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# taz.de -- berliner szenen: Ein Abteil voller Geister
In der vollbesetzten U-Bahn sitzt eine Frau in einem schwarzen langen
Kleid, einem Mantel mit Pelzstola und einem Hut, der eine gebogene lila
Feder trägt, auf einem Platz am Fenster. Vor ihrem weiß gepuderten Gesicht
befindet sich ein Schleier aus schwarzer Gaze. Nicht nur ich starre sie an,
aber das weiß sie. Sie zieht sich ihre langen Handschuhe aus, zieht dazu an
jedem Finger und kramt lange in ihrer Handtasche mit Schnappverschluss. Ein
Taschentuch aus Stoff kommt zutage. Es ist bestickt und sie wischt sich
kurz die Nase damit, steckt es wieder zurück in die Tasche, holt dann eine
alte Pillendose hervor, nimmt sich eine Art Minzdragee heraus und steckt es
sich unter dem Schleier in den Mund. Ich überlege, ob das Taschentuch und
das Pillendöschen nur dazu dienten, ein weiteres stilvolles Accessoire zu
zeigen.
Zwei Teenies kommen herein und bleiben hinter der Scheibe stehen. Sie sehen
die Frau an, gucken dann sich an. Fragt die eine: „Du siehst die auch,
oder?“ Die andere stockt nur ganz kurz, aber dann sagt sie sehr unschuldig:
„Was? Wen?“ „Na, die Frau da“, sagt die Erste mit riesigen, lang
bewimperten Augen. Die andere guckt fragend. „Hör mal auf“, ruft die Erste
etwas schrill und schlägt sich die Hand vor den Mund. Jetzt lacht die
andere, bis die Erste sagt: „Alte, du nervst mich.“ Sagt die andere: „Wär
aber nice, oder. So’n Abteil, wo lauter Geister mitfahren, als wär’s voll
normal.“
Ich muss an Jean Paul Sartres Drehbuch „Das Spiel ist aus“ denken, in dem
die verstorbenen Ahnen den Lebenden immerfort in einer Reihe folgen.
Als ich in letzter Sekunde durch die Tür auf den Bahnsteig springe, hoffe
ich sehr, dass ich eben meine Ahnen im Zug gelassen habe und sie mich nicht
mehr wiederfinden. Ich glaub, ich bin wirklich lieber unbeobachtet.
Isobel Markus
28 Nov 2024
## AUTOREN
Isobel Markus
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