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# taz.de -- berliner szenen: Der Mann mit den roten Rosen
Es ist Sonntagvormittag und ich bin auf dem Weg zum Deutschen Theater. Es
ist schön, aber kalt, und die Sonne wischt das Bahnsteigpflaster blank.
Neben mir auf dem S-Bahnhof in Steglitz steht ein älterer Mann mit einem
Strauß Rosen in der Hand und dem Magazin der Stiftung Preußischer
Kulturbesitz unter dem Arm. Er hat seine weißen Haare ordentlich gekämmt,
trägt blank geputzte Schuhe und einen Mantel, von dem ich irgendwie
annehme, dass er ihn nicht jeden Tag trägt. Ich überlege, wo er hinfährt.
Die Rosen sind langstielig, dunkelrot und schreien geradezu nach Romantik.
Vielleicht fährt er zu einer Freundin, die Geburtstag hat und die er sehr
mag. Vielleicht sind sie seit Jahren befreundet, aber er hat ihr nie
gesagt, dass er mehr für sie empfindet. In jedem Jahr zum Geburtstag aber
bekommt sie von ihm diese roten Rosen als Zeichen. Ich stelle mir vor, wie
er vor ihrer Tür steht und die Freundin öffnet. Ich stelle sie mir
irgendwie rund und lebenslustig vor, vielleicht, weil er etwas steif wirkt.
Wahrscheinlich trägt sie ein buntes Kleid und ein Tuch um den Hals. Sie
wohnt in einer Wohnung mit niedrigen Decken, ist laut zur Begrüßung, nimmt
die Rosen in wEmpfang und sieht auf die vollen Blüten. Drinnen sitzen ihre
Freundinnen um einen Tisch, er nickt in die Runde und bekommt ein Glas Sekt
in die Hand gedrückt.
Die S-Bahn kommt, ich setze mich dem Mann gegenüber und lächle ihn an. Er
lächelt auch. Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ sind zu hören. Der Mann legt
sich den Strauß auf den Schoß und geht umständlich ans Handy, lauscht und
sagt dann: „Ja doch, Mutter, ich bin ja gleich da.“ Ich versuche meine
Enttäuschung zu verbergen. Nach einer Station steigt er aus. Ich sehe ihm
nach und hätte ihm unbedingt eine lebenslustige Frau gewünscht. Vielleicht
hätte er sie heute ja geküsst. Isobel Markus
15 Nov 2024
## AUTOREN
Isobel Markus
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