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# taz.de -- Von Teufelszeug bis Therapie
> Wie die deutsche Gesellschaft mit psychischen Erkrankungen umgeht, hat
> sich über die Jahrhunderte verändert. Eine Blick in die Geschichte
Von Martin Mühl undSimon Barmann
## Ein Stigma, das tötet
Bis ins 18. Jahrhundert, der Zeit der Aufklärung, galten Menschen mit
psychischer Erkrankung in Deutschland als vom Teufel besessen und wurden
vom Rest der Bevölkerung gemieden. Auch als Ende des Jahrhunderts die
Psychiatrie als Subdisziplin der Medizin gegründet wurde, wollte man eher
Krankheitsbilder kategorisieren, als den Betroffenen ein gutes Leben
ermöglichen. Noch später folgte dann das finsterste Kapitel der
Psychiatriegeschichte mit der Ermordung von Kranken im Nationalsozialismus.
Basierend auf der faschistischen Ideologie des „gesunden Volkskörpers“
wurden auch psychisch Erkrankte durch das NS-Regime systematisch ermordet.
## Ein Analytiker, der die Psyche aufs Sofa legt
Mit Sigmund Freud veränderte sich Anfang des 20. Jahrhunderts der Blick auf
die Psyche. Der österreichische Arzt und Psychologe ist der Begründer der
Psychoanalyse. Diese sollte sowohl als Theorie psychische Vorgänge
erklären, als auch therapeutisch genutzt werden. Und obwohl heute die
Verhaltenstherapie verbreiteter ist, war die Psychoanalyse ein Wegbereiter
dorthin. Die Psychoanalyse hat geholfen, die psychische Gesundheit aus den
Krankenhäusern herauszuholen und das Sprechen über die Psyche zu
ermöglichen. Insbesondere in intellektuellen Kreisen gehörte es um 1900 zum
guten Ton, sich bei einem Psychoanalytiker auf die Couch zu legen.
## Eine Krankheit, die ernstzunehmen ist
In den 1960ern wurden psychische Erkrankungen endlich medizinisch ernster
genommen, etwa durch neue Medikamente. 1958 kam mit Imipramin eines der
ersten Antidepressiva auf den Markt. Damals war das revolutionär, heute
sind solche Medikamente aber in Fachkreisen umstritten. Trotzdem hat sich
dadurch das Bewusstsein entwickelt, dass psychische Erkrankungen ebenfalls
Krankheiten sind, die mit Medikamenten behandelt werden können, wie etwa
eine Grippe. Das half vielen Menschen im Umgang damit. Zuletzt war auch die
Erweiterung des Ärzt*innenberufs zur Fachärzt*in der Psychiatrie und
Psychotherapie 1992 ein medizinischer Erfolg.
## Eine Bewegung, die für Umdenken sorgt
Besonders die 68er und die Frauenbewegung halfen, psychische Erkrankungen
zu entstigmatisieren. In der Psychotherapie sahen sie einen Hebel für ihre
Kritik am Patriarchat und die Aufarbeitung der NS-Zeit. Die
Aktivist*innen kritisierten die damals männlich dominierte
Psychotherapie und entwickelten eine feministische Form, die patriarchale
Zwänge und diskriminierende Strukturen in der Behandlung berücksichtigen
sollte. Mit ihrem Engagement erkämpften sie einen Perspektivwechsel,
psychische Erkrankungen wurden so stärker als Ergebnis gesellschaftlicher
Verhältnisse verstanden. Das setzte sich bis in die Breite der Gesellschaft
durch.
## Eine Therapie, die fast normal geworden ist
Reden hilft – unter anderem dabei, das Dunkelfeld zu säubern. Seit den
1970ern ist die Zahl der Patient*innen in psychotherapeutischer
Behandlung stetig gestiegen. Nach einer Studie aus dem Jahr 2018 sind in
Deutschland jedes Jahr 1,9 Millionen Menschen in ambulanter Behandlung. Und
auch die Zahl der Menschen mit Depressionssymptomen hat sich nach einer
Umfrage des Robert Koch-Instituts von 2019 bis 2023 in den letzten fünf
Jahren verfünffacht. Das liegt auch daran, dass mehr Menschen bereit sind,
offen über ihre mentale Gesundheit zu sprechen. Für viele junge Menschen
ist es normal, psychische Themen therapeutisch aufzuarbeiten.
## Eine Diagnose, die zum Spektrum wird
Noch Anfang des 19. Jahrhunderts glaubte die Wissenschaft an die sogenannte
Hysterie, deren Herkunft sie in Gebärmutter und Klitoris vermutete. Heute
ist klar: Die Hysterie gab es nie. Aber weiterhin wird über
Krankheitsbegriffe gestritten. Der neue Verschlüsselungskatalog ICD-11, der
ab 2027 eingeführt wird, schafft etwa Narzissmus als Diagnose ab. Übrig
bleibt die Persönlichkeitsstörung, deren unterschiedliche Ausprägungen als
Spektrum verstanden werden. Die Psychiatrie verliert damit ihre glasklaren
Diagnosen, gleichzeitig erkennt sie fließende Übergänge an – sowohl
innerhalb eines Krankheitsbildes als auch zwischen gesund und krank.
23 Nov 2024
## AUTOREN
Martin Mühl
Simon Barmann
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