# taz.de -- Gesellschaft: „Die Gefahr wurdejahrelang unterschätzt“ | |
> Die Grauen Wölfe und ihr Umfeld bilden die zweitgrößte rechtsextreme | |
> Bewegung in Deutschland, warnt der Politologe Ismail Küpeli von der Uni | |
> Bochum. Warum der Staat dem Treiben fast tatenlos zusieht – und was | |
> helfen würde, um die Anziehungskraft in der türkeistämmigen Community zu | |
> verringern. | |
Bild: Juli 2024, die türkische Nationalmannschaft spielt bei der Herrenfußbal… | |
Von Ulrike Schnellbach (Interview) | |
Herr Küpeli, in Deutschland leben etwa drei Millionen Menschen mit Wurzeln | |
in der Türkei. Wie viele davon sind Anhänger:innen des türkischen | |
Rechtsextremismus – also der Ülkücü-Bewegung der Grauen Wölfe? | |
Schätzungsweise ein Viertel der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland | |
sind für die extreme Rechte entweder offen oder stehen ihr nahe. Das ergibt | |
sich aus dem Wählerpotential der extremen Rechten in der Türkei, das bei | |
etwa 25 Prozent liegt, und die Verhältnisse hier sind ganz ähnlich wie | |
dort. Das heißt nicht, dass die Anhänger alle aktiv sind, aber sie sind | |
ansprechbar für die Ideologie. Insbesondere in Westdeutschland sind die | |
Strukturen der Grauen Wölfe sehr stark, beispielsweise in Städten wie | |
Stuttgart. Sie stützen sich auf die drei großen Moscheeverbände Türk | |
Federasyon mit etwa 7.000 Mitgliedern, ATIB mit etwa 2.000 Mitgliedern und | |
ATB mit 1.000 Mitgliedern. Darüber hinaus gibt es freie, zum Teil | |
gewalttätige Szenen, die sich außerhalb der Moscheevereine organisieren. | |
Wie stark ist der türkische Staat mit diesen Gruppierungen verbunden? | |
Die politischen Strukturen in der Türkei spiegeln sich in der | |
türkeistämmigen Community in Deutschland wider. Die Grauen Wölfe in der | |
Türkei sind einerseits eine Bewegung, die vor fast achtzig Jahren | |
entstanden ist und auf der Straße politische Gewalt organisiert. | |
Andererseits sind sie seit 2015 auch parteipolitisch organisiert, in der | |
MHP. Die MHP ist de facto Koalitionspartner der AKP von Präsident Erdoğan, | |
also Teil der türkischen Regierung. Dadurch konnten die Grauen Wölfe ihre | |
Funktionäre auch in der DITIB festsetzen, die der staatlichen | |
Religionsbehörde untersteht, und darüber hierzulande Einfluss nehmen. Das | |
sieht man beispielsweise bei den politischen Veranstaltungen, die in | |
DITIB-Räumen stattfinden. | |
Was macht die Grauen Wölfe attraktiv für in Deutschland lebende, zum Teil | |
hier geborene Türkeistämmige? | |
Man muss sich dafür anschauen, wie rechtsextreme Akteure bestimmte | |
Erfahrungen von Menschen für sich missbrauchen. Ganz entscheidend ist die | |
Erfahrung von Marginalisierung. Die Erfahrung, nicht als Teil der | |
Gesellschaft ernst genommen zu werden und sich als Bürger zweiter Klasse zu | |
fühlen, können solche Akteure gut nutzen. Das ist wie bei dschihadistischen | |
Kräften, die sagen: „Für die deutsche Mehrheitsgesellschaft bist du nichts | |
wert, aber wenn du zu uns kommst, bist du sogar mehr wert als die.“ | |
War diese Anziehungskraft immer gleich oder schwankt das je nach der | |
Stimmung in der deutschen Gesellschaft? | |
Da kann man tatsächlich eine gewisse Wellenbewegung feststellen: Die | |
rechtsextreme Bewegung ist besonders in den 80er-Jahren sehr stark | |
geworden, als auch der Rassismus gegen türkische Gastarbeiter stark | |
ausgeprägt war und es Signale wie das Rückkehrergeld gab. In Zeiten, in | |
denen Integrationsangebote stärker sind, nimmt die Attraktivität extrem | |
rechter Angebote ab. | |
Wie bewerten Sie die heutige Zeit diesbezüglich? | |
Sicherlich führen wir nicht mehr die Debatten der 80er- oder 90er-Jahre. | |
Aber wir haben heute eben die rechtsextremen Strukturen und Netzwerke, die | |
sich über 40 Jahre etablieren konnten. Man hätte viel früher viel mehr für | |
Integration tun müssen, um diese Stimmungen und Strukturen gar nicht erst | |
groß werden zu lassen. Ein Beispiel: Falsch war meines Erachtens die | |
Entscheidung in den 80er-Jahren, die religiöse Versorgung der türkischen | |
Muslime durch die Türkei über DITIB organisieren zu lassen und sich als | |
deutscher Staat da herauszuhalten. Heute ist DITIB in allen westdeutschen | |
Städten fest verankert und die Uhr lässt sich kaum mehr zurückdrehen. | |
Sie beschreiben DITIB als einen Verbreitungskanal der türkischen | |
nationalistischen Ideologie in Deutschland. Warum ist der deutsche Staat | |
hier nicht kritischer? Im Gegenteil: Die DITIB ist ein Partner in der | |
Deutschen Islamkonferenz. | |
Es ist sogar noch schlimmer. Der wichtigste Player im Zentralrat der | |
Muslime ist ATIB, eine Organisation aus dem Umfeld der Grauen Wölfe. Da ist | |
die Nähe zur extremen Rechten also noch stärker als bei DITIB. | |
Warum hat man das so lange laufen lassen? | |
Man hat das zu lang als eine Entwicklung innerhalb der türkischen Community | |
abgetan und fälschlicherweise angenommen, das spiele für die Gesellschaft | |
insgesamt keine Rolle. Dabei wurde unterschätzt, dass dadurch ein | |
bestimmtes Milieu entsteht, das natürlich in die Gesellschaft ausstrahlt. | |
Der türkische Rechtsextremismus ist die zweitgrößte rechtsextreme Bewegung | |
in Deutschland überhaupt – nach einer gewissen Partei – und er hat sich | |
überall in den westdeutschen Städten festgesetzt. Das geht auf das Konto | |
aller politischen Akteure, weil sie das alle unterschätzt haben. | |
Aber es gibt ja durchaus ein Problembewusstsein: Vor vier Jahren, im | |
November 2020, haben CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen im | |
Bundestag gemeinsam den Antrag gestellt: „Nationalismus und Rassismus die | |
Stirn bieten – Einfluss der Ülkücü-Bewegung zurückdrängen“. Was ist se… | |
geschehen? | |
Seit diesem Bundestagsbeschluss hat sich das Bundesinnenministerium nicht | |
dazu durchringen können, sich dazu zu äußern. Wir wissen also nicht, wie | |
der Stand der Dinge ist. Durchgedrungen ist allerdings, dass die | |
Bundesregierung davor zurückschreckt, die Türk Federasyon – die | |
Auslandsorganisation der MHP – zu verbieten. Das hat zwei Gründe: erstens | |
wegen der Rolle der Türk Federasyon für die religiöse Versorgung der | |
Muslime. Und zweitens, um nicht die guten Beziehungen zur Türkei zu | |
gefährden, wo die MHP ja Regierungspartei ist. | |
In Frankreich sind die Grauen Wölfe seit 2020 verboten, in Österreich | |
zumindest ihre Symbole wie der Wolfsgruß – der in Deutschland gerade bei | |
der EM massenhaft gezeigt wurde. | |
Offenbar ist Deutschland da vorsichtiger, weil die Bundesregierung sehr | |
enge Beziehungen zur Türkei unterhält und quasi ihre gesamte Außenpolitik | |
gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten über die Türkei abwickelt. Außerdem | |
spielen die türkischen Moscheevereine in Frankreich keine so große Rolle, | |
zumal auch die türkeistämmige Bevölkerung dort kleiner ist. | |
Moschee-Vereine sollen angeblich Jugendreisen in die Türkei anbieten, um | |
den jungen Menschen zu erzählen, wie schlimm es in Deutschland sei und dass | |
sie sich gegen den deutschen Staat auflehnen sollen. Ist da etwas dran? | |
Ja. Es gibt allerdings zweierlei Einflussnahme der Türkei auf junge | |
Deutschtürken: Zum einen werden sie aufgerufen, sich in Deutschland zu | |
integrieren und sich in den konservativen Parteien CDU und CSU – zum | |
Beispiel in der Kommunalpolitik – und in der Zivilgesellschaft zu | |
engagieren. Zum anderen ist die antiwestliche, antideutsche Haltung auch | |
Teil der türkischen Ideologie. | |
Grundsätzlich spricht ja viel dafür, dass sich türkeistämmige Menschen in | |
der Politik und der Gesellschaft einbringen. Aber hier reden wir von | |
Rechtsextremen, die ihre Ideologie zum Beispiel über die Kommunalparlamente | |
verbreiten wollen? | |
Genau. Gerade in NRW ist es Grauen Wölfen immer wieder gelungen, über | |
CDU-Listen in Gemeinderäte zu gelangen. Und da geht es nicht um | |
demokratische Teilhabe, sondern darum, dass ihre Funktionäre in ihrem Sinne | |
Einfluss nehmen. | |
Welchen Schaden richtet das an? | |
Lange waren rechtsextreme Akteure Partner in der deutschen | |
Integrationspolitik. Nach wie vor sehen wir immer wieder Bilder von | |
Oberbürgermeistern zu Besuch bei den Grauen Wölfen. Da sind Netzwerke | |
entstanden. Das führt auch dazu, dass sich diese Akteure und Vereine | |
legitimiert fühlen und sich in der türkischen Community als ganz normale | |
Vereine präsentieren können – eine erfolgreiche Strategie der | |
Selbstverharmlosung. | |
Was hilft – neben staatlicher Beobachtung und Repression – gegen die | |
Anziehungskraft des türkischen Rechtsextremismus in Deutschland? Welche | |
Ideen gibt es, welche Projekte sind erfolgversprechend? | |
Die erste wichtige Maßnahme ist Aufklärung, politische Bildungsarbeit. Wir | |
müssen wissen, was das für Akteure sind und welche Gefährdung von ihnen | |
ausgeht. Dafür gibt es gute Schritte, zum Beispiel das Projekt „Hadi, wir | |
müssen reden“ in Baden-Württemberg oder „Perspektifa“ in Hamburg. Im Ra… | |
des Bundesprogramms „Demokratie leben“ soll es ab nächstem Jahr auch eine | |
Fachstelle zu türkischem Rechtsextremismus geben, die bundesweit agieren | |
kann. Dann braucht es Präventions- und Deradikalisierungsprogramme gerade | |
für die jungen türkischen Männer, die zum Beispiel von den Grauen Wölfen | |
gezielt über Sportvereine angesprochen werden – da brauchen wir gezielte | |
Gegenmaßnahmen. | |
Solche Projekte gibt es schon, beispielsweise die Fachstelle | |
Extremismusdistanzierung im Demokratiezentrum Baden-Württemberg. | |
Ähnliche Ansätze gibt es auch in NRW im Rahmen von „Wegweiser“. Diese | |
Stellen kümmern sich auch um Islamisten oder Salafisten. Es braucht aber | |
zielgerichtete Maßnahmen gegen die Ideologie des türkischen | |
Rechtsextremismus, weil es da Besonderheiten gibt, die die Berater kennen | |
müssen. | |
Wie ist denn das Verhältnis zwischen dem türkischen Rechtsextremismus und | |
dem Islamismus – gibt es da Verbindungen oder sind das komplett zwei Paar | |
Stiefel? | |
Lange Zeit waren das verschiedene Bewegungen, aber seit den 1970er-Jahren | |
hat sich der türkische Rechtsextremismus den Islamismus quasi einverleibt, | |
so dass beide jetzt Hand in Hand gehen. In der MHP wird der Islam heute als | |
ein wichtiger Teil der türkischen Nationalkultur verstanden. Der Islam ist | |
also nicht nur Mittel, um die Massen zu mobilisieren, sondern Teil der | |
rechten Ideologie geworden – auch in Deutschland. Wir können hier gar nicht | |
mehr trennen zwischen ultranationalistisch, rechtsextrem und islamistisch. | |
Zentral ist bei allem immer die Idee der Höherwertigkeit – des Islams | |
gegenüber anderen Religionen und des Türkentums gegenüber allen anderen | |
Ethnien. | |
7 Dec 2024 | |
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