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# taz.de -- Der 90. Tag bricht an
VON NICK REIMER
Heute beginnt ein neues Zeitalter. Den Termin hat Russland bestimmt: Nach
endlosem Hickhack hatte die russische Duma im Oktober das Kioto-Protokoll
ratifiziert. Damit war die kritische Masse erreicht: Für die Gründung der
Kioto-Welt werden – so sieht es der Vertrag vor – mindestens 55 Staaten
gebraucht, die mindestens 55 Prozent des weltweiten Ausstoßes von
Treibhausgasen zu verantworten haben. Berechnungsgrundlage ist das Jahr
1990. Zwar hatten vor Russland bereits 140 andere Staaten unterzeichnet.
Das 55-Prozent-Kriterium wurde aber erst mit der Unterschrift Moskaus
erreicht.
Der Rest ist Formsache: Artikel 25 des Kioto-Protokolls besagt, dass 90
Tage nach Hinterlegung der Unterschrift bei den Vereinten Nationen der
Beitritt rechtskräftig ist. Heute ist der 90. Tag, Kioto kann beginnen. Wie
aber funktioniert die Umsetzung? Wer ist zuständig? Was passiert – und was
unterbleibt? Ein kleiner Leitfaden durch das neue Zeitalter.
## Die Aufgabe
Durch die Industrialisierung stieg seit Beginn des 20. Jahrhunderts die
globale mittlere Temperatur um 0,6 Grad Celsius. Die Menschheit hat also
ein Problem: Lachgas (N2O), Methan (CH4) oder Kohlendioxid (CO2) –
zusammengefasst unter dem Begriff Treibhausgase – erwärmen die Erde und
bringen so das Klima durcheinander. 1992 verabschiedeten in Rio de Janeiro
154 Staaten eine Klimarahmenkonvention, die das Problem erstmals offiziell
benannte und Lösungen erarbeitete. Nach langwierigen Verhandlungen
beschlossen dann 1997 die Vertragsstaaten in der japanischen Stadt Kioto
ein Protokoll, das die Industriestaaten verpflichtet, ihren
Treibhausgas-Ausstoß bis 2012 um 5,2 Prozent zu reduzieren. Schwellenländer
sollen ihren Ausstoß auf dem Niveau von 1990 stabilisieren,
Entwicklungsländern werden keine Reduktionsziele vorgeschrieben.
## Die Verwaltung
Ab sofort ist Deutschland Klimamittelpunkt der Welt – jedenfalls
verwaltungstechnisch. Dem Engagement von Bundeskanzler Kohl ist zu
verdanken, dass das internationale Klimasekretariat – die
Kioto-Verwaltungszentrale – in Bonn sitzt. Kohls Klimapolitik gehorchte
Anfang der 90er-Jahre einer Strategie, die der Klimaexperte Hermann Ott
heute als „geopolitisch vorbildlich“ lobt. Mittlerweile arbeiten etwa
hundert Mitarbeiter im Haus „Carstanjen“ am Rhein. Das zeigt, wie wichtig
die UNO das Thema nimmt: Im internationalen Ozonsekretariat mit Sitz in
Nairobi arbeiten beispielsweise nur fünf hauptamtliche Mitarbeiter.
## Die Buchhaltung
Aufgabe der Zentrale ist, genau aufzulisten, welcher Vertragsstaat wie viel
Kohlendioxid einspart. Das läuft zunächst auf freiwilliger Basis: Die
Vertragspartner melden den jeweils aktuellen Stand. Artikel 9 des
Kioto-Protokolls besagt, dass diese Daten dann zu den halbjährlichen
Konferenzen veröffentlicht werden. Allerdings misstraut die Buchhaltung den
Angaben. Deshalb werden Kontrollteams in die Länder geschickt. Gespräche
mit Wirtschaft, Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaftlern sollen
Relevanz und Korrektheit der Daten erhärten.
## Der Gerichtshof
Artikel 19 des Kioto-Protokolls weist der Verwaltung auch die Funktion des
Schlichters zu. Die Bonner Behörde muss deshalb jetzt eine Art
Klima-Gerichtshof einrichten. Zwar wird dieser in strittigen Fällen
urteilen, sein Urteil wird aber keine Kraft im juristischen Sinne haben.
Artikel 18 besagt, dass „wirksame Verfahren und Mechanismen zur Behandlung
von Fällen der Nichteinhaltung des Protokolls“ von der ersten Konferenz
nach in Inkrafttreten des Protokolls beschlossen werden. Diese soll im
November in Kanada stattfinden.
## Der Bußgeldkatalog
Das Protokoll sieht dabei eine Abstufung der Strafen nach „Ursache, Art,
Grad und Häufigkeit“ von Vertragsverletzungen vor. Im Grunde soll jenen
Staaten, die ihren Verpflichtungen bis 2012 nicht nachkommen, in der
zweiten Vertragsperiode bis 2017 ein 1,3-faches Reduktionsziel verordnet
werden. Experten fürchten allerdings, dass der zu beschließende
Bußgeldkatalog nicht greifen wird: Schließlich kann ein verurteilter Staat
wieder aus dem Kioto-Protokoll aussteigen – wenn auch gemäß Artikel 27
frühestens in drei Jahren.
## Die Mechanismen
Damit so etwas nicht passiert, sieht das Kioto-Protokoll drei „flexible“
Mechanismen vor: den Emissionshandel zwischen den Industriestaaten,
gemeinsam durchgeführte Klimaschutzprojekte – IJ genannte Joint
Implementations – und klimafreundliche Entwicklungspolitik, den Clean
Development Mechanism (CDM).
Der internationale Emissionshandel soll spätestens ab 2008 so funktionieren
wie demnächst der nationale in Deutschland: Pro Tonne Kohlendioxid wird
eine Art Aktie – ein Zertifikat – ausgegeben. Wer mehr spart als
vorgeschrieben, kann die Aktie an ein Land verkaufen, das nicht so viel
spart, wie es soll. Aktiver Klimaschutz kann also einen Standortvorteil
schaffen.
Verzahnt ist dies mit Joint Implementations: Wenn etwa die Niederlande in
Litauen einen Windpark finanzieren, wird dort der Ausstoß reduziert.
Litauen käme seinem Reduktionsziel dadurch um x Reduktionseinheiten näher –
und die Niederlande dürften sich diese Einheiten gutschreiben.
Ähnlich läuft es bei der klimafreundliche Entwicklungspolitik (CDM): Baut
beispielsweise ein deutscher Energiekonzern ein modernes Kraftwerk in
Burundi, kann er über den CDM-Mechanismus zusätzlichen Gewinn erzielen.
Ausgeschlossen von dieser „Gutschrifts-Politik“ sind übrigens neu gebaute
Atomkraftwerke.
## Der Ethikrat
Was aber klimafreundliche Entwicklungspolitik ist, bestimmt eine Art
Ethikrat beim Klimasekretariat – das so genannte Executive Board. Ein das
Klima schonender Investor muss ein Projekt zuerst dort anmelden. Das kostet
den Konzern aber: 2 Prozent des Gewinns der neuen Anlage kommen dem Land
zugute, hinzu kommen die Kosten des Prüfverfahrens. Im Gegenzug bekommt der
Konzern dann Zertifikate gutgeschrieben, die er an der Börse handeln kann.
Allerdings ist das Zulassungsverfahren durch den Ethikrat ausgesprochen
knifflig. Bislang schaffte es erst ein einziges Projekt in Brasilien,
anerkannt zu werden. Deshalb werden bislang nur Optionsscheine auf künftige
Zertifikate feilgeboten – Handelsplatz ist Chicago.
## Das Sonder-Instrument
Eine Ausnahme bilden so genannte Klima-Senken: Weil Wälder als Ökosystem
Kohlendioxid speichern, können auch Aufforstungsprogramme dem
Reduktionsziel zugerechnet werden. Dies aber hatte zu Streit geführt,
weshalb eine Obergrenze eingeführt wurde, wie viel auf diese Weise gespart
werden darf. Zwar enthält die Kioto-Vereinbarung ausdrücklich den Satz,
dass nur „neue Aktivitäten“ angerechnet werden – nicht die normale
Forstwirtschaft. Was das aber heißt, ist noch unklar.
## Die Verweigerer
Ganz Europa ist von der Notwendigkeit verstärkten Klimaschutzes überzeugt.
Ganz Europa? Ein kleiner Südstaat hört nicht auf, gegen den Klimaschutz
Widerstand zu leisten: das Fürstentum Monaco. Allerdings ist das eher
nebensächlich: Die USA sind als weltweit größter Verursacher für ein
Viertel aller Treibhausgase verantwortlich, weigern sich aber beharrlich,
dem Protokoll beizutreten. Auch Australien lehnt den Vertrag ab.
## Die Bedenkenträger
Zwar wertet der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung zu globalen
Umweltveränderungen das Kioto-Protokoll als historischen Wendepunkt in der
internationalen Klimapolitik. Aber wie Wissenschaftler weltweit hält auch
das Expertengremium die Reduktionsziele für viel zu gering. Bis 2020
müssten die Industrieländer ihre Emissionen um mindestens 20 Prozent
gegenüber 1990 mindern, so ihre Empfehlung. Auch Schwellenländer wie China,
Brasilien oder Indien sollten konkrete Verpflichtungen eingehen. „Sicher
reicht das Kioto-Protokoll allein nicht aus“, sagt selbst Joke
Waller-Hunter, Leiterin des UN-Klimasekretariats in Bonn. „Aber es sorgt
für Bewegung.“
## Die Unterhändler
Das ist auch der Staatengemeinschaft klar. Deshalb beginnen jetzt
Verhandlungen über ehrgeizigere Klimaschutz-Ziele. Allerdings ist das
schwierig. Grund ist der Status der Verhandelnden, denn praktisch gibt es
eine Zwei-Klassen-Diplomatie: Cop-Diplomaten – die untere Klasse – sind
jene, die nur die Klimarahmenkonvention (-> siehe Fundament) unterzeichnet
haben. Der gehobene Kreis der Diplomaten wird als „Cop-Mob“ bezeichnet:
Ihre Regierungen haben Kioto unterschrieben. Nicht nur den USA ist diese
Abstufung gar nicht recht, auch viele Entwicklungsländer klagen. Erstens
über die enormen Kosten, zweitens mangelt es zusehends an qualifiziertem
Personal.
## Die Zweigstellen
Deshalb sieht Artikel 10 „Nebenorgane“ vor: Ausbildungsprogramme, die „die
personelle und institutionelle Stärkung nationaler Kapazitäten“
voranbringen sollen. So soll auch das Bewusstsein für den Klimawandel in
der Bevölkerung gestärkt werden.
## Die Pessimisten
Obwohl die USA das Protokoll nicht ratifizieren wollen, haben sie es
nachhaltig geprägt: Experten behaupten, dass es im Zuge der Verhandlungen
stark verwässert wurde, um die USA ins Boot zu holen. Pessimisten sehen im
seit heute gültigen Vertrag deshalb jede Menge Schlupflöcher. Ihr Fazit:
Statt um 5,2 Prozent wird der Treibhausgas-Ausstoß möglicherweise um nur
1,8 Prozent gemindert. Man wird sehen. Spätestens 2012.
16 Feb 2005
## AUTOREN
NICK REIMER
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