# taz.de -- Die lange Schuldknechtschaft | |
> GELD Occupy-Vordenker David Graeber analysiert Schulden als Instrument | |
> der Unterdrückung | |
VON ULRIKE HERRMANN | |
Jeder Christ betet diesen Satz, der zum Vaterunser gehört: „Vergib uns | |
unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Offenbar zielen | |
Schuld und Schulden ins Zentrum der Moral, der Religion und der | |
Gesellschaft. | |
Das ist erstaunlich. Denn eigentlich ist der Begriff der „Schuld“ ja mit | |
Geld und Kredit assoziiert. Wie kann „Schuld“ gleichzeitig einen derart | |
normativen Charakter annehmen? | |
Eine Antwort versucht der amerikanische Anthropologe David Graeber, der zu | |
einem umstrittenen Star seines Faches aufgestiegen ist. Er selbst | |
bezeichnet sich als Anarchisten und gehört zu den Vordenkern der | |
Occupy-Bewegung. Sein neuestes Werk avancierte zu einem internationalen | |
Bestseller und wird im Mai auch auf Deutsch erscheinen. | |
Es ist ein Buch über „die ersten 5.000 Jahre“ der Schuld, beginnt also in | |
Mesopotamien. Was dort auffällt: Die Babylonier benutzten noch keine Münzen | |
und kein Bargeld, aber sie kannten schon Schulden und berechneten | |
Zinseszins. Denn virtuelles Geld ist keine moderne Erfindung. Auch in | |
Mesopotamien führte man schon Konten. | |
Geld entsteht, sobald ein Kredit vergeben wird. Und damit ist das Geld so | |
alt wie die Zivilisation selbst. Die ersten schriftlichen Zeugnisse aus | |
Mesopotamien behandeln nicht etwa Literatur; stattdessen wurden die kleinen | |
Täfelchen gebrannt, um Zahlungsverpflichtungen zu dokumentieren. | |
## Markt und Diebstahl | |
Die eigentliche Frage ist daher nicht, wie das Geld in die Welt kam. | |
Sondern: Warum gibt es Schulden und wem nützen sie? Graebers radikale These | |
ist, dass Schulden stets mit Gewalt einhergehen – ja, Gewalt sind. Sie sind | |
eine Waffe, ein Instrument der Macht, der Unterdrückung. | |
Für Graeber ist die Schuld die Urform aller menschlichen Beziehungen, die | |
Folie, die alle anderen Begriffe erst verständlich macht. Das älteste Wort | |
für „Freiheit“, zum Beispiel, lautet auf Sumerisch „amargi“ und heißt | |
„Rückkehr zur Mutter“. Damit war gemeint, dass Kinder die | |
Schuldknechtschaft verlassen und zu ihrer Familie heimkehren durften. | |
Im 6. Jahrhundert vor Christus kam es dann zu einer Neuerung im | |
Schuldregime. Rund um die Ägäis wurden erstmals Münzen geprägt. Auch dies, | |
so Graeber, war ein Ausdruck von Gewalt: Die Griechen hatten eine neue | |
Kriegstaktik entwickelt. Es zogen nicht mehr adelige Kämpfer in die | |
Schlacht, sondern Phalanxen aus Hopliten – und diese Söldner wollten | |
bezahlt werden. Sie verlangten eine Währung, die möglichst universell | |
gelten sollte. Edelmetalle eigneten sich dafür bestens. | |
Bargeld sei also eine Folge des Krieges, nicht des Handels. Das Gleiche | |
gelte für den Markt. Er sei nicht entstanden, um den Tausch von Waren zu | |
erleichtern – sondern um Armeen zu finanzieren. Denn nach jeder Erorberung | |
wurden die Besiegten ausgeplündert und genötigt, Steuern aufzubringen. Dies | |
wiederum zwang sie, Waren zu produzieren, die sich für Geld verkaufen | |
ließen. Der Markt war geboren. Anders als es die klassische Theorie seit | |
Adam Smith behauptet, seien Staat und Markt also keine Gegensätze. | |
Stattdessen bedingten sie einander und seien gemeinsam entstanden. Ohne | |
Krieg würde es den Markt nicht geben. | |
Eine angeblich freie Marktwirtschaft hat also nie existiert, sondern die | |
Märkte seien „historisch durch Diebstahl entstanden“. Nur die Form der | |
Unterdrückung habe sich verändert: Zwar ist die Sklaverei abgeschafft, | |
stattdessen versklavten sich die Lohnabhängigen nun selbst. Sie müssen ihre | |
Arbeitszeit verkaufen – und machten damit den eigenen Körper zur Ware. „Der | |
heimliche Skandal des Kapitalismus ist, dass er zu keiner Zeit auf freier | |
Lohnarbeit gegründet war.“ | |
## Irrwege der Anthropologie | |
Wenn Schulden stets Gewalt sind, dann ist es nur logisch, wie Graeber es | |
tut, den Kapitalismus als höchste und subtilste Form der Unterdrückung zu | |
beschreiben. Denn der Kapitalismus wird durch Schulden angetrieben: Mit | |
Krediten werden Investitionen finanziert, die einen Gewinn abwerfen sollen. | |
Aus Geld wird mehr Geld. Diese Idee war Sumerern oder Römern noch fremd. | |
In seinem Buch will Graeber „die großen Fragen“ stellen, und seine | |
Antworten sind auch anregend. Trotzdem bleibt ein Unbehagen zurück, das | |
schon beim methodischen Ansatz beginnt: Graeber springt durch die | |
historischen Zeiten und geografischen Räume. Er eilt von den Römern zu den | |
Chinesen, zu den Indern, zu den Moslems, zu afrikanischen Völkern und | |
wieder zurück zu den Sumerern. | |
Denn er teilt die inhärente Annahme der Anthropologie, dass fast alle | |
Kulturäußerungen miteinander vergleichbar seien, weil es ja stets Menschen | |
sind, die handeln. Gegen diesen Strukturalismus ist nichts einzuwenden, | |
aber bei Graeber folgt daraus ein chaotisches Nebeneinander von | |
Einzelaspekten, die sich oft redundant wiederholen. | |
Noch gravierender ist allerdings, dass Graeber nicht argumentiert, sondern | |
permanent behauptet. Abweichende Deutungen oder Fakten werden übergangen; | |
es wird nur zitiert, was passt. Graebers Buch wirkt wie eine Schatzkiste, | |
in die er ungeordnet die Fundstücke hineingehäuft hat, die er als wertvoll | |
erachtet. | |
Deutschland kommt dabei kaum vor und ist mit nur einer einzigen Geschichte | |
vertreten. Aber sie macht Graebers methodisches Problem sehr deutlich. Auf | |
drei Seiten resümiert er die Missetaten von Markgraf Kasimir von | |
Brandenburg-Ansbach, der von 1481 bis 1527 lebte. Wie viele Adelige war | |
auch er in den Bauernkrieg verwickelt, wütete aber mit unbekannter | |
Brutalität, indem er den Gefangenen die Augen ausstechen und die Finger | |
abschneiden ließ. | |
Schon seine Zeitgenossen hielten Kasimir für bestialisch und brutal. Sein | |
eigener Bruder Georg ermahnte ihn brieflich, dass er als Fürst nur ein | |
Auskommen hätte, wenn nicht alle seine Untertanen tot wären. Offenbar war | |
Kasimir also eine Ausnahme. Doch unbeirrt stilisiert ihn Graeber zu einem | |
Regelfall, der die „Ära der großen kapitalistischen Imperien“ illustrieren | |
soll. | |
Doch obwohl Graebers Analysen manchmal etwas seltsam ausfallen: Es ist ein | |
Gewinn, dass er sich traut, „große Fragen“ zu stellen. Sie waren allzu | |
lange verpönt. | |
■ David Graeber: „Debt. The First 5.000 Years“. Melville Publishing House, | |
New York 2011, 544 Seiten, 17,13 Euro | |
„Debt“ erscheint im Mai 2012 in deutscher Übersetzung als „Schulden. Die | |
ersten 5.000 Jahre“. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2012, 600 Seiten, 26,95 | |
Euro | |
3 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
ULRIKE HERRMANN | |
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