# taz.de -- Ein so freundlicher wie präziser Aufklärerer | |
> Thomas Großbölting, Leiter der Hamburger Forschungsstelle für | |
> Zeitgeschichte und Verfasser einer großen Missbrauchs-Studie, kam bei | |
> einem Zugunglück ums Leben | |
Bild: Konziser Analytiker: Thomas Großbölting | |
Von Jan Feddersen | |
Seit dem Sommer 2020 amtierte er als Direktor der Forschungsstelle für | |
Zeitgeschichte in Hamburg (FZH), es hatte einige Zeit gebraucht, ehe der | |
Nachfolger des 2019 verstorbenen Axel Schildt als Chef einer der zentralen | |
geschichtswissenschaftlichen Stätten der Bundesrepublik bestimmt war: An | |
Thomas Großbölting fanden alle, die mit diesem Forschungsfeld (nicht nur) | |
in Hamburg betraut sind, Gefallen – wissenschaftlich ohnehin, aber auch, | |
nicht unwichtig, menschlich. | |
Großbölting, also „der Thomas“, so äußerte sich fast liebevoll eine | |
Kollegin der Uni Hamburg, sei das lebende Dementi des Glaubens, Academia | |
sei auf dieser Bildungsstufe nur eine Umschreibung für „Schlangengrube“, | |
„Intrigenstadl“ und „missgünstige Nachrede“. | |
Dieser Mann, 1969 in Dingden, Nordrhein-Westfalen, zur Welt gekommen, wurde | |
zu Recht als außergewöhnlich liebenswürdiger, umgänglicher und immer | |
konstruktiver Kollege wahrgenommen. Es sei, als begegne einem mit ihm das | |
Gute, das Freundliche – und diese Charakterisierung allein ist erstaunlich, | |
kennt man sich mit universitären Binnenverhältnissen halbwegs aus. | |
Als Großbölting von Münster nach Hamburg kam, ging ihm ein exzellenter Ruf | |
voraus. In den frühen Nullerjahren habilitiert, zuvor und danach | |
Engagements an den Universitäten Magdeburg, Bochum, Toronto und auch bei | |
der Stasi-Unterlagenbehörde als Leiter der Abteilung Forschung und Bildung, | |
kam er zu seiner letzten Position mit Arbeiten zur Geschichte des sexuellen | |
Missbrauchs in der katholischen Kirche Deutschlands. | |
Diese Bücher waren beispielgebend für eine historische Expertise, die nicht | |
auf Skandalisierung zu setzen wusste, sondern auf konzise Analyse konkreter | |
Fallstrukturen wie auch auf die Einbettung dieser Ermöglichungsverhältnisse | |
von sexualisierter Gewalt in einer Gesellschaft, die auf allen anderen | |
Feldern ebenso die Augen vor den Missständen verschloss. | |
„Ross und Reiter“ nennen, keine feige Achtsamkeit übermächtigen Strukturen | |
wie denen des katholischen Klerus gegenüber – das war sein Credo, und | |
dieses konnte er sich leisten, weil seine Quellenarbeit in den gar nicht | |
mal vollständig geöffneten Archiven so präzise war: Zweifel an seinen | |
Befunden, die die Tyrannei der Diskretion, des Schweigens durchbrachen? | |
Unmöglich. | |
Womöglich war ihm – mit Kolleginnen und Kollegen, er arbeitete gern in | |
Teams –, diese Akkuratesse, diese fehlende Erweichung dem deutschen Klerus | |
gegenüber aufzubringen, möglich, weil Thomas Großbölting selbst katholisch | |
war, nicht nur zu christlichen Pflichtterminen. Er glaubte, was er glaubte | |
– und konnte wohl auch deshalb die Misere seiner Kirche mit seinen Mitteln | |
auf den Punkt bringen. Kürzlich stellte er zudem ein Gutachten zur Haltung | |
des Tropenmediziners Bernhard Nocht zu Rassismus und Nationalsozialismus | |
vor. | |
Die Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte, überhaupt seine | |
Mitarbeitenden, KollegInnen und FreundInnen erwarteten von ihm beruflich | |
noch jede Menge. Unter anderem geht es in Hamburg in den nächsten Jahren um | |
eine Art Verschmelzung der im Univiertel am Schlump beheimateten | |
Institution mit den archivalischen Beständen des in Auflösung befindlichen | |
(nicht universitären) Hamburger Instituts für Sozialforschung, dem | |
mäzenatischen Projekt Jan Philipp Reemtsmas. | |
Aber dieser Arbeit an der Zukunft Hamburger Wissenschaft mit dem | |
Schwerpunkt Neuere Geschichte kann er sich nicht mehr widmen. Beim | |
Eisenbahnunglück am Dienstag, bei dem im Süden Hamburgs ein ICE auf ein auf | |
den Gleisen noch befindliches Heck eines Schwerlasttransporters mit hoher | |
Geschwindigkeit auffuhr, kam Thomas Großbölting, auf dem Weg zu einem | |
Vortrag, ums Leben. | |
Er wurde 55 Jahre jung. Großbölting hinterlässt eine trauernde Familie, | |
seine Frau und seine vier jungerwachsenen Kinder. Mit ihnen trauern | |
Hunderte KollegInnen und die Angehörigen eines Instituts, die sich mit ihm | |
dort wohl und in Schwung genommen fühlten. | |
17 Feb 2025 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |