# taz.de -- Der Bullshit-Wort-Check, Folge 12: „Migrationshintergrund“ | |
> Was taugt dieser Begriff für das Verständnis der Gegenwart? taz | |
> FUTURZWEI-Gastautor:innen testen Standards des politischen Sprechens. | |
> Heute: Aladin El-Mafaalani. | |
Bild: 30 Prozent der deutschen Bevölkerung haben einen „Migrationshintergrun… | |
[1][taz FUTURZWEI] | Welche der folgenden Großstädte hat den geringsten | |
Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund: Stuttgart, München, | |
Düsseldorf oder Berlin? Die meisten schätzen höchstwahrscheinlich komplett | |
falsch. Es ist Berlin. Lediglich unsere Bundeshauptstadt liegt knapp unter | |
40 Prozent, die anderen Städte deutlich darüber. Deshalb hier ein kleiner | |
Crashkurs für Anfänger: | |
Das Wort „Migrationshintergrund“ taucht erstmals in den 1990ern in Texten | |
der Soziologin Ursula Boos-Nünning auf. Sie versuchte damals das Problem zu | |
lösen, dass Menschen (wie ich) im Alltag als Ausländer bezeichnet wurden, | |
die (eigentlich) deutsche Staatsbürger sind. Also erfand sie diesen | |
Begriff. Die Folgen waren enorm: Erstens hat sich die statistische Zahl der | |
Nicht-Urdeutschen fast verdoppelt, weil nun auch eingebürgerte Menschen und | |
ihre Kinder erfasst wurden. Zweitens konnte man nun statistisch | |
Integrationserfolge erkennen, die zuvor verborgen blieben, weil sie ja | |
statistisch immer nur in der Kategorie „Deutsche“ verschwanden. Dadurch | |
dauerte es nur noch wenige Jahre, bis sich drittens die Erkenntnis | |
breitgemacht hat, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Im Jahr 2005 | |
wurde der Migrationshintergrund amtlich, als er vom Statistischen Bundesamt | |
offiziell als zentrales Ordnungskriterium übernommen wurde. | |
Ursula Boos-Nünning sagt heute, dass sie sich mehr Gedanken über die | |
Ästhetik des Begriffs gemacht hätte, hätte sie gewusst, welche Karriere das | |
von ihr für wissenschaftliche Zwecke entwickelte Wortkonstrukt machen | |
würde. Tatsächlich hat das Wort eher den Sound eines Krankheitsbilds als | |
den Charakter eines soziodemografischen Merkmals (wie etwa Geschlecht, | |
Wohnort, Einkommen). Aber bei der heute immer stärker werdenden Kritik geht | |
es weniger um Ästhetik oder Sound als um Sinn und Bedeutung. Denn: Wenn wir | |
hören, dass 30 Prozent der Bevölkerung in Deutschland einen | |
Migrationshintergrund hat, was weiß man dann eigentlich? | |
Es handelt sich um 25 Millionen Menschen, die aus 200 Ländern weltweit | |
stammen und in jeder Hinsicht diverser sind als die Menschen ohne | |
Migrationshintergrund. Im Prinzip haben sie nur gemeinsam, dass sie in | |
Deutschland leben, und zwar in erster oder zweiter Generation. Bereits ab | |
der dritten Generation werden die Menschen statistisch nicht mehr | |
systematisch erfasst. Das heißt also: Die Grundschulkinder Bao, Hatice und | |
Alejandro, deren Groß- oder Urgroßeltern einst nach Deutschland | |
eingewandert sind, fallen statistisch in der Regel (aber auch nicht immer – | |
ja, es ist kompliziert) in die Kategorie „Menschen ohne | |
Migrationshintergrund“. Das sollte man wissen, wenn man hört, dass deutlich | |
mehr als 40 Prozent aller Kinder in Deutschland Migrationshintergrund haben | |
– inklusive Ostdeutschland, aber exklusive Bao, Hatice und Alejandro. | |
Zurück zum Anfang. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund ist in | |
den Städten hoch, in denen die wirtschaftliche Stärke groß und die | |
Armutsquote gering ist. Diese Korrelation ist übrigens international | |
beobachtbar, aber außerhalb des deutschsprachigen Raums spricht man von | |
Internationalität. „Migrationshintergrund“ ist typisch deutsch. Die | |
Verwechslung von Internationalität/Migrationshintergrund und sozialen | |
Problemen übrigens auch. | |
■ ALADIN EL-MAFAALANI ist Professor für Migrations- und Bildungssoziologie | |
an der TU Dortmund. | |
■ Dieser Artikel ist im September 2024 in unserem Magazin [2][taz | |
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2 Dec 2024 | |
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## AUTOREN | |
Aladin El-Mafaalani | |
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