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# taz.de -- Florian Schroeder gegen Gemeinsinn: Gemein!
> Florian Schroeder verwehrt sich unserem Befund des Mangels an Gemeinsinn.
> Ein Text gegen den Gemeinsinn oder ein Lob der Gleichgültigkeit.
Bild: Zu viel Gemeinsinn schadet, schreibt Satiriker Florian Schroeder in der t…
[1][taz FUTURZWEI] | Gemeinsinn – ein Wort aus dem Giftschrank. Es klingt
nach Gutmeinenden, den Schlimmsten, die es gibt. Es klingt nach Kirchentag,
nach unangenehmer Schwülstigkeit.
Nach dem üblichen „Wir sind alle so egoistisch geworden“ und „Alle denken
nur noch an sich.“ Worte, bei denen irgendwas mit neoliberal geradezu
zwangsläufig auf dem Fuße folgen muss.
Gemeinsinn – da steckt Gemeinheit drin und das genau scheint das
Entscheidende. Die Forderung nach Gemeinsinn hat etwas Gemeines, weil sie
ein-fordert. Es soll eine Art Verpflichtung sein, sich um die Gemeinschaft
zu kümmern.
Das mag ein sympathischer Ansatz sein, aber, einmal formuliert, wird daraus
schnell eine Art Tugend, eine Pflicht, die diejenigen, die sie erfüllt
sehen wollen, auch gern bewiesen haben wollen. Gemeinsinn ist moralische
Pflicht, keine Freiwilligkeit.
## Zu viel Gemeinsinn schadet
Die Gemeinheit im Gemeinsinn ist die erzwungene Nähe, die darin suggeriert
wird. Wir leben nicht zu wenig Gemeinsinn, sondern zu viel. Denn auf dem
Fuße folgt die Beweislastumkehr: Die Forderung danach, die Gemeinschaft
habe sich mit ihrem Gemeinsinn um mich, den Einzelnen, zu kümmern.
Das lässt sich beobachten an all den Menschen, die ihr Leben damit
bestreiten, verletzt zu sein. Sie suchen die Gemeinschaft, sie brauchen die
Gemeinschaft als Einheit, die sie bestätigt durch Mitleid – auch so ein
Wort aus der Vorhölle der Verachtung.
Die Verletzten dieser Erde, erkennbar daran, dass sie dieses Verletztsein
gleichsam narzisstisch vor sich hertragen, wollen eben nicht Entlastung –
im Sinne einer Heilung der Wunde, die den Schmerz und die Verletzung
hervorgerufen hat – nein, vielmehr suchen sie nach dem sprichwörtlichen
Salz, das sie in die Wunde streuen können, damit sie weiter bluten möge.
Diese Leute fordern auf erpresserische Weise eine Empathie einer sie
umgebenden Gemeinschaft – sie klagen ein, was nicht einklagbar ist.
## Peiniger und Opfer - eine paradoxe Beziehung
Nicht etwa der eigene Beitrag zu einer funktionierenden Gemeinschaft ist
entscheidend, sondern die Gemeinschaft, die sich als Schuldige an der
Verletzung des Verletzten nun auch bitte schön zu kümmern hat. Das ist ein
spannendes Paradox.
Schließlich möchte man landläufig von seinen Peinigern eigentlich keinen
Trost erfahren. Aber hier fallen Peiniger und Mitleidende in eins.
Schließlich sollen sie sich schuldig fühlen, damit ihnen niemals verziehen
werde. Sonst drohte Heilung der Wunde und das wäre das Ende ihrer
Aufmerksamkeitsökonomie.
Das zeigt die Aporien dieses Gemeinsinn-Ansatzes, der pars pro toto für
eine anstrengende Überhitzung der Gegenwart steht. Wir sind auf dem Weg in
eine Gesellschaft des Opfers und der Opferhierarchien. Ein Wettstreit um
die edelste – und mithin unschuldigste – Opferposition ist in vollem Gange.
Olympischer Diskriminierungswettstreit allerorten.
Diesem Pathos der erzwungenen Nähe möchte ich ein Pathos der Distanz
entgegenstellen. Es war Arthur Schopenhauer, der 1851 das Gleichnis der
Stachelschweine erfand: „Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich, an
einem kalten Wintertage, recht nahe zusammen, um durch die gegenseitige
Wärme, sich vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die
gegenseitigen Stacheln; welches sie dann wieder voneinander entfernte.“
Zwischen beiden Leiden wurden sie hin- und hergeworfen, „bis sie eine
mäßige Entfernung von einander herausgefunden hatten, in der sie es am
besten aushalten konnten“.
Voraussetzung dieses Abstands ist es, sich vor allem auf sich selbst zu
verlassen zu können, um eben nicht auf den Gemeinsinn einer im Kern fremden
Gemeinschaft angewiesen zu sein. Dafür sind selbstwirksame Kräfte vonnöten,
Übernahme von Verantwortung und nicht die Suche nach der nächsten
Klagemauer.
## Lob der Gleichgültigkeit
Inmitten der schwülen Wärme des Verletztseins wäre es vielleicht sinnvoll,
einmal das Fenster aufzumachen und den kühlen Novemberwind einmal
durchblasen zu lassen. Etwas mehr Kühle wäre schon insofern sinnvoll, da
Gemeinschaft etwas ist, das nur sehr bedingt erträglich ist. In erster
Linie sind uns andere Menschen doch gleichgültig – und das ist alles andere
als eine schlechte Nachricht.
Im Gegenteil. Es ist schon sehr viel gewonnen, wenn es dem Individuum der
Gegenwart gelingt, unbehelligt durchs Leben zu gehen und unbeobachtet zu
sein, Aufmerksamkeit nur dort empfangend, wo er diese auch aussendet. Wir
aber erleben das Gegenteil: Im Zeitalter des Jetzt, in dem wir leben, kommt
uns ohnehin die Welt unangenehm nahe.
Denken wir nur an [2][TikTok], wo, sobald wir die App öffnen, sofort
tanzende oder quallig quatschende Wesen (Maximilian Krah) auf uns einwirken
– zumeist in Nahaufnahme mit dem Kinomodus gefilmt, sodass jeder Pickel
sichtbar ist. Diese neue Tyrannei der Intimität verlangt im Gegenzug
höchsten Abstand in Form des Gleichgültigseins.
Dieser Abstand muss ja kein misanthropischer sein. „Interesseloses
Wohlgefallen“ nannte das Immanuel Kant – wenn Gleichgültigkeit bedeutet,
dass der Mensch Anteil nimmt an dem, was die Zeitgenossen so treiben, aber
eben ohne gleich Teil des Spiels sein zu wollen, ohne sich gleich
aufdringlich ins Bild zu drängen.
Nur im Abstand, im gezielten Ausschalten des eigenen Radars – mindestens
teilweise – im Stillstellen der Betriebsamkeit, im Aus- und Wegschalten, im
Ignorieren der aufgestauten Wichtigkeit anderer liegt ein Teil der Heilung
der eigenen Zeit. Aber dafür wäre eines vonnöten: Man müsste die Position
des Verletzten verlassen und das dazugehörige überhitzte Pathos aufgeben.
■ Dieser Beitrag ist im Magazin [3][taz FUTURZWEI] erschienen. Lesen Sie
weiter: Die aktuelle Ausgabe von [4][taz FUTURZWEI N°31] gibt es jetzt im
taz Shop.
4 Feb 2025
## LINKS
[1] /taz-FUTURZWEI/!v=8ce19a8c-38e5-4a30-920c-8176f4c036c0/
[2] /TikTok/!t5647139
[3] /taz-FUTURZWEI/!v=8ce19a8c-38e5-4a30-920c-8176f4c036c0/
[4] https://shop.taz.de/product_info.php?products_id=245578
## AUTOREN
Florian Schroeder
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