# taz.de -- Es war einmal Jean-Paul Sartre | |
> „Sartre und ich trafen uns in seiner Wohnung Boulevard Raspail, und ich | |
> weiß bis heute nicht, wer von uns beiden aufgeregter war.“ DANIEL | |
> COHN-BENDIT eröffnet das Sartre-Jahr mit einer Erzählung über seine drei | |
> Begegnungen mit dem großen französischen Intellektuellen | |
VON DANIEL COHN-BENDIT | |
1 | |
Es dürfte wohl wenige Menschen geben, die, wie ich, Jean-Paul Sartre kennen | |
lernten, ohne zu wissen, wer er war. Ich muss damals acht oder neun gewesen | |
sein und hatte mich mit meinem großen Bruder Gaby irgendwo im Quartier | |
Latin verabredet – wahrscheinlich um gemeinsam im Jardin du Luxembourg | |
Bötchen schieben zu gehen, denn darauf war ich damals besonders wild. | |
Gaby war neun Jahre älter als ich, und am Abend bevor wir uns treffen | |
wollten, erklärte er mir, es gehe leider nicht, denn er habe eine wichtige | |
Verabredung mit einem der bedeutendsten zeitgenössischen Philosophen. | |
Damals nämlich war Gaby Sekretär der kommunistischen Studentenzelle bei den | |
Philosophen – eine von denen, die nicht auf Parteilinie war –, und der | |
berüchtigte große Philosoph hatte sich bereit erklärt, an einer von dieser | |
Zelle, also von meinem Bruder, organisierten Debatte teilzunehmen. | |
Niemand weniger als Jean-Paul Sartre hatte mir also meinen freien | |
Nachmittag mit meinem Bruder geklaut, da Gaby nun eine Veranstaltung | |
vorbereiten musste, von der die Teilnehmer heute meinen, dass sie | |
tatsächlich ein wenig Geschichte gemacht habe – und sei es die Teilnahme | |
Sartres. | |
So stieß ich erstmals auf jenen großen Intellektuellen, der durch seine | |
Schriften, sein Engagement und sein gelebtes Bekenntnis zur – öffentlichen | |
und privaten – Freiheit ganze Generationen geprägt hat, allen voran die | |
Generation meines Bruders. | |
Ich erinnere mich noch an die (schul)„freien Donnerstage“: Debatten in | |
einem Pariser Café, an denen ich teilnehmen durfte, und bei denen das Paar | |
Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre als Beispiel der Überwindung der | |
bürgerlichen Familie in den Himmel gelobt wurde. | |
Erst etwa vierzig Jahre später enthüllte mir Françoise Sagan bei einem | |
Treffen die ziemlich zwiespältige Wahrheit über dieses Symbol der Freiheit. | |
Auch wenn wir spätestens seit „Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“ sehr | |
wohl wussten, woran wir waren. | |
2 | |
Jahre später wurde der Junge aus dem Lycée Buffon zu „Dany le rouge“ (der | |
rote Dany), einem Anführer jener Revolte, die von sich sagen kann, dass sie | |
Frankreich aus seinem bleiernen Schlaf riss und nicht wenige Menschen | |
verjüngt hat – unter anderem Jean-Paul Sartre, der im Auftrage des Nouvel | |
Observateur mich, einen bis dato unbekannten Ruhestörer, interviewen | |
sollte. | |
Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, trafen wir uns in seiner Wohnung | |
Boulevard Raspail, und ich weiß bis heute nicht, wer von uns beiden | |
aufgeregter war. Damals war ich wohl ein cooler Agitator, und er selber war | |
von meiner Jugend angetan. Offensichtlich machten ihn die unerträgliche | |
Leichtigkeit meiner Sorglosigkeit und die Klarheit meiner Äußerungen an. | |
Das Treffen schlug ein wie ein Blitz, jedenfalls hat es sich uns beiden | |
eingeprägt … | |
So kam es, dass wir uns einige Monate später wieder trafen, Simone, | |
Jean-Paul, zusammen mit Marc (Kravetz), wenn mein Alzheimer mich nicht | |
täuscht, außerdem mit Barbara, meiner damaligen Lebensgefährtin, und noch | |
einer vierten Person, deren Namen ich vergessen habe. | |
Wir saßen an der Piazza Navona in einem dieser Restaurants mit dem | |
unnachahmlichen italienischen Flair. Sartre verlangte Auskunft über alles: | |
über die Barrikaden, den Aufstand, die Zukunft, das revolutionäre Ziel. Die | |
Pasta war al dente und der Weißwein suave. Unter anderem ging es darum, ob | |
wir nicht bei Temps modernes Redaktionsmitglieder werden wollten, was für | |
alle, die meine besondere Liebe zum Schreiben kannten, ein guter Witz | |
gewesen sein dürfte. | |
Sartre war an jenem Abend äußerst lebhaft, und wir waren stolz, dass er | |
sich mit uns abgab; entsprechend verlief der Abend sehr angenehm. Abgesehen | |
von den unablässigen nervigen Einwürfen Simones, die Sartre daran | |
erinnerte, wie früh er am folgenden Tag aufstehen müsse, um | |
weiterzuschreiben, trennten wir uns in guter Stimmung. | |
Zirka zehn Jahre später las ich dann in den Erinnerungen von Simone de | |
Beauvoir zu meiner unangenehmen Überraschung, dass wir uns an jenem Abend | |
offensichtlich wie miese Volkskriegsnostalgiker aufgeführt hatten, die zu | |
keinem ernsthaften Gespräch in der Lage waren. Glücklicherweise hat sich | |
mir die Erinnerung daran, wie Sartre in Italien mir lachend gegenübersaß, | |
tief eingeprägt, sodass ich die Bemerkungen von „der bösen Tante“ Simone | |
nicht allzu ernst nehmen muss. | |
3 | |
Die Jahre vergingen. Der revolutionäre Schwung implodierte, und die | |
terroristischen Gespenster traten ins Rampenlicht. 1974 wandten sich die | |
Kämpfer der RAF im Stammheimer Hochsicherheitstrakt an den großen | |
Philosophen und baten um Unterstützung vor dem Hintergrund, dass die | |
gesamte wohlmeinende Linke in Frankreich gegen die Auslieferung von Klaus | |
Croissant, dem Anwalt von Andreas Baader, protestiert hatte. | |
So kam es, dass Sartre in die heikle Geschichte hineingeriet. Benny Lévy, | |
sein Sekretär, bat mich, für Sartre zu übersetzen. De Gaulle hatte gesagt, | |
einen Sartre könne man nicht verhaften, genauso konnte ich meinerseits | |
diese Ehre nicht ablehnen. Glücklicherweise (oder auch unglücklicherweise, | |
was weiß man schon) durfte ich den Meisterdenker nicht in Baaders Zelle | |
begleiten. Doch als er wieder draußen war und wir allein mit dem Auto in | |
die Stadt zurückfuhren, sagte er in seiner typischen trockenen Art: „Ein | |
Arschloch, dieser Baader!“ Ich versuche noch heute, mir vorzustellen, was | |
Sartre wohl für ein Gesicht gemacht hat, als dieser „Meisterdenker“ des | |
bewaffneten Kampfes ihm in einem kleinen philosophischen Grundkurs nahe | |
bringen wollte, dass Attentate, Morde und Geiselnahmen im Kampf um die | |
Befreiung von Kapitalismus und Imperialismus gerechtfertigt seien und dass | |
man an der Seite der Sowjetunion kämpfen und sich mit den östlichen | |
Geheimdiensten verbinden müsse. | |
Das Problem war, dass Baader sich in der Zeit vertan hatte; der Sartre, dem | |
er begegnete, war nicht mehr der von „Kommunismus und Frieden“. Ihn bewegte | |
zu jener Zeit mehr die Solidarität mit der Revolte der Dissidenten. Aber | |
Sartre blieb solidarisch und kritisierte in der anschließenden | |
Pressekonferenz scharf die Isolationshaft, in der Baader und seine | |
Gefährten gehalten wurden. Erschöpft stieg er am Ende ins Flugzeug und | |
schwor, sich nie wieder auf etwas Derartiges einzulassen. | |
Das war das letzte Mal, dass ich ihn traf. Noch heute reagiere ich auf die | |
Widersprüche seines Denkens und Handelns wie damals: mit Achtung, Verehrung | |
und ikonoklastischer Revolte gleichermaßen. Dass es letztlich heute keine | |
solchen großen, autokratischen Intellektuellen mehr gibt, bedaure ich | |
nicht, denn es ist ein Zeichen dafür, dass auch das Denken sich | |
demokratisiert hat. | |
deutsch von Marie Luise Knott | |
11 Mar 2005 | |
## AUTOREN | |
DANIEL COHN-BENDIT | |
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