| # taz.de -- Uli HannemannLiebling der Massen: Immer nach links | |
| Am Abend will ich zur Pizzeria gegenüber. Vorsichtig trete ich zwischen den | |
| Autos hervor und betrete den auf der Fahrbahn markierten breiten Radweg, | |
| ach was, ich trete eben nicht hervor, sondern rubbernecke erst in den | |
| kalten Regen, fahre periskopartige Stielaugen aus, mache auch ganz lange | |
| spitze Löffel, lausche, spähe, sichere, sichte, nehme Witterung auf. | |
| Nach links, immer nach links, in die Richtung, aus der die Radler um die | |
| Kurve und durch die Dunkelheit gerast kommen: eilige Feierabendmenschen, | |
| viele ohne Licht; Wolt-Fahrradkuriere mit irgendwie gehackten, getunten | |
| oder anderweitig manipulierten Brute E-Bikes, die lautlose siebzig Sachen | |
| machen, während der Fahrer, den blauen Wärmewürfel mit 123 e (gelbes Curry | |
| mit Tofu) auf dem Gepäckträger, laut nach Indien telefoniert. | |
| Spanierinnen auf Hollandrädern, stets unbeleuchtet – einzige zuverlässige | |
| Warnung ist dem potentiellen Opfer das notorisch klappernde Schutzblech –, | |
| und das bei dem Wetter, wo man eh kaum was sieht. Ich bin ein scheues Reh, | |
| das an den Waldrand tritt. Ich will leben. | |
| Dermaßen behutsam linse, spechte, luge, starre ich, dass mir die Augen | |
| tränen. Nach links, immer nach links. Die Stelle ist echt gefährlich. Und | |
| als ich mir endlich sicher bin, dass ich niemanden übersehen habe, auch | |
| keine ohne Licht, betrete ich schließlich den Radweg. | |
| In dem Moment brüllt mir etwas aus circa fünf Millimetern Entfernung ins | |
| Ohr, ein riesiger Schatten wirft sich so „Lord-of-the-Rings“-monstermäßig | |
| dräuend über mich, streift mich hart im Gesicht und bleibt dann erst | |
| dreißig Meter weiter stehen, ein Bremsweg wie ein ICE, so schnell muss der | |
| Typ unterwegs gewesen sein. Er kam von rechts. | |
| Ich bin nicht umgefallen, wozu, im Alltag gibt es keine Elfmeter. Aber | |
| meine Lippe blutet wie verrückt. Der Späti-Mann, der vor seinem Laden | |
| steht, eilt herbei, „Zähne in Ordnung?“, und gibt mir ein Taschentuch. Und | |
| dann gleich noch eins und noch eins. Reicht immer noch nicht. | |
| Der Slacker kommt angedackelt – von links, immer von links –, wenigstens | |
| keine Fahrerflucht, und fragt mit so einer verpeilten, schleppenden | |
| Schnarchstimme, aus der hundert Jahre schwerer THC-Missbrauch nölen wie aus | |
| einem klemmenden Leierkasten, äh, was ist denn hier los oder so, Mensch, ja | |
| blöd, hab ich dich angefahren, irgendwie, das blutet ja, echt, verstehe ich | |
| nicht. | |
| Alter, du musst auf der richtigen Seite fahren, sagt der Späti-Mann. Und zu | |
| mir: Willst du ihn anzeigen, du kannst ihn anzeigen. | |
| Aber wozu soll ich ihn anzeigen – im Alltag gibt es auch keine | |
| nachträglichen Punktabzüge für den Gegner. Was hab ich davon, bringt mir | |
| die Polizei dann ein Pflaster? Außerdem hab ich selbst schon genug Scheiße | |
| gebaut. Allerdings eher in jungen Jahren, und der hier ist bestimmt Ende | |
| vierzig, also schlicht ein krasser Schwachmat. Auch daran kann die Polizei | |
| vermutlich nichts mehr ändern. | |
| Du bist auf der falschen Seite gefahren, wiederhole ich leicht fassungslos | |
| die Diagnose des Späti-Manns, das gibt’s doch nicht, wir hätten beide tot | |
| sein können, ich leider, und du zum Glück, schieb einfach ab, und blubbere | |
| Blut ins Taschentuch. | |
| Der Mordbube entschuldigt sich lasch, und fährt dann rasch weiter. | |
| Garantiert noch immer noch auf der falschen Seite, aber ich drehe mich gar | |
| nicht mehr zu ihm um – ab sofort schaue ich grundsätzlich nur noch in die | |
| andere Richtung. | |
| Als ich mit dicker Fresse und einem Knäuel blutiger Taschentücher vor dem | |
| Mund auf meine Pizza warte, und dabei kein anderer Kunde auch nur einmal | |
| herguckt, derweil der Pizzamann mit mir gelöst über alles andere scherzt | |
| als über meinen Zustand und mein Aussehen, heilt Berlin meine Seele mit | |
| seiner. | |
| 3 Apr 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Uli Hannemann | |
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