# taz.de -- Der Wunsch nach Identität von Staat und Volk | |
> Die konformistische Revolte der extremen Rechten erfasst zunehmend auch | |
> konservative Kreise. Können die Analysen der Kritischen Theorie dabei | |
> helfen, dagegen eine zeitgemäße Strategie zu entwickeln? | |
Bild: „Propaganda ist heute anders.“ Ein Mann überklebt im Januar 2025 ein… | |
Von Benjamin Schlodder | |
Während das Bundesamt für Verfassungsschutz zögert, die AfD als „gesichert | |
rechtsextrem“ zu bezeichnen, zeigt sich die Partei selbst inzwischen offen | |
als Partei des völkischen Nationalismus. Ihrem Zulauf schadet das nicht, | |
eher ist das Gegenteil der Fall. Zugleich herrscht Ratlosigkeit, wie man | |
der immer deutlicher drohenden rechtsextremen Gefahr effektiv begegnen | |
könnte. | |
Vor Kurzem forderte die Ökonomin Isabella M. Weber eine „antifaschistische | |
Wirtschaftspolitik“, die dazu führen solle, „dass die Menschen sich wieder | |
in ihrem Land zu Hause fühlen“. Weber geht offensichtlich davon aus, es | |
gründe in ihren rationalen, nämlich materiellen, Interessen, dass „die | |
Menschen“ sich nicht mehr in ihrem Land zu Hause fühlen. Wieso aber laufen | |
sie dann zur extremen Rechten über, deren Forderungen ihren materiellen | |
Interessen entgegenstehen? Diese Frage stellte sich schon die Kritische | |
Theorie, als sie seit dem Ende der 1920er Jahre zu einer Auseinandersetzung | |
mit Faschismus, Autoritarismus und Antisemitismus ansetzte. Angesichts der | |
gegenwärtigen Ratlosigkeit scheint es dringend geboten, die damaligen | |
Ansätze zu rekonstruieren und hinsichtlich ihrer Aktualität für die heutige | |
Situation zu befragen. | |
Eben das tut der schon vor einiger Zeit bei Transcript erschienene und von | |
Leo Roepert herausgegebene Band „Kritische Theorie der extremen Rechten. | |
Analysen im Anschluss an Adorno, Horkheimer und Co.“. Die elf Beiträge | |
erinnern an die theoretischen Überlegungen von Theodor W. Adorno, Max | |
Horkheimer, Franz Neumann, Friedrich Pollock, Leo Löwenthal, Herbert | |
Marcuse, Wilhelm Reich und Erich Fromm. Zugleich wird versucht, diese | |
Überlegungen zu aktualisieren. | |
Einige der Beiträge konzentrieren sich auf die gesellschaftstheoretischen | |
und sozialpsychologischen Ansätze Kritischer Theorie. Andere nehmen | |
Phänomene und Ideologien der gegenwärtigen extremen Rechten in den Blick | |
und erproben daran die Aktualität der alten Ansätze. Die Stärke des Bandes | |
liegt vor allem darin, dass die einzelnen Beiträge zueinander in | |
Konstellation treten, sich wechselseitig erhellen und bisweilen auch | |
produktiv widersprechen. So wird der Band über alle Beiträge hinweg – auch | |
wenn nicht jede Argumentation im Detail überzeugt und es teils an | |
sprachlicher Prägnanz fehlt – dem theoretischen Ansatz der Kritischen | |
Theorie gerecht, die das faschistische Potenzial ja gerade aus der | |
Dialektik von Individuum und Gesellschaft zu erklären versuchte. | |
Die Beiträge können so zeigen, wie die aktuellen Erfolge der extremen | |
Rechten auf den Begriff zu bringen wären, ohne sie in einer Art Rückkehr | |
zur „klassenreduktionistischen Orthodoxie“ aus dem Eigeninteresse oder aus | |
der Befriedigung einer vermeintlichen „menschlichen Sehnsucht nach | |
machtvollen Kollektiven“ zu erklären, wie Helge Petersen und Alexander | |
Struwe schreiben. Mithilfe sozialpsychologischer Ansätze lässt sich | |
stattdessen das Irrationale und Wahnhafte der extrem rechten Weltanschauung | |
zeigen. Ulrike Marz etwa spricht vom „Primat des Affektiven“. | |
Mit Blick auf die gesellschaftstheoretischen Analysen der Kritischen | |
Theorie kommen die Beiträge des Bandes immer wieder auf eine These zurück: | |
Die extreme Rechte profitiere von der Krise der Demokratie. Diese spitze | |
sich zu, wenn staatliche Eingriffe notwendig werden, um kapitalistische | |
Verwertung zu erhalten, wie es etwa im Zuge der Wirtschaftskrise ab 2007 | |
der Fall war. Daraus folgten ein Machtzuwachs der Exekutive und eine | |
Schwächung der Vermittlungsinstanz des Parlaments, argumentiert Felix | |
Sassmannshausen. So drohe eine Zunahme politischer Entfremdung und eine | |
wachsende Sehnsucht nach einfachen Scheinlösungen. | |
JustIn Monday stellt fest, dass vor dem Hintergrund des staatlichen | |
Interventionismus‘ „die aktuellen konformistischen Revolten einerseits | |
etwas fordern, was sie ‚Souveränität‘ nennen, andererseits aber gegen der… | |
tatsächliche Ausübung auf die Straße gehen“. Denn der Erfolg der extremen | |
Rechten erkläre sich aus der Sehnsucht nach einer – mit dem Wunsch nach | |
Identität von Staat und Volk verbundenen – autoritären Führung und der | |
Ablehnung des real vorhandenen Souveräns, der während der weltweiten Krise | |
im Jahr 2007 in Form transnationaler Institutionen auf den Plan trat. Ein | |
realer Souverän kann den wahnhaften Wunsch nach „Volkssouveränität“, also | |
einem „unmittelbar verfügenden Willen des Volks“, gar nicht einlösen, wie | |
Monday zeigt. | |
Dass „die Menschen sich in ihrem Land“ nicht mehr „zu Hause fühlen“, l… | |
also an dieser Sehnsucht nach Identität und Freiheit von Vermittlung, nicht | |
an rationalen, materiellen Interessen. Diesem in letzter Instanz | |
völkisch-rassistischen Wahn ist daher auch nicht einfach durch eine | |
sozialere Politik zu begegnen. Eine antifaschistische Politik, die darauf | |
zielt, der extremen Rechten den Boden zu entziehen, müsste vielmehr wieder | |
über das Falsche an der bestehenden Gesellschaft sprechen, ohne sich | |
zugleich, wie es die Rechte tut, der Verantwortung für ihr Funktionieren zu | |
entziehen. | |
Die Leistung des Bandes besteht nicht zuletzt darin, die Komplexität dieser | |
in sich widersprüchlichen Aufgabe deutlich zu machen. Denn die zunehmende | |
Unzurechnungsfähigkeit Rechter und Konservativer weit über die AfD hinaus | |
zwingt gerade diejenigen gesellschaftlichen Kräfte, deren Aufgabe in der | |
Kritik des Falschen und im Aufzeigen von Alternativen besteht, sich um das | |
Funktionieren der bestehenden Gesellschaft zu sorgen. So aber erscheint das | |
Bestehende zunehmend als alternativlos – und die extreme Rechte als | |
einzige, aber regressive Alternative. | |
8 Feb 2025 | |
## AUTOREN | |
Benjamin Schlodder | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |