# taz.de -- Er rief die Kellergeister | |
> MAMMUTWERK „Der Tunnel“ hat den US-Schriftsteller William H. Gass fast 30 | |
> Jahre Zeit gekostet | |
VON JULIAN WEBER | |
Der Roman beginnt mit der Abbildung zweier Wimpel. Ihre Farbfelder stehen | |
für Haltungen und Emotionen, etwa „Rachsucht“, „Bigotterie“ oder | |
„Gehässigkeit“. Zum Flattern bringt der US-Schriftsteller William H. Gass | |
diese in seinem Mammutwerk „Der Tunnel“ in allen nur erdenklichen | |
Variationen. Über mehr als 1.000 Seiten fächert Gass die Geschichte(n) des | |
Universitätsprofessors William Kohler auf. Genauer gesagt, Kohlers | |
Auseinandersetzungen mit den Problemen von Geschichte und persönlicher | |
Erinnerung. Kohler – ein Historiker – müsste nur noch das Vorwort zu seinem | |
Opus Magnum „Schuld und Unschuld in Hitlers Deutschland“ fertig stellen. | |
Stattdessen verzieht er sich in den Keller seines Hauses und fängt an, | |
einen Tunnel zu graben. Die Exkursion in eine Vergangenheit, in der | |
unbewältigte Familiengeheimnisse ebenso zu Tage treten wie scheinbar | |
unwichtigste alltägliche Nebensächlichkeiten. Und eine schier erdrückende | |
Einsamkeit. „Also muss ich nun die Konturen meiner Gefühle ausmalen, damit | |
sie mir Gesellschaft leisten“, heißt es an einer Stelle. Kohler untergräbt | |
seine eigene bürgerliche Existenz. Statt sein Buch abzuschließen, forscht | |
er nach „Faschismus des Herzens“ in seinem privaten und beruflichen Umfeld. | |
Die Kellergeister, die er ruft, wird er nicht mehr los. | |
Kohlers Writer’s Block hat Gass’ schriftstellerische Fantasie über lange | |
Zeit beflügelt. An „Der Tunnel“, das im Original bereits 1995 erschien, hat | |
er an die 30 Jahre gearbeitet. Entstanden ist ein monolithischer Textblock, | |
ohne sichtbare Kapiteleinteilung, sprunghaft, aber in seinem Ausufern | |
schlicht fantastisch. Gass beißt sich an Gestalten und Erlebnissen fest, | |
aber es geht hier nicht um Plotpoints, sondern um Sprachgewalt, mit der der | |
Autor überhaupt der Welt begegnet. Gass gilt als philosophischer | |
Schriftsteller. Und „Der Tunnel“ changiert auf der Mitte zwischen | |
Philosophieren und Erzählen. Beides ist für Gass Entwerfen. Primär Umgang | |
mit sprachlichen, nicht mit Realitätselementen. Dennoch ist „Der Tunnel“ | |
ein durch und durch amerikanischer Roman, geschrieben mit der gleichen | |
Hingabe, mit der auch ein Surfer seine Berufung zum Wellenreiten begründen | |
würde. | |
Verglichen mit Zeitgenossen wie Philip Roth oder Thomas Pynchon ist Gass’ | |
Output freilich schmal und fragmentiert geblieben. Neben „Der Tunnel“ | |
existieren zwei kürzere Romane, zwei Bände mit Kurzgeschichten, einer mit | |
Novellen und einige Essays. „Der Tunnel“ zeitigt Brüche, unterschiedliche | |
Schrifttypen kennzeichnen diese. Briefe in Sütterlinschrift. Kleine | |
Comic-Panels und das Wappen der „Partei der Enttäuschten“, eine Art | |
Wappentier für Kohler. Diese Unterbrechungen wirken wie Tempowechsel, die | |
die Lektüre erschweren, aber trotzdem bereichern. | |
Der 1924 geborene Autor unterrichtete über Jahrzehnte Philosophie in St. | |
Louis, weitab von den intellektuellen Zentren und Verlagsquartieren an Ost- | |
und Westküste. Gass wird zwar der Postmoderne zugerechnet, gerecht wird man | |
ihm aber eher als Verbindungsglied zwischen Moderne und Postmoderne, der | |
erzählerischen Wucht eines Faulkner näher als etwa der des zehn Jahre | |
jüngeren Pynchon. | |
Die Sprache von „Der Tunnel“ ist abweisend, aber zugleich empathisch. Sie | |
zeugt von der Anstrengung, die das Nachdenken über Geschichte erfordert. | |
Gass schildert den akademischen Alltag in der Provinz und die Denkweisen | |
seiner endlos reflektierenden akademischen Figuren. Hämische Seitenhiebe, | |
ständige Beleidigungen und Herabwürdigungen kennzeichnen die Welt des | |
William Kohler. Seitenweise ergeht er sich über seine Professoren-Kollegen. | |
Den faktenhuberischen Geschichtsprofessor Planmantee oder Governali, an | |
dessen italienischer Herkunft Kohler etwas auszusetzen hat. Den | |
Sprücheklopfer Culp, der alles, was er macht, mit der Imitation eines | |
Geräuschs einleitet. Dazu deckt Culp seine Umwelt mit Limericks ein, die | |
stets mit dem Satz, „Ich ging mal ins Bett mit ’ner Nonne“ beginnen. | |
Nervtötende Zoten, die den Erzählfluss auf unangenehme Weise ins Stottern | |
bringen. | |
„Der Tunnel“ ist eine Antithese zur Lebensweisheit alter Menschen. Kohler | |
und seine Kollegen erscheinen als dauergeile alte Böcke mit unerträglichen | |
Marotten. Güte oder Altersmilde sind ihnen fremd. Sie sind verhaftet in | |
stumpfem Ordnungssinn und peinvollen Ritualen. Getrennte Fächer in Kohlers | |
Kühlschrank symbolisieren, dass er sich mit seiner Frau in Jahrzehnten der | |
Ehe auseinandergelebt hat. | |
Mit seinem „Faschismus des Herzens“ relativiert Kohler die Massenverbrechen | |
im nationalsozialistischen Deutschland nicht. Er entdeckt sehr unangenehme | |
Seiten an sich und seinem Umfeld, die zu schildern Gass monströs gelungen | |
sind. | |
■ William H. Gass: „Der Tunnel“. Aus dem amerikanischen Englisch von | |
Nikolaus Stingl. Rowohlt, Reinbek 2011, 1.093 Seiten, 36,95 Euro | |
21 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
JULIAN WEBER | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |