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# taz.de -- Interview mit Henrike von Scheliha: „Alle Menschen unter 30“
> Kinder, Jugendliche und auch ihre Eltern sind eine immer kleiner werdende
> Minderheit der wahlberechtigten und immer älter werdenden Gesellschaft
> und politisch kaum repräsentiert. Was hilft?
Bild: Zukunft durch Partizipation: Kinder haben politisch kaum Gewicht, tragen …
[1][taz FUTURZWEI]: Frau von Scheliha, Sie sind Rechtswissenschaftlerin und
sind dabei, ein Konzept für einen Zukunftsrat zu entwickeln. Wie soll der
funktionieren?
Henrike von Scheliha: Ein Zukunftsrat ist eine von mehreren Ideen,
rechtlich aufzufangen, dass junge Menschen aufgrund des demografischen
Wandels bereits jetzt zu einer Minderheit gehören und ihr Anteil an der
Gesamtbevölkerung immer weiter schrumpfen wird. Unsere Ausgangslage ist
die, dass die Interessen der Älteren stärker vertreten sind als die der
Jungen. Bereits jetzt spielen in der öffentlichen Debatte und in den
staatlichen Entscheidungen die Belange der jungen Generation keine oder nur
eine untergeordnete Rolle. Beispiel: Corona-Pandemie. Es kam zu einer
beinahe uneingeschränkten Priorisierung der Interessen der Älteren
gegenüber denen der Jüngeren. Deren Interessen waren schon bekannt, aber
sie wurden wesentlich weniger stark gewichtet.
Warum ist das so?
Politiker_innen haben die aktuellen Wähler_innen im Blick und bemühen sich
um deren Stimmen. Kurzfristige Wahlerfolge stehen über einer nachhaltigen
Politikstrategie. Und daher kommen weder in der Debatte noch im
Abwägungsprozess die Belange der Noch-nicht-Wähler_innen wirklich vor. Das
ist ein strukturelles Grundproblem der repräsentativen Demokratie, dass die
Gegenwart der Zukunft vorgezogen wird. Damit sind die künftigen
Generationen in Gefahr, aber letztlich auch unser demokratischer
Rechtsstaat. Deshalb brauchen wir meiner Ansicht nach eine Vertretung der
Interessen der jungen und der künftigen Generation, einer
institutionalisierten Beteiligung unmittelbar im demokratischen Prozess.
Politische Repräsentation funktioniert doch nicht über Gruppenidentitäten
…
Stimmt. Es ist nicht so, dass Männer nur Männerinteressen vertreten und
queere Personen nur queere Interessen und so weiter, aber es ist schon so,
dass die Interessen von Gruppen im Diskussions- und Entscheidungsprozess
dann stärker vorkommen, wenn sie auch in Diskussions- und
Entscheidungsgremien mitwirken. Klar, die Interessen von jungen Menschen
sind genauso wenig homogen wie die von alten Menschen, von Frauen oder
People of Colour. Aber es gibt innerhalb der Gruppe dann doch jedenfalls
ein gemeinsames Interesse, etwa das, nicht diskriminiert zu werden. Bei der
jungen Generation ist es das Interesse, in dreißig, vierzig Jahren noch
leben zu können und die Grundlagen dafür – Natur, Infrastruktur, Geld – z…
Verfügung zu haben. Wenn sich alte Menschen für junge Menschen einsetzen,
dann ist das in der Debatte und Entscheidung genauso wenig dasselbe, wie
wenn sich Männer für Frauen einsetzen. Prozedurale
Generationengerechtigkeit, also die Gewährleistung, dass alle Generationen
in gleicher Weise ihre Belange in den Entscheidungsprozess einfließen
lassen können, könnte die Stellschraube für materielle
Generationengerechtigkeit sein.
Wer ist in so einem Zukunftsrat vertreten?
Die Interessen der jungen Generation können am besten durch junge Menschen
selbst vertreten werden, meiner Konzeption nach gehören zu dieser
Generation alle Menschen unter dreißig. Meiner Auffassung nach müssten die
Mitglieder – zumindest mittelbar – demokratisch legitimiert sein.
Was genau heißt „prozedurale“ und was „materielle
Generationengerechtigkeit“?
Mit prozeduraler Gerechtigkeit meine ich, dass die junge, die künftige
Generation als Kollektiv eine Stimme im Diskussions- und Abstimmungsprozess
bekommt. Für mehr materielle Generationengerechtigkeit in der Zukunft.
Materielle Gerechtigkeit betrifft die inhaltlichen Fragen: natürliche
Ressourcen, Geld, Infrastruktur, medizinische Versorgung und so weiter.
Wie ist die rechtliche Begründung für Generationengerechtigkeit?
Im Grundgesetz gibt es kein Individualgrundrecht auf zukunftsbezogene
Gerechtigkeit, aber es findet sich an mehreren Stellen ein Zukunftsbezug.
Zum Beispiel in Artikel 20a wird die Verantwortung des Staates gegenüber
künftigen Generationen genannt. Das ist aber eine Staatszielbestimmung,
kein einklagbares subjektives Recht. Auch im Europa- und Völkerrecht,
gerade im Klima- und Umweltbereich spielt der Gedanke intergenerationeller
Solidarität eine Rolle.
Das klingt sehr vage.
Ja, aber mithilfe der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
konkretisiert es sich zum Glück etwas. Das Bundesverfassungsgericht sieht
inzwischen in einigen Bereichen die Notwendigkeit, die Interessen der
künftigen Generationen zu schützen. Bestes Beispiel ist der Klimabeschluss
von 2021. Da hat das Gericht aus den Freiheitsrechten in ihrer Gesamtheit
eine staatliche Pflicht zu materieller Generationengerechtigkeit
abgeleitet, der Staat hat für eine Sicherung grundrechtlich geschützter
Freiheiten über die Zeit zu sorgen. Zweites Beispiel ist der Beschluss zu
den Schulschließungen. Da leitete das Gericht aus dem allgemeinen
Persönlichkeitsrecht der Kinder das Recht auf Zugang zu staatlichen
Bildungseinrichtungen und den Anspruch auf einen für die Chancengleichheit
unverzichtbaren Mindeststandard von Bildungsangeboten ab. Es hielt fest,
dass die Belange von Kindern als Kollektiv bedeutsam sind, dass an ihrer
Entwicklung ihre individuelle Zukunft, aber auch die Zukunft unserer
demokratischen Gemeinschaft hängt. Drittes Beispiel ist die Entscheidung
von 2023 zum Nachtragshaushalt.
Der wurde für verfassungswidrig erklärt.
Auch der Entscheidung liegt der Gedanke Generationengerechtigkeit zugrunde.
Unabhängig davon, was man vom Inhalt der Entscheidung hält, geht aus ihr
meiner Ansicht nach etwas wichtiges hervor: Sowohl das Ziel, die zu große
finanzielle Belastung künftiger Generationen zu verhindern – Schuldenbremse
ja –, als auch das Ziel, heute Geld für Schulen, Schienennetze, alternative
Energieversorgung für künftige Versorgung auszugeben – Schuldenbremse nein
–, lässt sich mit der Erhaltung von Freiheiten in der Zukunft
rechtfertigen. Die Abwägung und die Beantwortung der Frage, was am Ende
generationengerecht ist, erfolgt durch den Gesetzgeber, nicht durch das
Bundesverfassungsgericht, außer, es werden künftige Freiheiten so sehr
beschränkt, dass man heute von einer eingriffsähnlichen Vorwirkung sprechen
kann. Und das ist für mich auch ein wichtiger Gedanke.
Inwiefern?
Wenn materielle Generationengerechtigkeit durch den Gesetzgeber konturiert
wird, dann liegt der Schlüssel im Gesetzgebungsprozess, und daran ist die
junge und künftige Generation nicht beteiligt. Es braucht also prozedurale
Generationengerechtigkeit zur Herstellung von materieller
Generationengerechtigkeit, das ist meine These.
Welche Rechte hätte der Zukunftsrat und welche Pflichten ergeben sich
daraus für die Gesetzgebung?
Effektiv wirken kann der Zukunftsrat nur, wenn er in das
Gesetzgebungsverfahren einbezogen wird, und zwar in Gestalt einer
obligatorischen Anhörung beziehungsweise einer Stellungnahme. Bei nicht
eindeutigen Fragen wie etwa bei der Staatsverschuldung würde er zum
Beispiel einen Definitionsvorschlag machen, was aus Sicht der künftigen
Generation generationengerecht erscheint. Er hätte aber Initiativ- oder
Vetorecht, Stichwort: Demokratieprinzip. Der Gesetzgeber müsste die
Empfehlungen des Zukunftsrates also nicht befolgen, aber hätte die Pflicht,
zu begründen, wenn er hiervon abweicht.
Bringt das denn dann wirklich was?
Ich denke schon. Mit der Befassungs- und Begründungspflicht würden die
Entscheidungsträger_innen institutionalisiert zur Auseinandersetzung mit
den Folgen für die Zukunft gezwungen. Das erscheint mir ein ganz wichtiger
Fortschritt.
🐾 Dieser Artikel erscheint in unserem Magazin [2][taz FUTURZWEI]. Lesen Sie
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Kinder“ gibt es jetzt im [3][taz Shop].
31 Mar 2025
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## AUTOREN
Peter Unfried
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