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# taz.de -- Hochzeitstatt SchuleundBeruf
> Union und SPD zerstören die Hoffnungen vieler afghanischer Frauen und
> Mädchen auf ein selbstbestimmtes Leben. Weil ihnen Deutschland die
> Einreise versagt
Bild: Illustration: Katja Gendikova
Von Martin Sökefeld
Am Tag, als CDU und SPD ihre Einigung auf einen Koalitionsvertrag
verkündeten, besuchte ich eine afghanische Familie, die einen Monat zuvor
über das Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan (BAP) nach Deutschland
gekommen ist. Das BAP hat das Ziel, unter der Herrschaft der Taliban
besonders gefährdeten Personen – Menschenrechtsaktivist*innen,
Frauenrechtler*innen, Journalist*innen und anderen – in Deutschland
ein Leben in Freiheit und ohne Angst zu ermöglichen. Bedrohte
Afghan*innen, die sich noch im Land befanden, konnten sich bei deutschen
Organisationen melden und nach einer langwierigen Prüfung, in die
verschiedene Behörden involviert waren, in die pakistanische Hauptstadt
ausreisen, um Visa für Deutschland zu beantragen. Seit der Machtübernahme
der Taliban ist die deutsche Botschaft in Kabul geschlossen. Konsularische
Dienste gab es dort schon seit dem verheerenden Bombenanschlag auf die
Botschaft Ende Mai 2017 nicht mehr.
Ich habe die Familie 2024 bei einem Forschungsaufenthalt in Islamabad
kennengelernt und sie dort regelmäßig besucht. Ali, der Vater, war
Politikwissenschaftler an der Universität Kabul. Er hatte die Taliban vor
ihrer Machtübernahme regelmäßig scharf kritisiert und wurde von ihnen
damals schon bedroht. Nun lebt er mit seiner Frau Maryam (alle Namen sind
aus Sicherheitsgründen geändert) und ihren vier Töchtern in einer
Kleinstadt in Baden-Württemberg. Sie sind glücklich, in Deutschland eine
sichere Zukunft gefunden zu haben. Ein Jahr lang mussten sie in Islamabad
auf die Visa für Deutschland und die Weiterreise warten, in ständiger
Angst, dass ihre Aufnahme widerrufen werden könnte und sie nach Afghanistan
abgeschoben werden. Genau das droht nun möglicherweise den Afghan*innen,
die in Islamabad auf den Flug nach Deutschland warten. Denn im
Koalitionsvertrag von CDU und SPD heißt es: „Wir werden freiwillige
Bundesaufnahmeprogramme soweit wie möglich beenden (zum Beispiel
Afghanistan) und keine neuen Programme auflegen.“
Aziza, die jüngste Tochter, geht seit einigen Tagen zur Schule. In
Afghanistan wäre ihre Bildungskarriere beendet, bevor sie richtig begonnen
hat. Ali sagt: „Aziza ist dreizehn. Die Taliban finden, dass Mädchen mit
dreizehn Jahren verheiratet werden müssen, anstatt zur Schule zu gehen.“
Mädchen dürfen in Afghanistan nur bis zur 6. Klasse die Schule besuchen.
Parvin, die älteste Tochter, hatte in Kabul bereits drei Jahre Pädagogik
studiert, bis die Taliban an die Macht kamen. Sie musste ihr Studium ohne
Abschluss beenden und möchte jetzt schnell Deutsch lernen und dann wieder
studieren. Banu, die zweitjüngste, geht noch nicht zur Schule, aber sie
hofft, es werde bald ein Schulplatz für sie gefunden. Hadia, die
zweitälteste, will vielleicht Polizistin werden.
In Kabul wären die Töchter irgendwann verheiratet worden. Sie hätten ihre
Häuser ohne männliche Begleitung nicht verlassen dürfen, nur vollständig
verhüllt unter einer Burka. Frauen dürfen in der Öffentlichkeit nicht
sprechen, man darf ihre Stimmen nicht hören. Eine Berufstätigkeit ist für
Frauen weitestgehend ausgeschlossen. Ali sagt, dass er aus Sorge um die
Zukunft seiner Töchter in Islamabad monatelang nicht schlafen konnte: „Es
wäre das Ende gewesen, wenn wir nach Afghanistan abgeschoben worden wären.“
Maryam, die Mutter, ist stolz, dass nun auch ihr Name am Briefkasten der
Familie steht. Eine Banalität in Deutschland, in Afghanistan völlig
undenkbar. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, CSU, erklärt den
Satz im Koalitionsvertrag zum BAP so: Es werde keine Flüge mehr aus
Afghanistan geben, sondern Flüge nach Afghanistan. Was er damit sagen will:
Statt der humanitären Aufnahme gefährdeter Menschen soll Abschiebungen
geben. Auch Pakistan schiebt gerade massiv Afghan*innen ab.
Vor Kurzem setzte Talal Chaudhry, der stellvertretende Innenminister
Pakistans, ein neues Ultimatum: Afghan*innen, die in humanitären Programmen
westlicher Staaten auf die Ausreise warten, müssen bis Ende April 2025
Pakistan verlassen haben, sonst werden sie abgeschoben. Das gilt auch für
diejenigen, die auf die Ausreise per BAP nach Deutschland warten.
Deutschland und Pakistan haben neue Gemeinsamkeiten: Beide Staaten wollen
Afghan*innen abschieben statt aufnehmen. Pakistan hat jahrzehntelang
Afghan*innen großzügig Zuflucht gewährt, die vor der langen Folge von
Konflikten und Unterdrückung in Afghanistan geflohen waren. Das ist nun
vorbei. Heute werden Afghan*innen in Pakistan pauschal für
terroristische Anschläge verantwortlich gemacht und gelten als
Sicherheitsrisiko. Nicht viel anders ist es in Deutschland. In beiden
Ländern werden Afghan*innen zu Sündenböcken erklärt. Dabei sind die
Afghan*innen in Deutschland vor der Art von Gewalt geflohen, die nun
einige wenige Afghanen hier verüben.
Die Gefahren in Afghanistan für Abgeschobene sind real. Edris, ein
Künstler, dessen Atelier in Kabul die Taliban im Sommer 2021 zerstörten und
der daraufhin nach Pakistan floh, sagte, dass ein mit ihm befreundeter
Künstler vor Kurzem nach Afghanistan abgeschoben wurde. Vor einigen Tagen
bekam Edris die Nachricht, dass ein Freund in Afghanistan getötet worden
sei. Ich lernte Edris in Rawalpindi kennen, der Nachbarstadt von Islamabad,
wo er mit seiner Familie wohnte. Anfang Januar verkündeten die
pakistanischen Behörden, dass alle Afghan*innen Islamabad und Rawalpindi
verlassen müssen. Wer bleibe, werde abgeschoben. Wenige Tage nach dieser
Ankündigung wurde Edris mit seinen beiden Söhnen verhaftet und in ein
Abschiebelager gebracht. Mit der Zahlung eines hohen Lösegelds konnten sie
noch einmal freikommen. Sie zogen nach Attock, einer kleineren Stadt
westlich von Islamabad, und dachten, dort sicher zu sein. Aber inzwischen
werden auch in Attock Afghan*innen verhaftet und abgeschoben. Edris
hatte darauf gehofft, von den USA aufgenommen zu werden. Aber diese
Hoffnung zerstörte der US-Präsident Donald Trump, der das Aufnahmeprogramm
der USA für Afghan*innen stoppte. Haben sich die Koalitionäre hier Trump
zum Vorbild genommen?
Die pakistanischen Behörden bringen Afghan*innen zur Abschiebung an die
Grenze des Nachbarlands und schicken sie auf die andere Seite. Das ist von
Deutschland aus nicht möglich. Die Bundesregierung wird irgendeine Form von
Abstimmung mit der Taliban-Regierung benötigen. Die Taliban haben bereits
erklärt, dass sie bereit sind, Abgeschobene aus Deutschland aufzunehmen.
Sie, die bislang international weitgehend isoliert und geächtet sind,
erhoffen sich dadurch Anerkennung. Es ist zu befürchten, dass die nächste
Bundesregierung tatsächlich mit dem menschenverachtenden Regime, das ganz
besonders Frauenrechte mit Füßen tritt, paktieren wird, um Abschiebungen
zu ermöglichen.
Während die alte Regierung noch betonte, nur afghanische Straftäter
abschieben zu wollen, geht der Koalitionsvertrag darüber hinaus. Da heißt
es: „Nach Afghanistan und Syrien werden wir abschieben – beginnend mit
Straftätern und Gefährdern.“ Werden sich Afghan*innen wie in Pakistan
auch in Deutschland nicht mehr sicher fühlen können? Selbst die verbale
Beschränkung der Abschiebungen auf Straftäter bedeutet keineswegs
Sicherheit für alle anderen. Denn auch früher wurde immer wieder behauptet,
dass nur afghanische Straftäter abgeschoben würden, was jedoch keineswegs
stimmte. Die Trump-Regierung bietet auch hier ein potenzielles übles
Vorbild: Der Schutzstatus von Afghan*innen, die in den vergangenen Jahren
in den USA aufgenommen wurden, wird im Juni aufgehoben. Bis dahin müssen
sie die USA „freiwillig“ verlassen, ansonsten droht ihnen die Abschiebung.
Humanitäre Aufnahme stoppen und stattdessen abschieben, so muss man sich
die Afghanistan-Politik der neuen Regierung vorstellen. Der Schutz von
Frauen- und Menschenrechten spielt da keine Rolle. Am 16. April ist noch
einmal ein Charterflug mit Afghan*innen aus Islamabad in Deutschland
gelandet. Die Ankunft eines jeden Flugs wird von einer weitgehend
faktenfreien Empörungskampagne von Springer-Presse und
CDU-Politiker*innen begleitet. Immer wieder ist von Flügen „aus
Afghanistan“ die Rede, obwohl die Flüge aus Pakistan kommen.
Der Vorwurf wird geäußert, auch von Gewerkschaftern der Bundespolizei, es
gebe keine Sicherheitsüberprüfungen der Afghan*innen, obwohl die
Bundespolizei selbst an den Sicherheitsinterviews in der deutschen
Botschaft in Islamabad beteiligt ist. Oder es wird behauptet, NGOs hätten
die Afghan*innen für das BAP ausgewählt, obwohl sie nur eine erste
Anlaufstelle für gefährdete Personen waren, die Auswahl für das Programm
aber durch die beteiligten Ministerien und das Bamf erfolgte.
Zwischenzeitlich war von zwei weiteren Flügen aus Islamabad im April die
Rede, aber die wird es nicht geben. Es ist auch unklar, ob es mit der neuen
Bundesregierung wieder Flüge geben wird. Die CDU will keine weiteren Flüge.
Thorsten Frei, ihr parlamentarischer Geschäftsführer, erklärte, dass
bestehende Aufnahmezusagen zurückgenommen werden sollen. De facto wird das
Programm bereits abgewickelt, schon seit dem vergangenen Sommer gab es
keine weiteren Aufnahmezusagen. Trotzdem hoffen viele Afghan*innen immer
noch auf Aufnahme in Deutschland. Die Beendigung des
Bundesaufnahmeprogramms bedeutet in jedem Fall, dass die Träume vieler
Mädchen und junger Frauen auf Bildung und ein selbstbestimmtes Leben brutal
zunichte gemacht werden.
26 Apr 2025
## AUTOREN
Martin Sökefeld
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