# taz.de -- Neues Album von Kae Tempest: Die Geschichte eines gestrichenen Buch… | |
> Der Brite Kae Tempest dokumentiert mit „Self Titled“ eine mutige | |
> musikalische und biografische Transformation. Weniger Spoken Word, mehr | |
> Gesamtkunstwerk. | |
Bild: Kae Tempest: Die musikalische Sozialisation erlebte der heute 39-Jährige… | |
Ein Barbershop als Tor zur Erkenntnis: Im Musikvideo zum | |
pulsierend-treibenden Dancefloor-Smasher „Know Yourself“, Single-Vorbotin | |
des neuen Albums „Self Titled“, lassen sich Kae Tempest und seine Buddies | |
militärisch anmutende Undercuts verpassen, manche rasieren gleich den | |
ganzen Kopf.Doch zum Songfinale verwandelt sich dieser Friseursalon in | |
einen entgrenzten Mini-Rave, der Raum für alle Varianten von Queerness | |
bietet. | |
Zwischendurch spricht Tempest – aus einer Zeit heraus, bevor er das T aus | |
seinem Vornamen gestrichen hatte – mit wallendem Haar aus einem Fernseher | |
in dem Raum: „If you saw the younger you, what would you say to them? I | |
would say – thanks. I would say – peace. I’d tell them – soon child, you | |
are going to find release.“ Es steckt eine Menge drin im erstaunlich bunten | |
Pop-Reigen, den Tempest mit dem neuen Album aufspannt. | |
## Immersive Texte | |
„I am telling myself what I need to hear“ (Ich erzähle mir selbst, was ich | |
hören muss), so beschreibt der Spoken-Word-Künstler im BBC-Porträt „Being | |
Kae Tempest“ (2023), was ihn antreibt. Auf dem neuen Album geschieht das in | |
Form von immersiven Texten, die in Gefühlswelten abtauchen – eingebettet in | |
zugängliche, oft euphorische Tracks. | |
Als besagte BBC-Doku erschien, war gerade das Vorgängeralbum „The Line Is a | |
Curve“ (2022) veröffentlicht worden: ein Album, welches das Elliptische, | |
das Umherkreisen schon im Titel trug. Und auch musikalisch ein Plädoyer | |
fürs Loslassen war – sich dem ergeben, was das Leben anspült. | |
Anders als auf früheren Werken, mit denen Tempest vor allem die | |
Verwerfungen ausleuchtete, die der Spätkapitalismus in den Alltag ihrer | |
meist urbanen Protagonist:innen trug, schlaglichtartig, aber mit viel | |
Empathie, richtet die Musik einen Blick diesmal nach innen. Kein Wunder, | |
liegen doch bewegte Jahre hinter Kae Tempest: eine Trans-Formation im | |
engsten Wortsinn. | |
## Einen Namen machen bei Poetry-Slams | |
Die musikalische Sozialisation erlebte der heute 39-Jährige mit HipHop; | |
Ende der nuller Jahre macht sich Tempest auf Poetry-Slams einen Namen. Der | |
Erfolg setzte 2014 mit dem Mercury-Prize-nominierten Album „Everybody Down“ | |
ein. Für das Langgedicht „Brand New Ancients“ („Brandneue Klassiker“) … | |
Tempest da schon mit den Ted-Hughes-Award ausgezeichnet worden, dem | |
renommierten Lyrikpreis der britischen Poetry-Society. | |
Leidenschaft für Sprache gießt Tempest bis heute nicht nur in | |
Spoken-Word-Performances, sondern auch in Lyrik, [1][Theaterstücke] und | |
Essays. Einen ziemlich guten Roman hat Tempest mit „Worauf du dich | |
verlassen kannst“ (2016“) außerdem publiziert. | |
An Anerkennung und Aufmerksamkeit mangelte es also nicht, trotzdem ging es | |
Tempest zunehmend schlecht: Die Tour zu [2][„The Book of Traps and | |
Lessons“ (2019)] war begleitet von Panikattacken. Ein queeres Outing | |
verschaffte Erleichterung – und war trotzdem nur ein Anfang. 2020 | |
positionierte Tempest sich als nonbinär, zunächst mit dem im Deutschen | |
ungelenk wirkenden Personalpronomen „they/them“. Dieses Jahr folgte das | |
Outing als trans Mann. | |
## Enorm produktiv | |
Diese Entwicklung wird – außer in der BBC-Doku – auch in den Songs der | |
beiden Alben geschildert: Etwa im vergnügt-flummiartigen „Diagnoses“, ein | |
Lied, das von Tempests Geschlechtsdysphorie, Suchtproblemen und ADHS | |
handelt – Letzteres zweifellos ein [3][Aspekt von enormer Produktivität]. | |
In diesem Gehirn schlagen Worte tatsächlich Funken. | |
Auf der Liste der Diagnosen stehen zudem verschiedene Themen, die Tempests | |
Freundin mit in die Beziehung gebracht hat: „Overwhelmed and over-diagnosed | |
and overexposed“ seien die beiden. Aber: „I’d be more worried if we weren… | |
disturbed.“ Wie war das noch mit dem richtigen Leben im falschen? | |
Tempests Textkaskaden fließen dicht wie eh und je, getragen von einer durch | |
Hormontherapie tieferen Stimme und demonstrativerem HipHop-Swagger. Die | |
rauere Energie und ein entspannterer, ausgelassener Gesamteindruck lassen | |
sich aber wohl nicht nur auf physische Veränderungen zurückführen, sondern | |
auch auf den Umstand, dass Tempest die Predigerpose, die etwa den Hit | |
„Europe Is Lost“ (2016) prägte, bei den neuen Songs deutlich zurückgefahr… | |
hat. | |
## Sprödes trockenes Brot | |
Der Song ist zwar durchaus pointierte Zeitdiagnose, die trefflich vieles | |
beschreibt, was seither noch schlimmer geworden ist – und nervt doch | |
bisweilen auch mit spröder Trockenbrothaftigkeit. Welterklärung, wenn auch | |
nur noch sporadisch, findet sich auch auf dem neuen Album, etwa, wenn es | |
heißt: „The norm is not normal / It’s a construction designed / To stifle | |
the inner life and increase production“. Ach so – nun denn. | |
Zu finden sind diese Zeilen im Trap-inspirierten Song „Statue in the | |
Square“. Auch aus dem Refrain, untermalt von HipHop-typischen Sirenen, | |
trieft Pathos: „They never wanted people like me round here / But when I’m | |
dead, they’ll put my statue in the square“. | |
Weitestgehend schafft Tempest jedoch in der Musik einen persönlicheren | |
Zugang, gerade bei gesellschaftspolitischen Themen. Etwa in der durchaus | |
ernsthaften Auseinandersetzung mit der Frage, ob man Kinder in diese Welt | |
setzen soll: „How can I battle the ego that tells me to multiply, multiply, | |
make yourself many / With the wisdom that says – don’t do it“ – zu find… | |
im Nineties-Pop-Track „Bless the Bold Future“. | |
## Wie ein Westernabspann | |
Manchmal blitzt auch einfach ungewohnter Humor durch, etwa beim Auftaktsong | |
„I Stand on the Line“. Die ersten Takte klingen so sehr nach der | |
Abspannmelodie eines Westerns, in dem der Held in den Sonnenuntergang | |
reitet, dass das nur selbstironisch gemeint sein kann. Die Trans-Formation | |
als Heldengeschichte – zumindest auf musikalischer Ebene klingt das so. | |
Statt ambienthaften HipHop-Beats und einer eher düsteres Grundierung für | |
Tempests Spoken-Word-Kaskaden gibt es diesmal Popsongs mit prägnanten, | |
bisweilen latent kitschigen Hooklines. Auch ein schwelgerisches Liebeslied | |
– „Sunshine on Catford“ – hat es aufs Album geschafft, mit einem | |
Gastauftritt von Pet-Shop-Boys-Sänger Neil Tennant. | |
Erstmals hat Tempest mit dem Hit-Produzenten Fraser T. Smith gearbeitet, | |
unter anderem bekannt für seine Zusammenarbeit mit Stars wie Adele und | |
Stormzy. Als die beiden sich über die musikalische Richtung des Albums | |
austauschten – so erzählte Tempest es unlängst dem britischen Musikmagazin | |
NME –, ging es um die Frage, welche Geschichte nur Tempest und niemand | |
sonst erzählen könne. | |
Und das sei nun mal die Geschichte der Trans-Formation. Dass diese Songs | |
aber mehr sind als eine Nabelschau, liegt daran, weil Tempest auch hier | |
elliptisch arbeitet: etwa wenn es um den Austausch mit einem jüngeren | |
Selbst geht. Kein identitätspolitisches Einmauern, satt dessen | |
Befreiungsschläge in viele Richtungen. „Self Titled“ klingt, als habe | |
Tempest sich künstlerisch freigespielt. | |
Währenddessen wachsen die gesellschaftlichen Aufgaben. Erst im vergangenen | |
April beschnitt das Oberste Gericht in Großbritannien die Rechte von trans | |
Menschen durch ein wegweisendes Urteil, welches das Konzept von Geschlecht | |
als binär definierte. „With all the problems that we have to contend with – | |
Why are trans bodies always on the agenda?“, fragt Tempest. Was, nicht | |
zuletzt in einem breiteren Kontext der Kulturkämpfe, die aktuell | |
ausgefochten werden, eine wirklich berechtigte Frage ist. | |
4 Jul 2025 | |
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## AUTOREN | |
Stephanie Grimm | |
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