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# taz.de -- Eine unendliche Schleife am Himmel
> SPUREN Ein poststrukturalistisch inspiriertes und dann auch noch
> urkomisches Romanexperiment: „8 1/2 Millionen“ von Tom McCarthy
Etwas ist vom Himmel gefallen: „Technologie, Teile, Bruchstücke. Und das
ist auch schon alles: alles, was ich preisgeben kann.“ Denn der Icherzähler
hat eine Klausel zu beachten. Er darf über das Ereignis, an das er sich
nicht erinnert, in „keinem dokumentierbaren Format“ sprechen, was gewissen
„Körperschaften“ im Gegenzug eine Vergleichssumme von über 8 Millionen
Pfund wert ist. Dass all das im dokumentierten Format der Buchseite
daherkommt und das erkaufte Schweigen über ein nichtvorhandenes Wissen ein
mindestens paradox zu nennender Vertragsinhalt ist, katapultiert einen
mitten in Tom McCarthys intelligentes Roman-Experiment „8 1/2 Millionen“.
Nach dem Unfall muss der Erzähler alles neu erlernen. Er fühlt sich
künstlich und begehrt, was er glaubt verloren zu haben: Authentizität. Die
findet er ausgerechnet im Film: in der Perfektion, in der Robert De Niro im
Anzünden einer Zigarette mit seiner Handlung verschmilzt, bis sie „eins
geworden waren und es nichts mehr dazwischen gab“.
Dieses Dazwischen ist die „Nullstelle“, in die hinein er sich setzen möchte
wie die Nadel in die Rille einer Schallplatte. Bezeichnenderweise wird
gerade ein Riss – Inbegriff dieses sich selbst nie präsenten Zwischen – zum
Auslöser für ein Déjà-vu, das in eine aberwitzige Versuchsanordnung mündet.
Ein Riss im Badezimmer erinnert ihn an ein Haus, in dem er einmal gewohnt
hat, mit Katzen auf dem Dach und dem Geruch von gebratener Leber im Flur.
Plötzlich weiß er, was er mit seinem Geld machen wird: „Ich wollte diesen
Ort rekonstruieren und ihn betreten, damit ich wieder das Gefühl haben
konnte, echt zu sein, wirklich.“
Heraus kommt ein logistisches Großprojekt mit einem rhizomartig wuchernden
Mitarbeiterstab, inklusive eines Ensembles von „Nachspielern“, die Tag und
Nacht die Rollen der Nachbarn übernehmen. Neben aller poststrukturalistisch
inspirierten Gedankenakrobatik ist das Szenario, das der 1969 geborene
Londoner McCarthy in seinem Debütroman entwirft, auch einfach urkomisch.
Immer öfter, sogar in Zeitlupe, werden die Nachspiele wiederholt. Die Berge
von Leber, die täglich in vier Pfannen gleichzeitig gebraten werden, damit
der Geruch im Protagonisten das kribbelnde Gefühl von Schwerelosigkeit
auslöst, erfordern eine Kolonne von Fensterputzern, die zeitgleich das
entstehende Fett aus den Rohren schaben. Außerdem muss für einen ständigen
Nachschub an Katzen gesorgt werden.
McCarthy, der in seinem jüngsten Buch „Tim und Struppi“ mit Roland Barthes
liest und mit „Men in Space“ inzwischen einen zweiten Roman veröffentlicht
hat – beide sind bislang nicht auf Deutsch erhältlich –, bewegt sich auf
der Schnittstelle von Literatur und Kunst. Als „Generalsekretär“ des
bürokratisch operierenden Avantgardekünstlernetzwerks International
Necronautical Society verlas er im Juni auf der Biennale in Athen eine
„Inauthentizitätserklärung“, die den pseudodoktrinären Überbau zum Roman
liefert. Kunst sei „eine Serie von Wiederholungen“, deren Zusammenfallen
mit der Realität immer schon unterminiert werde von dem, was übrig bleibt:
Rest, Materie. „Alles muss irgendeine Spur hinterlassen.“ Das ist auch
einer der Kernsätze des Romans, was diesen jedoch mitnichten zum schalen
Theorieaufguss macht, sondern, umgekehrt, McCarthys „reale“ Performances
zum ironischen Reenactment seiner Fiktion.
Das letzte Nachspiel vor dem finalen Showdown ist in dem Roman ein in
filmischer Zeitlupenästhetik erzähltes Baudrillard-Zitat, in dem sich die
Simulation selbst ein Bein stellt. Die Kluft zwischen der treuherzigen
Seligkeit des Protagonisten und der Ungeheuerlichkeit des Geschehens ist
mittlerweile so groß, dass sich die Spannung nicht anders lösen kann als in
einer Schleife. Am Schluss des Romans steht das Bild einer 8 am Himmel, in
der ein Flugzeug kreist, wohlig aufgehoben in unendlicher Zirkulation. Bis
der Treibstoff ausgeht. LAVINIA MEIER-EWERT
■ Tom McCarthy: „8 1/2 Millionen“. Aus dem Englischen von Astrid Sommer.
Diaphanes, Berlin 2009, 304 Seiten, 19,90 €
11 Jul 2009
## AUTOREN
LAVINIA MEIER-EWERT
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