | |
| eine imperiale Logik. Denn weshalb soll man in Schulen für | |
| Unterschichtskinder investieren – wir können uns doch jeden interessanten | |
| Wissenschaftler von Tübingen über Taiwan bis Thailand kaufen. Gehen Sie in | |
| eine Universitätsklinik in den USA – Sie treffen dort Ärzte aus der ganzen | |
| Welt. Auch dagegen hat die Linke kein Konzept. | |
| Die Linke wirkt zerfasert. | |
| Ja, sie reicht von Arbeitern über die bürgerliche Mittelschicht, die | |
| „anders leben“ will, bis zu Minderheiten und Globalisierungskritikern. Und | |
| sie hat das soziale Kerngeschäft vernachlässigt. Die USA haben ein | |
| gigantisches, gefährliches und wachsendes Außenhandelsdefizit. Auch da hat | |
| die Linke kein Konzept. Die Linke ist in jeder Hinsicht disparat, die | |
| Rechte homogen. Das ist das Problem. | |
| Die Linke hat in den USA vor allem ein Problem – den Staat. Alle | |
| sozialdemokratischen Ideen beziehen sich in Europa auf den Staat – und den | |
| sieht man in den USA viel skeptischer. | |
| Ja, das ist so. Dramatisch verschärft wird dies durch die Schwäche der | |
| Gewerkschaften. Früher waren mal mehr als ein Drittel aller Arbeiter in der | |
| Gewerkschaft, heute sind es noch etwas mehr als zehn Prozent. Aber ohne | |
| funktionierende Gewerkschaft wird der Versuch, sozialdemokratische, | |
| etatistische Elemente zu forcieren … | |
| … etwa eine brauchbare Krankenversicherung … | |
| … vergeblich sein. Denn auch die reaktionärsten Gewerkschaftsführer haben | |
| ja versucht, so etwas wie Sozialstaat zu etablieren. Um solche Ziele können | |
| sich Gewerkschaften, die darum kämpfen müssen, ob sie in einem Betrieb | |
| Flugblätter verteilen dürfen, nicht kümmern. Das kann sich nur ändern, wenn | |
| die Demokraten wieder regieren. Da gibt es eine Wechselwirkung. | |
| Auch wenn Kerry Präsident wird? | |
| Ja, auch wenn John Kerry etwas diffus in der Frage der Gewerkschaften ist. | |
| In den USA sagen viele: Bush muss unbedingt weg, diese Wahl ist so wichtig | |
| wie keine zweite. Sie haben ja schon viele Wahlen erlebt. Sehen Sie das | |
| gelassener? | |
| 1932, als Roosevelt gewählt wurde, war das sehr wichtig. Es ist übrigens | |
| bemerkenswert, dass Roosevelt mit weniger Beratern den New Deal | |
| durchgesetzt und den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat, als heute die Frist | |
| Lady hat. Wichtig, aber ein wenig vergessen ist die Wahl 1948, denn mit | |
| Truman wurde der New Deal stabilisiert. Der hielt bis 1980, als Reagan kam | |
| und alles zerstörte. Trotzdem ist es schwer, gelassen zu bleiben, wenn man | |
| sieht, was Bush anrichtet. | |
| Wie wird die Wahl ausgehen? | |
| Knapp auf jeden Fall. Es kann gut sein, dass diese Wahl in einem | |
| Verfassungschaos enden wird, noch schlimmer als 2000. Es ist möglich, dass | |
| in mehreren Bundesstaaten Demokraten und Republikaner das Ergebnis | |
| anfechten. | |
| Was dann? | |
| Der Supreme Court, das Oberste Gericht, ist republikanisch dominiert. Es | |
| ist unklar, was dann passieren wird. Sicher ist nur, dass unsere Neocons | |
| auch dann unverdrossen unsere Demokratie als Modell in Nahost anpreisen | |
| werden. | |
| Und sicher scheint auch zu sein, dass Ralph Nader antritt – und vielleicht | |
| Bush zum Präsidenten macht. Verstehen Sie Nader noch? | |
| Ich habe Nader vor vier Jahren anfangs unterstützt. Jetzt nicht mehr. Er | |
| überschätzt sich maßlos. Ich bin der Letzte, der die Demokraten | |
| verherrlicht. Aber so wie Nader zu sagen: Es ist völlig egal, wer regiert – | |
| das ist töricht. Ich glaube, ihn treibt nur noch Bitterkeit voran. Noch | |
| nicht mal in Swing States will er zur Wahl von Kerry aufrufen. Sein Motto | |
| scheint zu sein: Je schlimmer, desto besser. Das ist gefährlich. | |
| Kerry macht ja Wahlkampf damit, dass er verspricht, die Europäer im Irak | |
| wieder ins Boot zu holen. Sollen die Europäer, um Kerry zu helfen, ihm | |
| Zusagen machen? | |
| Auf keinen Fall. Auch wenn Kerry siegt, ist es wichtig, dass die Europäer | |
| keine Konzessionen machen. Sie sollten antworten: Ja, wir engagieren uns im | |
| Irak – unter UN-Befehl, vielleicht mit einem muslimisch-indischen General | |
| und wenn vorher der letzte GI den Irak verlassen hat. Aber nur dann. | |
| Weshalb sollen Berlin und Paris nicht signalisieren, dass sie, wenn Bush | |
| weg ist, auch die politischen Fragen des Irak neu bewerten? | |
| Auch Präsident Kerry müsste man klipp und klar sagen: Ihr Vorgänger hat die | |
| Macht der USA enorm überschätzt. Die Marionettenregierung in Bagdad löst | |
| kein Problem. Wir brauchen die UN im Irak, am besten mit Soldaten aus | |
| Drittweltländern. Und die Privatisierung des irakischen Staates wird sofort | |
| gestoppt, bis darüber eine legitime irakische Regierung entscheidet. Und | |
| Schluss mit Scharons Alleingängen. | |
| Das sollten die Forderungen der Europäer sein? | |
| Ja, aber natürlich werden sie diese Ideen nicht alle durchsetzen können. | |
| Aber ein paar. Und so könnten sie in den USA die vernünftigen | |
| außenpolitischen Kräfte stärken, die es im Kongress und im Apparat ja gibt. | |
| Viele sagen: Der Irak braucht Sicherheitskräfte – und außer den USA kann | |
| das kein Staat leisten. Stimmt das nicht? | |
| Nein. Wir erleben im Irak derzeit die Israelisierung der US-Außenpolitik. | |
| Sehen Sie sich doch die Bilder im Fernsehen oder in Zeitungen an: Auch im | |
| Irak zerstören US-Soldaten Häuser, in denen Terroristen gewohnt haben | |
| sollen. If it moves, shoot it – das sagen viele US-Soldaten. Sie benehmen | |
| sich wie Besatzer. | |
| Aber man darf den Irak nicht dem Chaos überlassen … | |
| Ein Hauptgrund für das Chaos dort ist, dass unser Militär dort ist. | |
| BERND PICKERT, 39, ist taz-Auslandsredakteur seit 1996; STEFAN REINECKE, | |
| 45, ist taz-Autor. Beide sprachen mit Norman Birnbaum während seines | |
| Besuchs in der taz-Redaktion | |
| 30 Oct 2004 | |
| ## AUTOREN | |
| BERND PICKERT / STEFAN REINECKE | |
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